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Raus Ausstrahlung, Derwalls Frisur

Oliver Fritsch | Donnerstag, 10. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Raus Ausstrahlung, Derwalls Frisur

10. Juni

Karel Brückner, Tschechiens Trainer, „eine Ausstrahlung wie Bundespräsident Johannes Rau und eine Frisur wie Jupp Derwall“ (FAZ) / „Pavel Nedveds Disziplin ist den Italienern unheimlich“ (SZ) – Holland, „eine Mannschaft kurz vor der Detonation“ (taz) / Dick Advocaat kann es keinem Holländer recht machen / Ruud van Nistelrooy, „Verkörperung der Torgefahr“ (FAZ) / Hollands neue Generation (Spiegel) – „Lettlands Profis verdienen zusammen nicht soviel wie Michael Ballack allein“ (FAZ) u.v.m.

Eine Ausstrahlung wie Bundespräsident Johannes Rau und eine Frisur wie Jupp Derwall

Die Tschechen drücken ihrer Mannschaft die Daumen. Peter Heß (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.): „Als der Schiedsrichter das Spiel abgepfiffen hatte, das 3:1 über die Niederlande besiegelt war und feststand, daß die Tschechen an der EM teilnehmen würden, wollte der Jubel im Stadion kein Ende nehmen. 20 000 verharrten in Prag auf den Rängen, wollten den Triumph auskosten, solange es ging. Das Leben bietet manchmal magische Momente, und der bekannte Opernsänger Vratislav Kriz erkannte, daß so ein Augenblick gekommen war. Spontan forderte er das Publikum auf, mit ihm noch einmal die Nationalhymne zu singen. Und in einem unendlich viel stärkeren Maße als bei dem Ritual vor dem Anpfiff bescherten sich der Künstler und der Chor der Amateure ein bewegendes Erlebnis. Die Szene vom Herbst 2003 verrät viel über die Stärke des tschechischen Fußballs. Er ist beseelt von einem reinen Gemeinschaftsgeist, von einem unschuldigen Nationalstolz, der in Deutschland sofort verdächtig wäre. Die Mannschaft zerreißt sich füreinander und für ihre Fans, ist sich der nationalen Tragweite ihrer Tätigkeit bewußt. Das war nicht immer so. Tschechische Fußballprofis sind nicht per se die besseren Menschen als Deutsche. Genaugenommen hat die Entwicklung erst im Februar 2002 begonnen, mit dem Amtsantritt von Nationaltrainer Karel Brückner. Der Fußball-Lehrer schaffte es, seinen in halb Europa beschäftigten Spielern Heimatverbundenheit zu vermitteln. „Es ist, als käme ich nach Hause“, beschreibt Stürmer Vratislav Lokvenc die Atmosphäre, die ihn bei der Nationalelf umschmeichelt. Lange Gespräche sind die Stärke von Brückner, der eine Ausstrahlung wie Bundespräsident Johannes Rau besitzt und eine Frisur wie Jupp Derwall hat. Seine Spieler haben ihn Kleki-petra getauft, nach Winnetous sanftem und weisem Vater.“

