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Ballschrank

Schweiz-Deutschland 0:2

Oliver Fritsch | Freitag, 4. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Schweiz-Deutschland 0:2

Kevin Kuranyi, der Mann mit dem Spitzbart, war der Gewinner des Abends (FR); Schmerztherapie aus der DFB-Schwarzwaldklinik (FAZ) u.v.m.

Michael Horeni (FAZ 4.6.): “Völler registrierte zufrieden, daß Oliver Kahn, das deutsche Psycho-Schwergewicht in den Wechseljahren, seine Unrast nicht auch noch auf dem Fußballplatz auslebt. „Das paßt rein“, sagte Völler über den Kapitän, der seinem Auftrag als Rückhalt gegen die Schweiz verläßlich nachkam. Der Münchner nutzte danach die Gelegenheit, in eigener bayerischer Sache – bis auf weiteres – nur noch Schweigeminuten anzukündigen und damit wieder etwas mehr Ruhe im DFB-Troß einkehren zu lassen. Kuranyi indes nutzte die seltene Gelegenheit am Tag danach, um ein wenig über sich, seine Torerfolge und die Aussichten bei der EM zu sprechen. „Ich wollte mir Selbstvertrauen für die EM holen, das habe ich getan“, sagte der Stürmer, der nun seinen Angriffskollegen gegen Ungarn am Sonntag ein ähnliches Erfolgserlebnis wünscht. Er weiß, wie es wirkt. „Ich freue mich für ihn und die Mannschaft“, sagte ein recht zufriedener Teamchef, der sich aber in der ersten Halbzeit die silbergrauen Stürmerhaare gerauft hatte, als der Stuttgarter noch verängstigt die beste deutsche Chance vergeben hatte. Allein auf dem Weg zum Tor, fehlte ihm offenkundig das Selbstbewußtsein, den Konter, wenn schon nicht erfolgreich, dann zumindest mit einem beherzten Torschuß abzuschließen. Kuranyi jedoch gab Ball und Verantwortung an Miroslav Klose weiter – und bekam beides prompt zurück. Daß sich aber ausgerechnet das lange völlig enttäuschende Sturmduo nach einer geglückten Kombination für einen erfolgreichen deutschen Auftritt verantwortlich fühlen durfte, war die ironische Wendung eines Abends, der neben deutscher Solidität auch noch manche Schwächen offenbarte. Das zweite Tor, durch Arne Friedrich schön vorbereitet und von Kuranyi mit einem Kopfball herrlich vollendet, war daher ein zu hoher Lohn für eine deutsche Mannschaft, die phasenweise in ziemliche Schwierigkeiten geriet und es vor allem einem zupacken Kahn zu verdanken hatte, nicht in Rückstand geraten zu sein.“

Stefan Hermanns (Tsp 4.6.): „Seiner Umgebung ist Stéphane Chapuisat immer ein Rätsel gewesen. Wie kann ein Mensch, der so verschlossen ist, so introvertiert und grüblerisch, wie kann der auf dem Fußballplatz genau das Gegenteil sein? Als Stürmer kannte Chapuisat keine Zweifel, sein Spiel lebte von der Intuition. Oder anders ausgedrückt: Chapuisats Wirken war immer nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Tore zu erzielen. Den Schweizer an seiner Bestimmung zu hindern war in dessen bester Zeit nahezu unmöglich. Super-Fummler hat man ihn in seiner Heimat genannt, weil er mit seiner Dynamik eine ganz Abwehr stehen lassen konnte. Doch Chapuisat war keiner jener Dribbler, für die das Kringeldrehen Selbstzweck war. Wenn es die Zielgerichtetheit erforderte, hat Chapuisat den Ball auch zu seinen Kollegen abgespielt. Jetzt, mit 34, fummelt der Stürmer nicht mehr. Oder nur noch selten. Sein Spiel hat ein neues Design bekommen. Man könnte auch sagen: Chapuisats Spiel hat sich immer stärker seinem Charakter angenähert. Chapuisat ist nun mehr Verteiler als Verwerter, er kann den Ball in der Spitze halten, bis seine Kollegen nachgerückt sind. Das alles wirkt überlegt und bedacht. Jörg Stiel, der Kapitän der Nationalmannschaft, sagt: „Du nimmst Chapuisat nicht einfach den Ball ab.“ Immer noch nicht. In manchen Spielen ist der Stürmer zwar kaum zu sehen, aber vielleicht spielt er in der vorletzten Minute den entscheidenden Pass. Oder er steht plötzlich frei am Fünfmeterraum. Und solange seine Gegenspieler fürchten, dass Chapuisat gefährlich werden könnte, solange besitzt er ohnehin seinen Wert für die Schweizer Nationalmannschaft.“

