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Griechischer Beckham und der Geist vom Schwarzwald

Oliver Fritsch | Sonntag, 6. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Griechischer Beckham und der Geist vom Schwarzwald

Geist vom Schwarzwald? Von wegen: 0:2 gegen Ungarn (NZZ) – Holland nicht in Stimmung – van Nistelrooy, „Endverbraucher des Balles“ (FAS) – Maris Verpakovskis, „Lettlands erster europäische Held“ (FAS) – „die biologische Uhr von Portugals Goldener Generation tickt“ (FAS) – Deutschland, „arm und ohne Konzept, Erfolg nicht völlig auszuschließen“ (The Sun) – Zweifel an Oliver Kahns Autorität und Integrität (FR) – Themistoklis Nikolaidis, der „griechische Beckham“ (Tsp) – FR-Interview mit Otto Rehhagel u.v.m.

0:2 gegen Ungarn – Martin Hägele (NZZ 7.6.) erschrickt: „Wie hatten sie doch diesen guten Geist vom Schwarzbauernhof im Elztal beschworen, der vor zwei Jahren die Grundlage gelegt hatte für das Erreichen des WM-Finals. Jene speziellen Tugenden aus Einsatz und Teamspirit sollten für die eher durchschnittlich begabte DFB-Auswahl Trümpfe sein am EM-Turnier, vor allem gegen die favorisierten Gegner aus Holland und Tschechien. Nach dem 0:2 gegen Ungarn ist die gute Betriebsatmosphäre dahin. Die dreifachen Welt- und Europameister fliegen nun nicht mit breiter Brust, sondern recht demütig an die Algarve. Denn ausgerechnet jene Vorzüge, die deutschen Ensembles immer noch angerechnet werden, liessen Ballack & Co. gegen den Aussenseiter vermissen. Und so fragten sich die Zuschauer im ausverkauften Fritz-Walter-Stadion und rund zehn Millionen vorm Fernseher, was schlimmer war: von den mittlerweile drittklassigen Ungarn vorgeführt zu werden oder dass auf der Bank der Magyaren mit Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus auch noch der Besserwisser im deutschen Fussball schlechthin sass.“

morgen mehr über die Niederlage Deutschlands gegen Ungarn

NZZ-Stenogramm über andere EM-Vorbereitungsspiele

Michael Horeni (FAZ 7.6.) äußert Hoffnung (vor dem Ungarn-Spiel): “Nach den Eindrücken der letzten beiden Vorbereitungswochen und nach der Erfahrung aus vielen vergangenen Turnieren dürfte die deutsche Mannschaft weit weniger chancenlos sein, als dies seit der Auslosung vor einem halben Jahr zum Allgemeingut des millionenstarken Fußball-Sachverständigenrats wurde – zumindest in Deutschland. Die Erfahrungsberichte und Ergebnisse aus Holland klingen in ihrer Gesamtheit keineswegs mehr so einschüchternd wie die Namen Ruud van Nistelrooy, Patrick Kluivert, Roy Makaay oder Clarence Seedorf im einzelnen. Die Generalprobe am Samstag hat die niederländische Individualistenvereinigung mit ihrer ganz speziellen Fußball-Philosophie glatt verhauen. Das 0:1 ist, außer für notorische Schwärmer der holländischen Fußball-Kunst, ein weiterer Beleg für die – gemessen am riesigen Potential – ziemlich dürftige Erfolgsbilanz der vergangenen Jahre. (…) Der Angstfaktor in der deutschen Mannschaft, die gegen große Fußballnationen unter Völler fast immer ein bißchen Nachhilfe nehmen durfte, jedenfalls schwindet.“