Marc Lehmann (NZZ 9.6.) porträtiert Karel Brückner: „Der ältere Herr blickt ernst. Er legt die Stirn in Falten und spricht sanft. Er sagt wenig. Man denkt an einen Dichter oder Komponisten, wenn man ihn so sieht, im dunklen Anzug, mit schlohweissem Haar, asketischen Gesichtszügen und schmalen Lippen. Eine edle Erscheinung. Nur seine stattliche Postur verrät den Sportler. Karel Brückner ist Fussballtrainer. Er trägt den Übernamen „Professor“. Seit gut zwei Jahren ist der 64-Jährige für die tschechische Nationalmannschaft verantwortlich. Der „Professor“ ist der Vater der jüngsten Erfolge im tschechischen Fussball. Selber nie ein grosser Spieler, erregt er Anfang der neunziger Jahre mit dem mährischen Provinzklub Olomouc (Olmütz) im Uefa-Cup Aufsehen. Dann führt er Nachwuchsteams, die U-21 zum Beispiel, die zuerst Zweiter und dann 2002 in der Schweiz Europameister wird. Doch zu dem Zeitpunkt ist Brückner schon nicht mehr dabei. Er hat im Dienste des Verbands eine höhere Aufgabe übernommen: den Neuaufbau der A-Nationalmannschaft nach der gescheiterten Qualifikation für die WM 2002. Der neue Coach ändert zunächst nicht viel, ergänzt die Kaderliste bloss um ein paar Namen, sagt, man könne im Übrigen ganz gut mit dem bestehenden Team weiterspielen. Er arbeitet auf der „mentalen Ebene“, wie er es ausdrückt, spricht mit den Spielern, haucht der Mannschaft neues Leben ein. Mit seiner Autorität gelingt es ihm, die Eskapaden einzelner Stars einzudämmen. Vorgänger Jozef Chovanec hatte sich daran die Zähne ausgebissen. Nun sagt der Mittelfeldspieler Vladimir Smicer: „Der Teamgeist ist unser Erfolgsgarant.“ Die Tschechen haben in Kürze grosse Fortschritte erzielt. Sie spielten eine tadellose EM- Qualifikation, gewannen sieben von acht Partien und erzielten dabei 23 Tore. Diese Ausbeute bringt sie für das Turnier in Portugal in die Rolle der Mitfavoriten. Im Schlüsselspiel gegen die höher eingestuften Niederlande siegten die Tschechen 3:1, was für die direkte Qualifikation reichte. Dabei war nicht so sehr das Resultat besonders, als vielmehr die Art, wie es zustande kam. Brückner sah seine Auffassung vom modernen Tempofussball fast perfekt in die Tat umgesetzt. Die sonst so versierten Niederländer befanden sich unter Dauerdruck, hatten kaum Zeit zum Luftholen. „Was uns so stark macht? Wir können unserem Gegner das Spiel aufzwingen“, sagt der HSV-Verteidiger Tomas Ujfalusi, „kurze Pässe, frühes Stören, grosse Laufarbeit, Schüsse aus allen Lagen.“ Brückner spielt ein komplexes System mit einer Viererabwehrkette und meist einem sehr offensiv ausgerichteten Fünfer-Mittelfeld mit nur einer Sturmspitze. Der Trainer hat Glück. Er kann seine Visionen von hervorragenden Leuten auf dem Feld verwirklichen lassen. Diese gehen dem Broterwerb meist in den grossen europäischen Ligen nach, empfinden es aber auch als eine Ehre, den Nationaldress zu tragen.“

Nedved ist überall, flächendeckend, schnell, kraftvoll, listig

Birgit Schönau (SZ 9.6.) ist begeistert von Pavel Nedved: „In Italien nennen sie ihn „guerriero“, das heißt: Krieger. Oder auch „cannibale“. Weil er nicht aufgibt, weil er rennt bis zum Umfallen, weil er ehrgeizig und unersättlich Ziele verfolgt. Seine Disziplin ist den Italienern unheimlich. Nedveds Nachbarn in Turin berichten, dass er jeden Morgen Gymnastik auf dem Balkon macht. Und anschließend joggt. Und rennt und rennt und rennt. Ein Besessener. Natürlich hat Pavel Nedved Talent, Ballinstinkt, vielleicht sogar Genie. Natürlich bietet er Spektakel auf dem Rasen, seine minutiös geschossenen Pässe, seine Flachschüsse ins Tor, die Kopfbälle, die Finten, die Flanken mit gestrecktem Bein. Er wird auf die Position linkes Mittelfeld geschickt, aber Nedved ist überall, flächendeckend, schnell, kraftvoll, listig. Und torgefährlich. Nedved sei nicht Europas bester Fußballer, hat Francesco Totti gesagt, der Spieler, um den sich jetzt Italiens Nationalmannschaft dreht. Dem Tschechen, grätschte Totti, mangele es an Fantasie. Das war ein hämischer Vorwurf, aber er kam gut an. Der Römer Totti hat seinerseits eine bestimmte, wurstige Drehung für den Ball als „Löffelchen-Nummer“ patentiert, und Nedved spielt ja auch in einer Liga mit Christian Vieri von Inter Mailand, der gern erzählt, was ihm sein Trainer am Mittwoch sage, habe er am Sonntag auf dem Platz sowieso wieder vergessen. So etwas würde Pavel Nedved niemals von sich geben. Er sagt sowieso nicht viel, in dieser Hinsicht ist er ein altmodischer Fußballer. Man trainiert und man spielt, das ist die ganze Sache. Spielen ist Silber und Schweigen ist Gold.“