Ein bemerkenswertes Ballyhoo um Podolski und Schweinsteiger

Das A-Team bekommt Zuwachs. Thomas Kilchenstein (FR 4.6.): „Am Tag danach hingen die Wolken tief. Nebelfetzen in den Bäumen drückten auf die Stimmung. Es war nasskalt und ungemütlich, aber zwei Fußballern und einer Menge Kiebitzen machte das rein gar nichts aus. Der kleine Sportplatz in Winden, direkt an der B 294 gelegen, war gesäumt von begeisternden Fans der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, und einmal schien gar Oliver Kahn, der Titan vor dem Absprung, fast gerührt, als ein kleines Mädchen ihm ein selbst gemaltes Bild in die Hand drückte. Die Aufmerksamkeit der Medienschaffenden gehörte zwei jungen Nachrückern: Lukas Podolski und Sebastian Schweinsteiger, die nach dem mittwöchlichen Ausscheiden der U 21-Mannschaft bei der EM im eigenen Land ins Elztal gereist waren und gleich mit dem A-Team auslaufen durften. Es war ein bemerkenswertes Ballyhoo um die beiden Hoffnungsträger, fast musste es verwundern, dass es der DFB-Auswahl am Abend zuvor gelungen war, die Schweiz ohne die beiden zu schlagen. (…) Der 22-Jährige VfB-Angreifer Kevin Kuranyi dürfte sich seinen Stammplatz gesichert haben. „Er hat sehr, sehr gute Karten“, bestätigte Völler. Kuranyi habe seine Sache sehr gut gemacht und könne noch besser: „Er weiß gar nicht, was für ein Potenzial er hat.“ Der 44-jährige Teamchef meinte die „enorme Schnelligkeit“ des in Rio de Janeiro Geborenen. „Er muss diese Gabe nur noch mehr nutzen.“ Kuranyi, der Mann mit dem Spitzbart, war der Gewinner des Abends im St. Jakobs Park. Einmal staubte er nach einem katastrophalen Fehler des Schweizer Abwehrspielers Haas ab. Dann platzierte er einen Kopfball, technisch ansprechend, genau in den Winkel, um hinterher bescheiden anzufügen, die Flanke von Arne Friedrich, der auch einer der Besseren war, sei prima geschlagen gewesen.“

Ludger Schulze (SZ 4.6.) macht eine Pinkelpause in Basel: „Das Baseler St. Jakobs-Stadion ist ein modernes Schmuckstück, eine feine Begegnungsstätte des Sports, erbaut von den Stararchitekten Herzog und de Meuron, vielleicht mit der Ausnahme der Herrentoiletten, deren Urinale der Betreiber mit seltsamen Sinnsprüchen über die Einheit von Fußball und anderen dringenden Bedürfnissen verziert hat. Während Mann also . . . kann Mann beispielsweise lesen: „Was will man mehr: Schöne Pässe und gute Pisse.“ Sonst noch Wünsche? Ein, zwei Tore vielleicht, wie am Mittwochabend beim Testspiel Schweiz gegen Deutschland geboten, aus Sicht der Baseler und ihrer Toilettenwärter leider auf der falschen Seite. 2:0 (0:0) gewann der ewige Rivale beim 48. Aufeinandertreffen, und das mit Recht. Denn wie gesagt: Schöne Pässe gab“s und mancherlei mehr. (…) So ist“s recht, denn bei der Euro kommt in Gruppe D kein einziger freundlicher Schweizer oder entgegenkommender Malteser vor, aber lauter grimmig-entschlossene Holländer, Tschechen und Letten. Angesichts derer sind hübsche Resultate gegen Mifsuds (Malta) und Huggels (Schweiz) wenig hilfreich. Und doch keimt zart Hoffnung. Winden im Schwarzwälder Elztal, wo der DFB-Tross schon vor der WM vor zwei Jahren eingefallen war, ist ein perfektes Trainingsquartier, eine feine Begegnungsstätte für Nationalspieler, nur ohne Sinnsprüche auf dem Klo. „Die Mannschaft zieht hervorragend mit“, lobt Rudi Völler, „mit der körperlichen Verfassung der Spieler bin ich sehr zufrieden.“ Mit der geistigen nicht weniger, wie der junge Arne Friedrich unterstreicht. „Sehr wichtig ist, dass der Zusammenhalt sehr gewachsen ist.“ Was zu spüren ist, fast so wie vor zwei Jahren, als ein Team, das die Experten nicht für voll genommen hatten, spielerische Defizite durch schweißnahthafte Gemeinschaftlichkeit ausglich. In den Europa-pokalen war am Beispiel der Sieger FC Porto (Champions League) und FC Valencia (Uefa-Cup) zu beobachten, dass Organisation und Mannschaftsgeist allemal Starkult und Solokünstler dominieren. Vor der WM 2002 haben die Deutschen ihren Teamspirit sechs Tage lang trainiert. Sie wurden Zweite. Diesmal hatten sie doppelt so viel Zeit dazu. Und werden folglich . . . neinnein, war nur ein Scherz.“

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