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. „Warum Völler seinem früheren Mitspieler Matthäus immer einen Schritt voraus ist.“ Ein Rückblick von Michael Ashelm (FAS 6.6.): „Beide haben den deutschen Fußball in erfolgreichen Jahren als Spieler geprägt. Beide wurden zusammen unter Franz Beckenbauer 1990 Weltmeister und gewannen mit ihren Vereinen die wichtigsten Trophäen des Weltfußballs. Beste Voraussetzungen für eine steile Karriere abseits des Feldes. Der größere, spektakulärere Sprung wurde Lothar Matthäus zugetraut. Als Rekordnationalspieler, Ehrenspielführer des Deutschen Fußball-Bundes und „Weltfußballer des Jahres“ schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, daß er es seinem Mentor Beckenbauer gleichtun würde und den höchsten Job in Fußball-Deutschland übertragen bekäme. Doch Matthäus verschwand aus dem Rampenlicht, in dem sein ehemaliger Mitstreiter plötzlich landete. Während der extrovertierte Franke seiner Heimat den Rücken kehrte und Engagements in der zweiten und dritten Reihe des internationalen Fußballs (Wien, Belgrad, Ungarn) zu seinen Trainerlehrjahren erklärte, erlangte Völler als deutscher Teamchef fast wie von selbst die höchsten Weihen. Sein persönlicher Bonus im Lande scheint unerschöpflich zu sein, wovon man sich in den Stunden des Mißerfolgs überzeugen kann. „Das hängt mit seiner Vergangenheit zusammen, wie er sich den Fans und Medien präsentiert hat. Er war immer der liebe Rudi“, sagt Matthäus. Während er polarisiert, steht Völler für Harmonie – in der Öffentlichkeit. „Er war nicht immer der liebe Rudi, schon als Spieler nicht“, weiß Matthäus zu berichten. Daß der Teamchef auch ein zorniger Opponent sein kann, weiß man spätestens seit seiner aufsehenerregenden Wutrede im Fernsehen, bei der er die schwachen Leistungen seiner Mannschaft zu verteidigen versuchte. Bei der WM 1990 in Italien soll es der Hesse gewesen sein, der den allzu selbstbewußten Franken im internen Kreis von Zeit zu Zeit zur Räson brachte. Doch prinzipiell meidet Völler jegliche Angriffspunkte, zeigt sich lieber als freundlicher, volksnaher Kumpeltyp ohne Ecken und Kanten, was ihn weit gebracht hat. Ganz anders Matthäus. Schon in jungen Jahren hatte er den Ruf eines großmäuligen Plapperers weg. Wo ihm ein Mikrophon entgegengestreckt wurde, gab Matthäus ausschweifende Kommentare ab. Er konnte mächtig austeilen, aber auch kräftig einstecken. Den vielen Worten folgten immer große Taten. Der agile Mittelfeldspieler war für seine Einsatzbereitschaft bekannt, konnte eine Mannschaft mitreißen und ihr neues Leben einhauchen. So setzte er sich in Italien durch und wurde zum Weltstar. Neben dem Platz arbeitete Matthäus mit aller Kraft am Image einer der schillerndsten Sportpersönlichkeiten des Landes. Ehen, Scheidungen, Affären und verbale Entgleisungen gehören zu seinem Leben wie die vielen Talente am Ball. Vom Boulevard wird der gelernte Raumausstatter bis heute gepflegt. Matthäus trieb das Spiel bis zum Letzten, als er mit einem „Tagebuch“ Interna aus dem Mannschaftskreis des FC Bayern an die Öffentlichkeit gab. Mit den Münchnern – und ganz speziell Uli Hoeneß – hat er es sich auch deshalb verscherzt. Während sich Völler relativ breiter Unterstützung der Branche sicher sein kann, beschränkt sich Matthäus‘ Hausmacht in Deutschland auf den Einfluß der dünnsten Zeitung des Landes, was bislang noch nicht für den großen Karrieresprung in der Heimat ausreichte.“