Christian Eichler (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.) beleuchtet die schwierige Mission Dick Advocaats: „Bis zum 28. April 2004 sahen die EM-Aussichten der Niederlande gar nicht so schlecht aus. Dann fielen rund 2000 Kilometer voneinander entfernt zehn Tore. Und die Holländer hatten ein Problem: den Optimismus. „Das Schlimmste, was uns vor der EM passieren konnte“, so kommentierte die führende Fachzeitschrift des Landes die Kombination aus dem 4:0-Sieg der Holländer gegen Griechenland in Eindhoven und dem 1:5 der Deutschen gegen Rumänien in Bukarest. Prompt sahen viele Fans, die ihr Land nach alter Gewohnheit seit Wochen für die Europameisterschaft auf Orange umkolorieren, die Aussichten schon wieder rosarot. Da kommen Dämpfer wie die beiden 0:1-Niederlagen in den Testspielen gegen Irland am vergangenen Samstag und gegen Belgien am Pfingstwochenende gar nicht so ungelegen, um wieder Bodenhaftung zu bekommen. Die Spieler haben ohnehin nicht mitgemacht – die Frage ist nur, ob durch mannschaftliche Sprachregelung oder individuelle Überzeugung. Die „Willensstärke“ des deutschen Teams lobt Verteidiger Jaap Stam. Die Kollegen schlossen sich im Trainingslager in Noordwijk dem Lob des ewigen Rivalen und ersten EM-Gegners an. Tenor: Die Deutschen werden unterschätzt. Das haben die Holländer angeblich 1974 selber getan, wie ein Buch zum dreißigjährigen Jubiläum der WM-Niederlage von München darstellt: Nicht einmal eine Teambesprechung gab es vor dem Finale, so sicher hätten sich die Männer um den Kettenraucher Cruyff gefühlt. Ob es so war, ist bis heute umstritten, doch die aktuelle Oranje-Auswahl gibt sich als Gegenentwurf dazu so entschieden wie bescheiden, wie es die Kaste der vielseitig verwendbaren Europa-Profis in ihren Spitzenklubs professionell gelernt hat: nur keine Überheblichkeit in Wort oder Tat. Selten war vor einem großen Turnier so ungewiß, was von Hollands Auswahl zu halten ist. (…) Advocaat muß das Gefühl gewinnen, es keinem recht machen zu können. Ist er konservativ und setzt auf die Alten, so wird ihm das Scheitern bei der WM 1994 vorgehalten – damals war Advocaat zum ersten Mal Bondscoach und ließ, eine verhängnisvolle Entscheidung, in der Hitze von Dallas den alternden Jan Wouters gegen Bebeto spielen. Ist er aber mutig und hat damit Erfolg, wie im Play-off-Rückspiel gegen Schottland, als er Kluivert und Seedorf auf der Bank ließ und Sneijder und van der Vaart aufstellte, raunen die ewigen Nörgler, Advocaat habe nur auf Geheiß seines Assistenten Wim van Hanegem gehandelt, einem der Cruyff-Adepten aus dem Team von 1974. Ist er vorsichtig und hat Erfolg, werden sie die Art und Weise des Erfolges bemängeln, allen voran Cruyff selbst, der in Portugal für das niederländische Fernsehen den Mann kritisieren wird, vor dessen Job er zweimal kniff. Hat Advocaat keinen Erfolg, ist es egal, ob er mutig oder vorsichtig war – es werden ihn sowieso alle zerreißen.“

