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Bei Anruf Tor

Oliver Fritsch | Mittwoch, 16. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Bei Anruf Tor

„Beckenbauers Schützling Rudi Völler nimmt gegen Holland eine Anleihe bei seinem Vorgänger“ (FTD) – „die Dänen fühlen sich gegen Italien zumindest als moralische Sieger“ (FAZ) / Italien spielt nicht gut, aber präsentiert „Freizeit-Kreationen von Dolce & Gabbana“ (Tsp) – Henrik Larssons erfolgreiches Comeback, „bei Anruf Tore – so einfach scheint es in Schweden zu funktionieren“ (FAZ) – Lettland im Pech u.v.m.

Holland-Deutschland 1:1

Sechs Feldspieler hinten, nur vier vorne und ansonsten ein Stoßgebet in Richtung Fußballgott

Tim Bartz (FTD 16.6.) erkennt Parallelen zur WM 1990: „Groß war der Aufschrei, als die Mannschaftsaufstellung bekannt wurde kurz vor Spielbeginn. Angesichts der geballten Offensivkraft der schier übermächtigen Niederländer hatte der deutsche Teamchef einen offensiven Spieler geopfert zu Gunsten eines zusätzlichen Zerstörers. Von Feigheit vor dem Gegner war die Rede und davon, dass sich das System einer selbstbewussten Mannschaft niemals nach dem Kontrahenten richten dürfe. Am Ende aber mussten die Kritiker klein beigeben: Deutschland schlug den Erzrivalen verdient mit 2:1, zog ins Viertelfinale der Weltmeisterschaft 1990 ein und gewann zwei Wochen später den Titel zum dritten Mal. Teamchef Franz Beckenbauer hatte goldrichtig gelegen, als er den bis dato unumstrittenen Uwe Bein auf die Bank beorderte, den Sperrgürtel um das deutsche Tor mit Jürgen Kohler auf sechs Defensive verstärkte und lediglich vier Offensivspieler auf den Rasen des Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadions schickte. Beckenbauers damaliger Schützling Rudi Völler nahm im Auftaktspiel der deutschen Elf gegen den gleichen Gegner wie 1990 eine Anleihe bei seinem Vorgänger im Amt des DFB-Teamchefs. Wie sein erfolgreicher Lehrmeister verzichtete er auf eine Offensivkraft – Kevin Kuranyi musste zunächst ohne Sturmpartner beginnen. Mit dem Bremer Frank Baumann bot Völler einen zusätzlichen defensiven Mittelfeldspieler auf, um den Angriffswirbel der Oranjes zu bändigen. Alles also wie weiland in Mailand: Sechs Feldspieler hinten, nur vier vorne und ansonsten ein Stoßgebet in Richtung Fußballgott, das seine gegen europäische Branchengrößen notorisch erfolglosen Kicker beflügeln sollte. Und immerhin: Dank Völlers Draht in den Himmel und Beckenbauers Schema von einst erkämpfte Deutschland in seinem ersten Spiel bei dieser EM im Estádio do Dragão zu Porto ein 1:1.“

Der Spott der Medien ist an der DFB-Auswahl ohne grosse Schäden abgeblättert

Felix Reidhaar (NZZ 16.6.) ist überrascht vom Auftreten der Deutschen: „Der beissende Spott, mit dem die deutschen Medien den WM-Zweiten grossmehrheitlich auf der Reise an die Algarve eingedeckt hatten, ist an der DFB-Auswahl ohne grosse Schäden abgeblättert. Sie trat unberührt von dieser Geringschätzung zu dem als Showdown in dieser stark besetzten Gruppe angekündigten Rivalenderby gegen die Holländer an und spielte von allem Anfang an ihre Stärken aus: gut organisiert, ausgeglichen besetzt, diszipliniert im Zweikampfverhalten und jederzeit – auf dieser Basis – sehr wirkungsvoll ausgerichtet. Dass die Deutschen in diesem mit viel Prestige und etwas Unverträglichkeit verbundenen Duell schliesslich doch nicht als Gewinner hervortraten, war auf den energischen Schlussspurt der bis dahin eher enttäuschenden Holländer zurückzuführen. Dem Oranje-Team schmeichelte der späte Punktgewinn, obwohl Kahn in den letzten Minuten noch zu erhöhter Aufmerksamkeit gefordert war. Aber das Team Völlers hatte gesamthaft und mit Ausnahme der Konzentrationsmängel gegen Schluss überzeugender gespielt, die harmonischere Einheit gebildet und mehr Offensivkraft gebildet. Es war die positive Überraschung in diesem abwechslungsreichen und in hohem Rhythmus geführten Match.“