Wir spielen im Moment nicht unseren besten Fußball

Ulrich Hartmann (SZ 7.6.) hat keine Angst vor Holland: „Für den Ausklang des Abends hatte das Protokoll die Verteilung von Blumen vorgesehen – als Geste des Abschieds und des Aufbruchs. Doch die Fußballer in den orangefarbenen Trikots pfefferten ihre orangefarbenen Sträuße ins orangefarbene Publikum der Amsterdam-Arena, als hätten sie das bei der Artillerie erlernt. Der floristische Gruß galt nämlich wider Erwarten einer meuternden Menge, die ihre Helden mit schrillen Pfiffen malträtierte. Während der holländische Schlagerbarde Frans Bauer nach dem Schlusspfiff singend über das Feld gehopst war, hatten die müden Mandatsträger des Königlich-Niederländischen Fußballverbands mit hängenden Köpfen auf dem Rasen gekauert und ersonnen, was diese 0:1-Niederlage gegen Irland bedeuten könnte. „Wir spielen im Moment nicht unseren besten Fußball“, sagte der Stürmer Ruud van Nistelrooy später, und das war eine sehr sachliche Analyse dessen, was die Niederländer mitnehmen in ihr erstes EM-Spiel gegen Deutschland. „Wir Deutschen sind sehr nervös vor diesem Spiel“, verriet ein spionierender Fernsehreporter dem frisch geduschten Torjäger van Nistelrooy später am Abend vor laufender Kamera, und der gab freundlich zurück, dass ihm dies spätestens jetzt ähnlich gehe. Seit die Niederländer ihre EM-Teilnahme im November mit einem beeindruckenden 6:0 im Relegationsspiel gegen Schottland sichergestellt haben, ist ihnen nicht mehr viel Hoffnungsvolles gelungen. Die Mannschaft hat zuletzt gegen Belgien und Irland jeweils 0:1 vor heimischem Publikum verloren, sie hat die Färöer mit einem mageren 3:0 besiegt und in allen Spielen auch deshalb einen fragilen Eindruck hinterlassen, weil der Trainer Dick Advocaat weder klar definiert hatte, welche Aufstellung am besten geeignet ist noch welche Taktik. Gegen Irland kulminierte die niederländische Verwirrung dergestalt, dass Advocaat binnen 90 Minuten 18 Fußballer und zweieinhalb Systeme ausprobierte und mit zunehmender Spielzeit auf seinem Stühlchen am Spielfeldrand so in sich zusammenfiel, dass man jedes Mal Mitleid bekam, wenn er auf der Großbildleinwand unter dem Stadiondach erschien und die Zuschauer laut zu pfeifen begannen. Advocaat gilt als durchsetzungsschwach und unentschlossen, doch diesem Image ist er am späten Samstagabend mit verzweifelter Vehemenz entgegen getreten, als er in der Pressekonferenz nach dem Spiel förmlich mitteilte, dass das von ihm eigentlich favorisierte 4-4-2-System gescheitert sei und er sich entschlossen habe, zum 4-3-3-System zurück zu kehren.“

Van Nistelrooy und Kluivert oder der eine nur ohne den anderen?

Jon Brodkin (The Guardian) drückt Hollands Stürmerkonflikt milde aus: „Die Kombination van Nistelrooy und Kluivert hat bisher noch nicht so gefunkt, wie zu erwarten war. Keiner der Spieler hat daraus ein Geheimnis gemacht. Kluivert sagte nach der Niederlage im Relegationsspiel letzten November gegen Schottland, dass es „offensichtlich nicht funktioniert mit Ruud und mir vorne. Es hat vorher nicht funktioniert, warum sollte es jetzt auf einmal funktionieren?“ Kluivert ist momentan nicht in Topform, trotzdem wird erwartet, dass beide Spieler in Advocaats Startaufstellung für das Eröffnungsspiel der Holländer gegen Deutschland stehen werden. (…) “Es ist schwer, Gründe zu nennen, aber wir haben ja noch Zeit daran zu arbeiten,“ sagt van Nistelrooy. „Wir wollen, dass es funktioniert, deshalb arbeiten wir sehr hart um dieses Ziel zu erreichen.“