Eine Mannschaft kurz vor der Detonation

Ronald Reng (taz 10.6.) hört die Zeitbombe im holländischen Team ticken: „Albufeira, der Ferienort an der Algarve, gibt jedes Jahr hunderttausenden Urlaubern und nun auch der niederländischen Fußballauswahl die Illusion einer Idylle. Unter der milden Abendsonne schienen die Probleme des Alltags weit weg. Selbst von kritischen Erkundigungen der Journalisten wollten sich die Fußballer nicht stören lassen: Mittelfeldspieler Edgar Davids nahm dem perplexen Reporter einfach den Kugelschreiber aus der Hand und schrieb ihm ein Autogramm auf dem Block. Doch Holland ist ein paar Tage vor der EM eine Mannschaft kurz vor der Detonation. Man weiß bloß noch nicht, ob sie explodieren wird – sich die Frustration in rauschenden Auftritten löst – oder ob sie implodiert und sich in selbstzerstörerischer Wut selbst besiegt. Zwei 0:1-Niederlagen in den abschließenden Testspielen gegen Belgien und Irland genügten, einen Turnierfavoriten fundamental zu erschüttern. Zwei Tage vor EM-Beginn ist noch nicht einmal ansatzweise klar, in welcher Aufstellung und mit welcher Taktik die Niederlande am kommenden Dienstag in Porto ihr erstes Vorrundenspiel gegen Deutschland bestreiten werden. Ein Symptom für wirkliche Probleme, die Phillip Cocu, einer der erfahrenen holländischen Mittelfeldstrategen, leicht beschönigend formuliert: „Ein paar bei uns im Team sind ein kleines bisschen außer Form.“ Bei Stürmer Patrick Kluivert, der sich angesprochen fühlen durfte, hörte es sich so an: „Ich war zuletzt richtig schlecht.“ (…) 1995, als Kluivert mit 19 Ajax Amsterdam zum Europacupsieg schoss, war er das Gesicht einer neuen Generation niederländischer Fußballer, der alles offen zu stehen schien. Neun Jahre später ist sie dreimal in den K.o.-Runden bei WM oder EM im Elfmeterschießen gescheitert und haben sich einmal – für die WM 2002 – gar nicht qualifiziert. Neun dieser Generation, von Marc Overmars bis Edwin van der Sar, sind in Portugal weiterhin dabei, und Patrick Kluivert ist noch immer ihr Gesicht. Allein, heute ist es die fast schon verlorene Generation.“

„Eine neue Spielergeneration hat die holländischen Fans mit ihrer Mannschaft versöhnt“, meldet Jörg Kramer (Spiegel 7.6.): „Wie ein gestresster Urlauber durch die überfüllte Ankunftshalle steuerte Wesley Sneijder gleich zwei Rollkoffer durch das Tiefgeschoss des Eindhovener Philips-Stadions. Reporter hielten dem Hänfling die Glastür auf, bevor er das offenbar schwere Gepäck die schmale Treppe hoch zum Ausgang tragen musste. Gereizt setzte der Fußballprofi die Trolleys mit dem aufgedruckten orangefarbenen Kennzeichen „WS“ auf halbem Weg ab und holte tief Luft. Nein, entrüstete sich der 1,70 Meter große Mittelfeldmann, das mit dem neuen Spielsystem, das Hollands Nationaltrainer Dick Advocaat gerade beim 0:1 gegen Belgien ausprobiert hatte, sei nichts für ihn. Definitiv. „Jetzt ist es bewiesen, ich bin kein Typ für rechts. Ich bin kein Renner, man ist so weit weg von den Stürmern.“ Punkt. Fehlte bloß, dass er mit dem Fuß aufgestampft hätte. Was soll Advocaat tun: seine Taktik etwa nach den Wünschen eines giftigen Grünschnabels ausrichten, der diese Woche 20 Jahre alt wird und gerade mal ein paar Länderspiele absolviert hat? Gut eine Woche vor Hollands EM-Auftakt gegen Deutschland schwankt der Bondscoach zwischen dem bewährten 4-3-3-System mit zwei Außenstürmern und dem 4-4-2, bei dem die Mittelfeldakteure eine Raute bilden, die Sneijder an den Rand drängt. Advocaat weiß: Stellt er nach den Bedürfnissen seiner frechen Jungstars auf, ist ihm wenigstens die Gunst der Nation sicher. Denn Sneijder gehört zu einer Bande frischen Personals im Oranje-Trikot, das die Stimmung deutlich angehoben hat. Holland hat wieder Feuer gefangen in der schwierigen Beziehung zu seiner „Elftal“, ist hingerissen von den neuen Wilden und bekennt sich dazu. In Eindhoven, beim vorletzten Heimspiel vor der EM, setzte der spektakulär quirlige Sneijder bei jeder Ballberührung das fröhliche Quäken der Blaskapellen auf den Rängen in Gang. Als Clarence Seedorf, 28, mit elegantem Schwung einen Freistoß weit am Tor vorbeisemmelte, veranstaltete das Publikum dagegen einen Höllenlärm mit wütenden Pfiffen. Seedorf, ein Legionär des europäischen Spitzenfußballs, gilt als Teil der alten Garde, an der sich die niederländische Fangemeinde satt gesehen hat. Der Protagonisten aus dem goldenen Jahrgang, der 1995 mit Ajax Amsterdam die Champions League gewann, und vor allem der ewigen Versuche, aus diesen schwierigen Individualisten ein funktionierendes Ensemble zu formen, war das Publikum überdrüssig. „Das ganze Land hat geschrien nach neuen Gesichtern“, sagt der Ex-Internationale Youri Mulder, einst Stürmer bei Schalke 04, jetzt TV-Kommentator in Holland. Dann kam der 19. November 2003, für die Zeitung „de Volkskrant“ der „Tag der aufblühenden Jugend“. Beim entscheidenden Relegationsspiel um die EM-Teilnahme, dem befreienden 6:0-Triumph gegen Schottland, spielten die Jungspunde um den draufgängerischen Ajax-Kapitän Rafael van der Vaart, heute 21, die Hauptrolle. Dessen Amsterdamer Teamkamerad Sneijder bereitete allein drei Tore vor und besorgte den Führungstreffer selbst. Der frühere Bondscoach Louis van Gaal, heute Sportdirektor bei Ajax, sprach von einem „Übergang in eine neue Periode“. (…) Der Generationswechsel im niederländischen Fußball scheint bereits vollzogen – auch wenn in Advocaats EM-Kader noch zwölf Spieler jener Mannschaft stehen, die bei der WM 1998 in Frankreich glänzte, aber im Halbfinale an Brasilien scheiterte. Das war die „Net-nietgeneratie“, sagt man, die Generation des „Gerade nicht“. Den Ton geben nun die neuen, unverbrauchten Idole an.“