Beckenbauer zerschneidet Schokoladenorange

Michael Walker (The Guardian 15.6.) über den ungeliebten Dick Advocaat: „Holland scheint unbedingt seinen Ruf bestätigen zu wollen: Halbiert wie eine Schokoladenorange, bekommt Trainer Dick Advocaat von jedem seine Brustwarzen herumgedreht – angefangen von Johann Cruyff bis zum Trainerstab von Ajax. Keiner von Ihnen ist überzeugt, das Advocaat der richtige Mann ist, um das Beste aus einer mit natürlichem Talent gesegneten Truppe herauszuholen. Die Debatte über Hollands produktivste Aufstellung zieht sich ähnlich lange wie die über Englands. Sogar Franz Beckenbauer bringt seine Meinung ein in die Diskussion, wie die Holländer spielen sollten. Er hält eine Spitze, Ruud van Nistelrooy, für zu wenig.“

morgen mehr über Holland-Deutschland

Tschechien-Lettland 2:1

Martin Hägele (NZZ 16.6.) hätte Lettland den Erfolg gegönnt: „Auf der Website der Uefa EURO 2004 lassen sich über alle Mannschaften des Turniers Geschichten finden, die sich alle wie eine Mischung aus Fussball-Latein und Märchen lesen. In der aktuellen Tagesgeschichte über den sechzehnten und einzig geheimnisvollen EM-Teilnehmer Lettland kam beispielsweise der Ersatzspieler Dzintars Zirnis zu Wort. Er habe den Kumpels daheim versprochen, „dass wir die Vorrunde überstehen“, so der Mittelfeldspieler von Metalurgs Liepaja. Und Maris (Werpakowskis mit Nachnamen, dessen Treffer im Barrage-Match in Istanbul für die kleine Nation das Tor ins grosse Fussball-Europa aufgestossen hatte) habe zwar nicht versprochen, Tore zu erzielen, „doch wir alle glauben daran, dass er in Portugal treffen wird“. Es war 17.46 Uhr Ortszeit im Stadion von Aveiro, als der zweite märchenhafte Wunsch Gestalt annahm – und nicht einmal alle bemerkten es. Pavel Nedved, Europas Fussballer des Jahres, war gerade damit beschäftigt, den jungen Kollegen Milan Baros wieder einzubeziehen ins gemeinsame und nationale Vorhaben. Der Nachwuchs-Star vom FC Liverpool hatte sich gerade in einem Dribbling über 80 Meter gegen fünf Letten verzettelt und dabei geflissentlich den Chef Pavel übersehen. Der Disput währte nur Sekunden, da konnten sich die zwei schon über die Folgen des Eigensinns unterhalten: Ein Solo am linken Flügel durch Prohorenkows, eine perfekte Vorlage mitten hinein in eine desorientierte Abwehr, und sein Freund Werpakowskis hatte problemlos die sensationelle Pausenführung erzielt. Und der ganze Angriff hatte höchstens ein Zehntel jener Zeit gedauert, die man braucht, um die Namen der Beteiligten bzw. deren fast arktisch klingenden Heimatstädte und Arbeitgeber aufzuschreiben. Die Website-Bekanntschaft Zirnis wird wahrscheinlich früher wieder bei den Halbprofis von Metalurgs Liepaja sein, als er denen angekündigt hat. Er wird allerdings erzählen können, dass nicht viel gefehlt hat, und die Party zum 50. Geburtstag der Europäischen Fussballunion wäre nahtlos in den ersten baltischen Sport-Feiertag übergegangen. Er wird auch von den Komplimenten des Publikums berichten und wie stolz sie alle waren über ihre EM-Premiere.“

Italien-Dänemark 0:0

Die Dänen fühlten sich nach dem Abpfiff zumindest als moralische Sieger

Italiener leben und fühlen nach anderen Fußball-Werten, meint Peter Heß (FAZ 16.6.): „Wenn in Deutschland ein Spiel torlos endet, wird das fast immer mit Scheitern gleichgesetzt. Dann werden die Spieler gleich mit zu Nullen, die das Publikum auf eine Nulldiät setzten. Im italienischen Fußball haben sie ein anderes, ein besseres Verhältnis zur Null. Im Land, in dem die Verteidigung als edle Kunst verehrt wird, seitdem in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Trainer Helenio Herrera mit Inter Mailand durch seinen Catenaccio-Abwehrriegel Europapokaltriumphe feierte, gilt ein 0:0 als der beste Ersatz für einen Sieg. Und so nahmen Nationaltrainer Giovanni Trapattoni, seine Spieler und sogar die Medien den torlosen Start gegen Außenseiter Dänemark für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich gelassen und wohlwollend hin. „Wir werden aus diesem Spiel physisch und mental gestärkt herauskommen“, versprach Trapattoni am Montag abend. Und die Zuhörer nahmen es für bare Münze. Eine Steigerung wird auch nötig sein, um gegen Schweden bestehen zu können. Italien darf dann nicht mit der großen Hitze als Verbündetem rechnen. Die Dänen bewiesen bei 34 Grad Celsius in Guimarães, daß auch Nordeuropäer die Sonne lieben – und das sogar beim Fußballspielen. In der ersten Halbzeit liefen sie den pomadigen Italienern bei fast jeder Gelegenheit davon, in der zweiten Halbzeit beliebten die Stars aus Südeuropa ihrerseits ein paar Tropfen Schweiß zu vergießen und gestalteten die Begegnung ausgeglichen. Erst danach klagten sie wieder übers Wetter (…) Die Dänen fühlten sich nach dem Abpfiff zumindest als moralische Sieger. Mit ihrem Kurzpaßspiel hatten sie weitgehend die Begegnung kontrolliert. Dank der hohen Laufbereitschaft jedes einzelnen stand immer ein Däne frei für ein Zuspiel. Keiner versteckte sich vor der Verantwortung, den Ball zu führen und zu verteidigen. Aus dem überzeugenden Kollektiv ragte einer heraus: Innenverteidiger Martin Laursen beherrschte den italienischen Elitesturm mit Vieri und Del Piero so sicher, daß man mit ihm als Hauptdarsteller einen Lehrfilm über modernes, intelligentes und faires Verteidigungsspiel hätte drehen können.“