Endverbraucher des Balles

Christian Eichler (FAS 6.6.) ist fasziniert von Hollands Star-Stürmer: „Er ist der Prototyp der spektakulärsten Stürmergattung: egoistischer Dynamiker, Endverbraucher des Balles. Nun soll er bei der EM auch in Oranje die Tormaschine sein, als die man ihn in Feuerrot in Manchester kennengelernt hat. Ruud van Nistelrooy ist ein Spätzünder, es ist sein erstes großes Turnier. Während der am selben Tag, dem 1. Juli 1976, geborene Patrick Kluivert schon mit 18 Jahren Ajax Amsterdam zum Champions-League-Sieg schoß, versauerte van Nistelrooy als Libero in der Provinz. Als er endlich Stürmer war, verhinderte eine schwere Knieverletzung den EM-Einsatz 2000 und zunächst auch den Wechsel vom PSV Eindhoven zu Manchester United, der erst ein Jahr später zustande kam. Spätestens seit seinen sensationellen beiden ersten Spielzeiten für Manchester – mit 21 Toren in 22 Champions-League-Spielen – gilt van Nistelrooy neben Ronaldo und Thierry Henry als einer der drei besten Stürmer der Welt. Aber erst im entscheidenden EM-Qualifikationsspiel gegen Schottland hat er sich auch in der holländischen Nationalelf durchgesetzt und Kluivert verdrängt. Während Absolventen der berühmten Ajax-Schule europaweites Interesse finden, blieb das Dorfgewächs aus dem katholischen Süden der Niederlande, der eher Radfahrer als Kicker hervorbringt, lange unbeachtet. Noch als ihn Eindhoven kaufte, galt er dem früheren Nationalspieler Rene van der Kerkhof als „größter Fehler der Klubgeschichte“. Heute ist er Manchester so lieb und teuer, daß man ihm einen Vertrag bis 2008 gab, mit Garantiesalär von mehr als sieben Millionen Euro pro Jahr. Van Nistelrooy gilt als intelligent, bescheiden, fleißig.“

Das Leben war hart und einsam, aber ich hatte ja Beckham an meiner Wand

Owen Hagreaves erzählt Donald McRae (The Guardian 31.5.) über Schnitzel und anderes: „Schüchtern sagt Owen Hagreaves: „Ich habe David Beckham das nie erzählt, aber die Tür meines kleinen Zimmers war voll von Bildern von ihm. Ich war 16 Jahre alt und kam gerade aus Calgary nach München. Ich wohnte in einer Vereinsjugendherberge, konnte kein Wort deutsch und aß die ersten sechs Monate nichts außer Schnitzel. Das Leben war hart und einsam, aber ich hatte ja Beckham an meiner Wand. Ich glaube, ich träumte schon damals von Turnieren wie diesem.“ (…) Hagreaves erwähnt das flache Backsteinhaus am Trainingsgelände der Bayern, in dem die Nachwuchsspieler des Vereins untergebracht waren, dies war sein erstes Zuhause in Deutschland. Er lacht, wenn wir auf die nebenan gelegene „Insider Bar“ schielen, die voll gepackt ist mit Fans, die mit der heiligen Trinität von Bayern München, Würstchen und Heavy Metal verheiratet sind. ,,Tatsächlich ist es mittlerweile schon viel besser. Früher war es innen pechschwarz, es gab nur ein kleines Licht in der hintersten Ecke. Nichts außer Dunkelheit und Würstchen auf der Speisekarte – und Schnitzel, natürlich.“ (…) Für die Münchner Jugendmannschaften spielte Hargreaves überall in Bayern auf matschigen Dorfplätzen. Er war der „fremde Kanadier“, der es wagte zu glauben, dass er sich, im „Power House“ des europäischen Fußballs, durchsetzen könnte. Im Jahr 2000 erstmals der deutschen Presse, als Mitglied der ersten Mannschaft vorgestellt, wurde er gefragt, ob er es bevorzugen würde in Englisch zu sprechen. Höflich lehnte er ab und legte Deutschkenntnisse an den Tag, die der Ruhe und Zielstrebigkeit, die er auf dem Feld zeigt in nichts nachstanden. (…) Hagreaves schaut zurück über den Trainingsplatz, auf das Wohnhaus, in dem er einst die Wände mit Beckhams Bildern voll gehangen hatte. Schon damals träumte, dieser einsame, nomadische Teenager von England. Sieben Jahre später könnte er die Chance bekommen in einem Land zu leben und zu spielen, welches er sein eigens nennen kann. „England wäre gut,“ sagt er, „England wäre cool“.