Dick Advocaat ist eine Art Berti Vogts der Niederlande

Christian Eichler (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.) stellt zwei Holländer vor: „Der Trainer: Dick Advocaat ist eine Art Berti Vogts der Niederlande. Ein kleiner, zäher Kämpfer mit großem Fachwissen, aber ohne die Lockerheit und den weltmännischen Glanz, den das Medienpublikum sich wünscht. Doch nach dem Totalschaden, den Oranje durch das Scheitern in der WM-Qualifikation 2002 erlitten hatte, war er der beste Nachfolger für den arroganten Louis van Gaal. Er verkörperte, worauf es ankam in Hollands Fußball: Ärmel hochkrempeln, Hausaufgaben machen. Das haben sie geschafft. Nun braucht Advocaat eine gute EM und vor allem einen Sieg gegen Deutschland, um das alte Selbstvertrauen zurückzuholen. Der Star: Man glaubt es kaum, aber Ruud van Nistelrooy spielt in Portugal, wo er 28 wird, sein erstes großes Turnier. Bei der WM 1998 war er, als typischer Spätzünder, noch nicht in Reichweite des Nationalteams, bei der EM 2000 verletzt, die WM 2002 verpaßten die Holländer. Nun soll der Urknall passieren, und er könnte mächtig sein: Wenn es eine Verkörperung der Torgefahr gibt, der Explosivität im Strafraum und des unbezähmbaren Willens, den Ball ins Netz zu jagen – dann heißt sie van Nistelrooy.“