Dirk Schümer (FAS 6.6.) ist kritischer Fan von Pavel Nedved: „Nedved hat in Italiens technisch und taktisch geprägtem Fußball den nötigen Reifeprozeß durchgemacht, um auch international auf höchstem Niveau zu bestehen. An guten Tagen entscheidet er ein Spiel alleine, notfalls mit der Brechstange, wenn er mit kleinen Stampfschritten auf das gegnerische Tor zurennt und mit allen Mitteln den Abschluß sucht. So führte er sein Team in der starken Gruppe mit den Niederlanden zur direkten Qualifikation. Doch es gibt auch Schattenseiten. In der vergangenen Saison konnte der 32jährige Nedved den Niedergang von Juventus Turin nicht verhindern. Auch verpaßten die Tschechen mit ihm die Qualifikation für die beiden letzten Weltmeisterschaften. Das mag daran liegen, daß Nedveds kraftraubende Spielweise totale körperliche und geistige Fitneß erfordert; auch das Alter hat nach bald fünfzehn Profi-Spielzeiten seine Spuren hinterlassen. Die einzige Schwäche Nedveds ist auch bezeichnend für den tschechischen Fußball insgesamt: übergroße Sensibilität. Läuft es einmal nicht rund, werden seine Kreise erfolgreich gestört, neigt Nedved zuweilen zur Resignation, und er läuft neben der Partie her.“

Christian Eichler (FAS 6.6.) stellt Lettlands Star vor – Maris Verpakovskis: „Seit dem 1. Mai ist Lettland in der Europäischen Union. Der erste europäische Held der Letten ist kein Politiker, sondern ein Fußballer. „Maris, Maris“, skandierten Tausende auf den Straßen Rigas im vergangenen November, als der lettischen Auswahl im Play-off-Rückspiel gegen den WM-Dritten der Sprung nach Portugal und damit die wohl größte Überraschung in der EM-Qualifikationsgeschichte gelungen war. Das Trikot mit der Nummer 9 und dem Namen Verpakovskis wurde ein Verkaufsschlager. Und dann erhielt der „Fußballer des Jahres“ in seinem Heimatland auch noch eine besondere Ehrung: Er wurde, in der Abstimmung deutlich vor Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga, zu Lettlands „Europäer des Jahres“ gewählt. Europa suchte einen Namen für den Erfolg der Namenlosen. Es fand den von Verpakovskis.“

Hoffnungen, Erwartungen und Ansprüche eines ganzen Landes

„Die biologische Uhr der Portugiesen tickt“, schreibt Thomas Klemm (FAS 6.6.): „Für Luis Figo wird es langsam Zeit, daß die Europameisterschaft beginnt. Der große Star der portugiesischen Fußball-Nationalmannschaft zeigt sich, im Gegensatz zur Weltmeisterschaft vor zwei Jahren, diesmal nicht nur in der Turniervorbereitung körperlich fit, sondern ist zugleich geistig müde, die immergleiche Frage beantworten zu sollen: Schafft es der als „Goldene Generation“ hochgelobte Jahrgang des portugiesischen Fußballs bei der EM im eigenen Land endlich einmal, seine Fähigkeiten über Wochen hinweg bei einem Turnier auszuspielen und zum ersten Mal einen bedeutenden Titel zu gewinnen? Schließlich tickt die biologische Uhr bei den Stars der Seleccao, die seit mehr als einem Jahrzehnt in verschiedenen Auswahlmannschaften der Nation zusammenspielen und auch beim Eröffnungsspiel am kommenden Samstag gegen Griechenland wieder Seit‘ an Seit‘ auflaufen werden. „Alle reden nur darüber, ob es unsere letzte Gelegenheit ist“, beklagt sich der 31 Jahre alte Figo, der mit einem Abschied von der internationalen Fußballbühne liebäugelt, „aber es ist doch kein Wettbewerb auf Leben oder Tod.“ Abwiegeln, herunterspielen – auf diese Weise wehren sich Figo und der Rest der „Goldenen Generation“, die ihre sportlichen Möglichkeiten bislang nicht einmal versilbern konnte, vor dem EM-Auftakt gegen Hoffnungen, Erwartungen und Ansprüche eines ganzen Landes.“