SZ-Interview (9.6.) mit Hans van Breukelen

SZ: Früher haben Sie die Deutschen gehasst, heute sagen Sie: „Unsere Nachbarn aus dem Osten sollten ein Vorbild für uns sein.“ Warum der Wandel?
HvB: Auch wenn viele Leute einen anderen Eindruck gewonnen haben: Ich habe die Deutschen nie gehasst.
SZ: Aber haben Sie im legendären Halbfinale 1988 gegen Deutschland nicht zu Lothar Matthäus gesagt: „Ich hoffe, dass du tierisch stirbst“?
HvB: Das stimmt, und ich bin nicht stolz darauf. Diese Worte sind jedoch im Feuer des Spiels gefallen, als wir 0:1 hinten lagen und die Emotionen überkochten. Wenn ich mir heute das Video des Spiels anschaue, ist es mir auch ziemlich unangenehm, wie ich mich dem Schiedsrichter gegenüber verhalten habe. Ich wollte damals unbedingt gewinnen, aber nicht aus Hass. Dann hätten die Fans von Feyenoord Rotterdam oder Ajax Amsterdam ebenfalls glauben müssen, dass ich ihre Klubs hasse, wenn ich mit dem PSV Eindhoven gegen sie gespielt habe. Da habe ich mich kaum anders verhalten.
SZ: War die Partie in Hamburg das intensivste Spiel Ihrer Karriere?
HvB: Ja, es ist eindeutig das Nummer-eins-Spiel.
SZ: Und das hatte nichts damit zu tun, dass es gegen Deutschland ging?
HvB: Doch, ich war 17 Jahre alt, als die holländische Nationalmannschaft 1974 das WM-Finale gegen Deutschland verlor. Wie alle hatte ich damals das Gefühl, dass die Niederlage nicht verdient war, weil wir den besten Fußball gespielt hatten. 1988 war es daher eine Motivation für mich, die Dinge endlich gerade rücken zu können. Aber es gab noch eine weitere: Die Goldene Generation um Johan Cruyff hatte uns ständig kritisiert, weil wir angeblich nicht die richtige Einstellung mitbringen würden. Wir wurden als Patat-Generation verspottet, als die Pommes-Generation, die nicht für den Sport lebt und nur Fastfood isst. Das hat mich total genervt, denn es war ungerecht. Um endlich die Kritik vom Hals zu kriegen, mussten wir „Die Mannschaft“ schlagen, den Alten war es schließlich nicht gelungen.
SZ: Warum hat gerade Ihr Team von 1988 den einzigen Titel gewonnen?
HvB: Wir hatten in Rinus Michel einen sehr guten Trainer, und wir hatten eine Mischung aus Klassespielern wie Ronald Koeman, Rijkaard, Gullit und van Basten mit echten Teamspielern, die sie noch besser machten. Michels hat immer gesagt, dass man zunächst eine Mannschaft braucht, dann können die Klassespieler für den Unterschied sorgen.
SZ: Das Primat der Mannschaft ist in Holland nicht immer beherzigt worden.
HvB: Richtig, die Deutschen sind dazu in der Lage, ein Team zu formen, und mir gefällt das sehr gut. Wir Holländer tun uns schwer damit, in unserer Fußballgeschichte hat es im Nationalteam immer wieder Probleme zwischen Spielern oder mit dem Trainer gegeben. Aber 1988 haben sich auch die großen Spieler gefügt. Außerdem waren wir taktisch gut, und wir hatten Glück. Die Engländer haben gegen uns zweimal den Pfosten getroffen, die Iren einmal und im Finale die Russen. Aber Marco van Basten hat immer gesagt: „Zuerst kommt die Klasse und dann das Glück.“
SZ: Zumindest gegen Deutschland brauchte Ihre Mannschaft kein Glück. Michels hat danach gesagt: „Nun kann das Gerede über 1974 aufhören.“ Er hat sich getäuscht. Warum wird immer noch darüber geredet, ist das nationale Trauma des verlorenen WM-Finales doch nicht bewältigt?
HvB: Für mich ist es das. Bis 1988 gab es das Trauma, aber danach war es für mich vorbei.
SZ: Als Sie mit Holland bei der WM 1990 erneut gegen Deutschland gespielt haben, gab es dennoch wieder ein ungemein überhitztes Spiel.
HvB: Obwohl es die gleichen Spieler waren, hatten wir damals eine andere Mannschaft. Leo Beenhaker war unser Trainer, obwohl 90 Prozent der Spieler lieber Cruyff gehabt hätten. Sie glaubten also nicht an den Coach, und einige haben sich über die Mannschaft gestellt. Für mich ist daher „90 das große Trauma, weil wir so gute Spieler hatten, aber nicht einmal die Hälfte der Qualität erreichten wie zwei Jahre vorher. Ich mache mir noch heute Vorwürfe, dass ich mit einigen anderen Spielern zusammen die Situation nicht geklärt habe.
SZ: Und diese Situation führte zum 1:2 im Achtelfinale gegen Deutschland?
HvB: Ja, nach den schlechten Leistungen in der Vorrunde war die Anspannung riesig. Wir hatten das Gefühl, mit einem Sieg alles noch rumreißen zu können. Die ersten 25 Minuten waren sogar unsere besten des Turniers, aber dann gab es den hässlichen Zwischenfall zwischen Rijkaard und Völler. Das Spucken passte überhaupt nicht zu Rijkaard, der ein wirklich höflicher und liebenswerter Mensch ist, es zeigte aber unsere ganze Frustration. Wenn das Team von damals sich heute trifft, sagen wir immer: Wir haben so viel Energie in die falschen Dinge gesteckt. Für die meisten von uns war die WM 1990 der Tiefpunkt unserer Karriere.