Tilo Wagner (FAS 6.6.) beschreibt die Bedeutung des Fußballs für Portugals Gesellschaft und Politik: “Fußball ist für Portugiesen nicht einfach nur Nebensache. Seit die Gebrüder Pinto Basto 1886 einen abgewetzten Lederball von ihrem Studienaufenthalt in England nach Lissabon brachten, ist der Sport zu einem identitätsstiftenden Teil des portugiesischen Selbstverständnisses geworden. Das gilt nicht nur für die vier Millionen portugiesischen Emigranten, die vor allem in Brasilien, Frankreich und Südafrika ein besseres Leben suchten, sondern auch für die überwältigende Mehrheit der zehn Millionen Menschen im Land. Daher ist es für viele Portugiesen nur allzu natürlich, daß ausgerechnet der Fußball ihrem kleinen Land am westlichsten Ende Europas eine Aufmerksamkeit bescheren wird, die es seit der Nelkenrevolution Mitte der siebziger Jahre nicht mehr gehabt hat. Etwa 8500 Journalisten werden drei Wochen lang über die EM berichten. Eine halbe Million ausländische Gäste soll der portugiesischen Wirtschaft den nötigen Anstoß geben, um das Land aus der Rezession zu holen. Fast zwei Drittel der Portugiesen glauben, daß die EM dem Land wirtschaftlich nützen wird, wie jüngst eine Umfrage ergeben hat. Von der Fußballeuphorie will auch die Mitte-rechts-Koalition um Premierminister Jose Manuel Durao Barroso profitieren. Mit dem Slogan für die Europawahl „Forca Portugal“ (Auf geht’s, Portugal!) hat das Regierungsbündnis der gemäßigten Konservativen (PSD) und der rechtspopulistischen Volkspartei (PP) nicht von ungefähr einen beliebten Schlachtruf der portugiesischen Nationalelf übernommen.“

„Arm und ohne Konzept – Erfolg nicht völlig auszuschließen.“ The Sun schreibt über das deutsche Team: „Auf dem Papier ist Deutschland eine der ärmsten Mannschaften des Turniers. Aber jeder weiß, Völlers Team hat den Willen zu siegen, Disziplin und ausgezeichnete Organisation und damit immer noch eine Chance lange im Turnier zu bleiben. Auch wenn man sie vorher völlig abschreibt. (…) Sie befinden sich in der härtesten aller Gruppen, stehen mit der Tschechischen Republik und Holland, zwei hochkarätigen Mannschaften gegenüber. Spielen diese beiden gefährlichen Gegner ihren Möglichkeiten entsprechend, ist es nicht undenkbar, dass die Deutschen einen frühen Schwung zum Flughafen machen. Ihre Qualifikation war ein Überlebenskampf, aber sie belegten Platz 1 und verloren kein Spiel. Das sind die Deutschen. Tore schießen stellt eines der Hauptprobleme da, nur 13 Tore in 8 Gruppenspielen gegen mittelmäßige Gegner. Ohne Riese Carsten Jancker ist die bevorzugte Kombination im Sturm Fredi Bobic und Kevin Kuranyi, der einer der wenigen interessanten Spieler ist. Ein anderer ist Michael Ballack, Deutschlands Elfmeterschütze, kreativer Mittelfeldspieler, ein Akteur mit wirklicher Weltklasse. Ein weiterer Star steht im Tor – Oliver Kahn – der zum Spieler des Turniers bei der letzten WM gewählt wurde. Einige grobe Fehler in letzter Zeit zeigen jedoch, dass Olli den gleichen Weg wie David Seaman zu gehen scheint. Obwohl er möglicherweise den Gipfel seiner Karriere überschritten hat, ist er ohne Frage eine bessere Wahl zwischen den Pfosten als sein Vertreter Jens Lehman von Arsenal London.“