Für Niederländer der Prototyp des Deutschen nicht mehr der dicke Bayer im BMW, sondern der arbeitslose Skinhead

Simon Kuper (Zeit 9.6.) rollt Deutschlands Rivalität mit den Holländern historisch auf: „Die Geschichte des Fußballs würde ganz anders aussehen, wenn sie von Fußballern geschrieben würde. Die würden jedenfalls nie ein Forum über ein WM-Finale von vor dreißig Jahren organisieren, höchstens über das Bankett nach dem Wettkampf, zu dem die Frauen nicht eingeladen waren und auf dem Rep und Breitner die Blazer tauschten. Kann sich Hölzenbein überhaupt noch an den 7. Juli 1974 erinnern, oder haben die dreißig Jahre, in denen er darüber reden musste, die Erinnerung überlagert? Hat er den Moment noch im Kopf, in dem er sah, wie sich das erhobene Bein von Wim Jansen näherte, oder weiß er nur noch, was er immer wieder erzählt und im Fernsehen gesehen hat? „Ich kann mich nicht mehr richtig daran erinnern“, gesteht Hölzenbein. Das WM-Finale in seinem Kopf wurde von „dem WM-Finale“ ersetzt. Der Krieg machte Deutschland für die Niederländer zu einem besonderen Gegner. Umgekehrt galt das nicht, die Deutschen konnten ja nicht jedes Spiel als etwas Besonderes betrachten. Ob Rep damals den Deutschen gegenüber bestimmte Gefühle hatte? Rep: „Das Fahrrad, nicht wahr?“ Die Würdenträger lachen. Rep fährt fort: „Sie hätten unsere konfiszierten Fahrräder zurückgeben müssen. Aber sonst spielte der Krieg bei mir keine besondere Rolle. Aber andere in der Mannschaft wollten unbedingt gegen Deutschland gewinnen. Nach dem Finale gab es einige, die im Umkleideraum geheult haben.“ Aber ist denn im niederländischen Teamhotel in Hiltrup nie über den Krieg geredet worden? Rep: „Nie.“ Dabei hatte der Mittelfeldspieler Willem van Hanegem bei der britischen Bombardierung seines Dorfes am 11. September 1944 seinen Vater, seinen zehnjährigen Bruder und sechs weitere Verwandte verloren. Und der Vater des linken Verteidigers Ruud Krol war einer der wenigen Niederländer, die schon während des Krieges im Widerstand gearbeitet haben. Einmal hatte er dreizehn Juden gleichzeitig in einem Eckhaus in Amsterdam versteckt. In den achtziger Jahren erlebte der Krieg in den Niederlanden ein Revival. Der 5. Mai, der Tag der Befreiung, wurde als Nationalfeiertag nun jährlich gefeiert, und vierzig Jahre danach, 1985, erschienen etliche Bücher, die den Krieg als einen Kampf zwischen guten Niederländern und schlechten Deutschen darstellten. Bei der EM 1988, bei der die Mannschaft von Lothar Matthäus unverkennbar das Böse symbolisierte und das Orange von Gullit, Rijkaard und van Basten das Gute, erhielt der Fußball erstmals eine andere Bedeutung. An jenem Abend, an dem die Orangefarbenen im Halbfinale 2:1 gegen die BRD gewonnen hatten, feierten schätzungsweise neun Millionen Niederländer auch einen moralischen Sieg. Es sei die größte öffentliche Zusammenkunft seit der Befreiung gewesen, schrieben damals die niederländischen Zeitungen. Das ist sechzehn Jahre her. Während die Niederlande in den neunziger Jahren ihr eigenes Wirtschaftswunder erlebten, ging es in Deutschland einfach nicht weiter. Sodass für Niederländer der Prototyp des Deutschen inzwischen nicht mehr der dicke Bayer im neuesten BMW ist, sondern der arbeitslose Skinhead. Außerdem ist es schwer, den Deutschen noch moralische Vorwürfe zu machen, da die Niederlande jetzt auch eine rassistische Partei haben. Und der deutsche Fußball: Ach, dazu schweigen wir Niederländer besser.“