Die FR (7.6.) bezweifelt die Autorität Oliver Kahns: „Er, „nie ein Kumpeltyp“ (Oliver Bierhoff), hat sich zuvorderst über seinen sportlichen Wert für eine Mannschaft definiert. Doch wenn der Egomane zwischen den Pfosten sich mit Fehlgriffen wie in dieser Saison angreifbar macht, gerät auch seine Ausnahmeposition ins Wanken. Kritisch beäugt werden seine diversen Extratouren – der 34-Jährige gönnt sich wie selbstverständlich eine komplette Auszeit vom DFB-Kreise, wenn er wie vor dem Testspiel im März gegen Belgien weiß, dass Rivale Jens Lehmann aufläuft. Viele Verbündete in der Auswahl hat er nicht, selbst seine Bayern-Kollegen Jens Jeremies und Michael Ballack stehen ihm allenfalls neutral gegenüber. Als heimlicher Chef im Kader gilt ohnehin längst der integre Dietmar Hamann, dessen (intern geführtes) Wort weitaus mehr Gewicht hat. (…) Kahn verbindet mit Europameisterschaften nicht die besten Erfahrungen: Im EM-Torso 2000 ging der Torwart bei seinem ersten großen internationalen Auftritt mit unter. Im EM-Trubel 1996, Kahn hatte gerade die WM 1994 als dritter Mann erlebt, muss man die Bilder von damals schon genauer ansehen: Da ist selbst auf den Siegerfotos ein missmutiger Kahn zu entdecken, enttäuscht ob der Nebenrolle hinter der Hauptfigur Andreas Köpke. Die Siegesfeier hat er damals früh verlassen, zum Empfang an den Frankfurter Römer ist er vor acht Jahren gar nicht mehr mitgeflogen. Noch nicht idolisiert, aber schon isoliert.“

Was meine Vorgänger hier gemacht haben, das weiß ich gar nicht
FR-Interview (7.6.) mit Otto Rehhagel

FR: Als Ihre größte Tat in Griechenland gilt, dass Sie den Spielern Disziplin beigebracht haben. Wie schwer war das?
OR: Gut war sicher, dass ich hier ein paar alte Zöpfe abgeschnitten habe. Zum Beispiel wurde die Mannschaft bei unserem Schweizer Trainingslager vor der EM total abgeschottet. Das war für die doch ziemlich neu.
FR: Wer war denn da sonst so mit dabei?
OR: Freunde, Bekannte, was weiß ich. Oder die Journalisten. Die konnten zwar in unserem Dorf wohnen, aber nicht mehr in unserem Hotel. Und ich habe gesagt: Wir spielen nicht im Olympiastadion vor 10 000, sondern gehen lieber mit 20 000 Leuten in das kleine Stadion von Panathinaikós.
FR: So einfach legt man die Mentalität aber wohl doch nicht ab.
OR: Irgendwann haben die Jungs das aber schon eingesehen. Und immerhin habe ich in meinem EM-Kader ja die acht Spieler aus dem Ausland. Denen habe ich immer gesagt: Benehmt euch so wie bei Atletico Madrid oder beim AS Rom – eben so, wie ich das auch aus Deutschland gewohnt war. Und ich muss schon sagen: Meine Nationalmannschaft, das sind alles gute Jungs.
FR: Sie haben also gezielt auf das nicht-griechische Element gesetzt.
OR: Wir haben vor allem etwas ganz anderes eingeführt. Die Griechen haben ja immer gesagt: der Rehhagel ist nie da. Dabei sind wir immer durch ganz Europa gefahren und haben die Spieler beobachtet. Haben also etwas gemacht, was hier früher nicht gemacht wurde: Über den Tellerrand geschaut, die Spieler in ihren Städten getroffen und über ihre Situation gesprochen. Das kannten sie so früher gar nicht.
FR: Ihre Vorgänger haben es sich also in Griechenland gut gehen lassen?
OR: Entschuldigung, aber was meine Vorgänger hier gemacht haben, das weiß ich gar nicht. Wir haben einfach unser Verständnis davon, wie man mit Menschen umgeht, in die Tat umgesetzt. Aber das Allerwichtigste, was bei den Spielern ankommt, ist, dass wir fachlich fundiertes Wissen haben und dieses vermitteln können. Zum Beispiel vor dem Spiel gegen Spanien meinen Spielern plötzlich zu sagen: Wir spielen nicht mit einer Viererkette, sondern bauen wegen Raúl und Morientes noch eine Absicherung ein. Und wir werden einen Rechtsaußen auf Linksaußen stellen, als taktischen Zug. Dass der Trainer sich so etwas ausdenkt, hat den größten Eindruck bei den Spielern hinterlassen. Fachlich fundiertes Wissen, das ist die Wahrheit im Fußball. Alles andere ist Beiwerk.

Mathias Klappenbach (Tsp 7.6.) porträtiert Themistoklis Nikolaidis, den griechischen Beckham: „Seit er im vergangenen Jahr den griechischen Popstar Despina Vandi heiratete, wird das schillernde Ehepaar oft mit David Beckham und dessen Frau Victoria verglichen. Doch im Jahr der Hochzeit musste Nikolaidis seinen Traumverein verlassen. Als er für sich und die Mannschaft ausstehende Zahlungen einforderte, soll der damalige Präsident gedroht haben, ihm die Beine zu brechen. Nikolaidis trat in den Streik und wechselte dann zu Atletico Madrid. Sein Vereins- und Nationalmannschaftskollege Vassilios Tsartas streikte mit, blieb aber in Athen. Jetzt stehen die beiden Rebellen von einst auf verschiedenen Seiten. Tsartas beschuldigt Nikolaidis, moralischer Urheber eines tätlichen Angriffs von 200 Hooligans auf Athener Spieler zu sein. Für die Zeit der Europameisterschaft wurde dieses Thema aber zum Tabu erklärt. Denn Außenseiter Griechenland hofft vor allem auf seinen Stürmerstar, dem in Madrid gerade einmal sechs Saisontreffer gelangen. Der nur 1,74 Meter große Nikolaidis gehört zur aussterbenden Gattung der reinen Strafraumstürmer. Er erkennt eine Möglichkeit im Moment ihrer Entstehung und nutzt sie dann auch auf engstem Raum.“

Markus Wiegand (FTD 7.6.) hofft, dass alles gut geht: „Ohne Netz und doppelten Boden – die Uefa trägt bei der in knapp zwei Wochen beginnenden EM in Portugal das Risiko eines Ausfalls selbst. Trotz des jüngsten Terroranschlags im benachbarten Spanien habe die Uefa keine entsprechende Versicherung für die Titelkämpfe abgeschlossen, verlautete aus Händlerkreisen. „Wir glauben nicht, dass die Europa Meisterschaft ausfallen könnte“, bestätigte Uefa-Medienchef William Gaillard. Die 16 Teams seien bereit und im Gegensatz zu den Olympischen Spielen gebe es keine organisatorischen Probleme. Das Internationale Olympische Komitee (IOC), das bisher im Gegensatz zu vielen anderen Sportveranstaltern eine derartige Absicherung ebenfalls nicht für nötig hielt, hatte vor einigen Wochen eine Kehrtwendung vollzogen und erstmals eine Ausfallversicherung über 170 Mio. $ bekannt gegeben. Ein Londoner Versicherungssyndikat würde mit dieser Summe einspringen, wenn die Spiele in Athen wegen Krieg, Terror oder Naturkatastrophen nicht ausgetragen werden könnten. (…) Für die WM 2006 in Deutschland ging die Fifa neue Wege. Sie ließ über die Credit Suisse First Boston-Bank einen Katastrophenbond in Höhe von 350 Mio. Schweizer Franken ausgeben. Findet die WM statt, bekommen die Investoren ihre Einlage verzinst zurück, fällt das Ereignis aus, ist ihr Geld weg. Ganz ohne Absicherung steht allerdings auch die Uefa nicht da. Rechtsschutz, Krankenversicherung und Haftpflicht sind über klassische Policen abgedeckt. Jeder Zuschauer im Stadion etwa sei bei einem möglichen Todesfall mit rund 70 000 Euro abgesichert, sagten Versicherungsmakler. „Den Totalausfall einer Europameisterschaft haben wir noch nie versichert“, erklärte Uefa-Medienchef Gaillard. Offenbar ist sich die Uefa-Spitze sicher, eine mögliche Absage selbst bezahlen zu können.“

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