Lettlands Profis verdienen zusammen nicht soviel wie Michael Ballack allein

Christian Eichler (FAZ/Redaktionsbeilage 8.6.) beobachtet ehrgeizige Letten: „Früher wollten sich die Letten nie recht mit dem Fußball anfreunden, der als Spiel der russischen Machthaber galt. „Seit der EM-Qualifikation sind wir in allen Umfragen die Nummer eins“, sagt Mezeckis. Bei der WM 2002 verzichtete das lettische Fernsehen auf Übertragungen. Nun verspricht die EM 2004 Rekordquoten. Inzwischen kommen vermehrt lettische Kinder in die Klubs, die bisher vom russischsprachigen Drittel der Bevölkerung dominiert wurden. Mezeckis nennt es „die Zukunftsgeneration“. Im Nachwuchs wie im Nationalteam mische es sich „etwa fünfzig-fünfzig. Es zeigt die Demokratie des Fußballs.“ Gleich neben dem Mini-Büro des Funktionärs verrottet das alte Daugava-Stadion. Reich ist der Fußball nicht in Lettland: Die knapp hundert Profis im Land verdienen zusammen nicht soviel wie Michael Ballack allein. Doch das Klischee vom Außenseiter, der allein durch menschliche Werte dem materiellen Mangel den Erfolg abringt, ginge an der Realität vorbei. In den neunziger Jahren wurde mit Fußballschulen, 25 Kunstrasenplätzen, einem modernen Talentsichtungssystem und dem neuen Skonto-Stadion nebst überdachtem Fußballfeld die Grundlage geschaffen für den historischen Erfolg Euro 2004: Als erstes Land, das sich von russisch-sowjetischer Herrschaft löste, schaffte Lettland die Qualifikation für ein großes Fußballturnier – mit kapitalistischer Methodik. Lettland wird nicht zu unterschätzen sein, weil es die Chancen der Außenseiterrolle seit je gelernt hat, historisch, politisch, sportlich: den zähen, lästigen Widerstand, der aus Gleichheit, Gleichmut und Selbstorganisation kommt. Dazu gehört auch die Technik, sich kleinzureden, ohne sich klein zu fühlen.“

Wie spielt Lettland? Schnell. Clever. Attraktiv. Brasilien

Josef Kelnberger (SZ 9.6.) skizziert Lettlands Fußballwunder: „Dreitausend Fans, schätzungsweise, werden die lettische Mannschaft bei der EM begleiten. Der Bus-Trip wird gesponsert von heimischen Geschäftsleuten. Genügend Geld für eine Reise nach Südeuropa haben die wenigsten. Genau genommen sind sie ja nicht einmal Fußballfans, sondern in erster Linie: Sportfans. Seit Lettland 1991 die Unabhängigkeit wiedererlangte, gibt es eine reiselustige Vereinigung lettischer Sportfans. Sie unterstützten zunächst die Eishockey- und die Basketballmannschaft. Fußball interessierte nur am Rande. Janis Mezeckis, Generalsekretär des Fußballverbandes, stellte 1999 auf Anregung des aus England stammenden Nationaltrainers Gary Johnson Kontakt zu den Sportfans her. Der wollte Stimmung auf den Rängen. Die Sportfans stellten Bedingungen. Zum Beispiel forderten sie vom Fußballverband zwei neue Trommeln. „Okay“, sagte Johnson, „ich bezahle eine davon.“ Aus solchen Anfängen entstand das lettische Fußballwunder. Der Generalsekretär setzte alle Hebel in Bewegung, um Geld einzutreiben. Johnson überredete den lettischen Verbandspräsidenten Guntis Indriksons, Chef des Mischkonzerns Skonto und Präsident des gleichnamigen Klubs, zu einem Strategiewechsel. Der Oligarch wollte mit Skonto in die Champions League. Johnson überzeugte ihn, dass das nicht klappen würde: Allein mit der Nationalmannschaft könne Lettland, mit nur 2,4 Millionen Einwohnern und lediglich acht Erstligaklubs, international konkurrieren. Dazu müssten aber die besten Spieler in ausländischen Ligen lernen. Also vermittelte Johnson die Skonto-Spieler ins Ausland, vor allem nach England, als prominentesten Stürmer Marian Pahars nach Southampton. Bald war die Hälfte seines Kaders über Europa verstreut, das sollte sich rächen. Die Mannschaft verlor ihre Seele. 2001, nach einem 0:0 zu Hause gegen San Marino, musste Johnson nach zwei Jahren im Amt gehen. Es übernahm sein Assistent Aleksandrs Starkovs. Und der brachte die lettische Seele zurück. „The honour of the flag“, übersetzt der Pressesprecher aus dem Russischen, und Aleksandrs Starkovs nickt beim Interview in seinem Büro in Riga: Alles, was für ihn und die Mannschaft zähle, sei „die Ehre der Fahne“. Er könnte das auch selbst sagen, er kann Englisch, aber er will nicht missverstanden werden. Starkovs, 49, ist ein ebenso intelligenter wie zurückhaltender Mann. (…)Wie er das Spiel seiner Elf beschreiben würde? Für die Antwort braucht Starkovs keinen Übersetzer. Er sagt: „Schnell. Clever. Attraktiv. Brasilien.““

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