Wir haben ein vertikales Spiel

Raphael Honigstein (SZ 16.6.) decodiert Giovanni Trapattonis Analyse: „Trapattoni hat, immer noch, „immer die Schulde. Unser Mittelfeld konnte keinen Druck ausüben, die Hitze hat nicht geholfen“, sagt der Mister mit weitgreifenden Bewegungen, „wir haben ein vertikales Spiel gespielt, die Bälle nicht zu den Angreifern gebracht. Man kann nicht von Totti verlangen, dass er alleine für die Offensive zuständig ist.“ Ein vertikales Spiel? Der Übersetzer schaut ratlos in die Runde. Weil Italien zwischen der nicht immer soliden Abwehr und dem in der Luft schwebenden Sturm keine Akzente setzen konnte, sollen die Milanisti Andrea Pirlo und „Rino“ Gattuso die saftlose Zentrale aufpäppeln. Die Presse will auch den genialischen Rowdy Antonio Cassano in den Sturm schreiben, obwohl der seinen Mitspielern gerne Salz in den Espresso kippt. Insgesamt müssen, das weiß auch der Mister, „alle einfach alles besser machen“; dass die gewieften Schweden aus Angst vor den Helden der Serie A auseinanderklappen wie ein Ikea-Regal nach Ablauf der Garantiefrist, ist nicht anzunehmen. Als Giovanni Trapattoni seine langen, nicht immer kohärenten Ausführen beendet hat, zuckt man kollektiv mit den Achseln. Überzeugt, dass es besser wird, ist so richtig niemand. „Was passiert, wen ihr gegen uns verliert?“, fragt ein Schwede seinen italienischen Kollegen. Der schüttelt nachdenklich den Kopf. Nur gut, dass es in der Casa Azzurri keine Rauchmelder an der Zeltdecke gibt – so wie hier die Lunte brennt, würde die Löschanlage garantiert den schönen Teppich ruinieren.“

Freizeit-Kreationen von Dolce & Gabbana

Haute couture ist etwas anderes. Martin Hägele (Tsp 16.6.): „Die Fußball-Delegation aus Italien präsentiert einen anderen Stil und eine andere Mode. Als sei der Rasen des Stadions von Guimaraes auch ein Laufsteg für die neuesten Freizeit-Kreationen von Dolce & Gabbana: bei der halben Mannschaft flatterten die Trikots wie T-Shirts über der Hose. Francesco Totti und Mauro Camoranesi fielen allenfalls durch die extravaganten Zöpfe auf. Diese Äußerlichkeiten haben wohl auch mit dem mediterranen Lebensstil zu tun, gerade im Kontrast zu den nüchternen skandinavischen Athleten.“

Bulgarien-Schweden 0:5

Bei Anruf Tore – so einfach scheint es in Schweden zu funktionieren

Henrik Larsson schießt zwei Tore und beglückt Schweden und Thomas Klemm (FAZ 16.6.): „Schöner kann ein Comeback kaum sein, erst recht nicht, wenn die Mannschaft erstmals seit der WM 1958 bei einem großen Turnier ihr Auftaktspiel gewinnen konnte. Doch der Glatzkopf, der seinen Dickschädel auf Wunsch eines ganzen Volkes erweichen ließ, hatte nach seinem Auftritt anderes im Sinn als Selbstlob. „Das war nur ein Spiel, es ist noch ein langer Weg“, sagte Larsson, „aber ich hoffe, mein Sohn war zufrieden.“ Larssons Sohn heißt Jordan, ist acht Jahre alt und der Grund dafür, warum sich der Papa erst aus dem Nationalteam zurückzog und anschließend zurückkehrte. Vor zwei Jahren wollte sich der Stürmer, der nach sieben Jahren bei Celtic Glasgow auf neue Herausforderungen wartet, mehr der Familie widmen. Doch am Jahresanfang begann das Bitten des Sohnes und das Flehen eines ganzen Landes, das ihn wieder ins Grübeln brachte. Vor allem die Boulevardzeitung „Aftonbladet“ mobilisierte ihre Leser, den populären Stürmer zum Comeback zu bewegen. 115 000 Bürger, darunter Regierungsvertreter und Lennart Johansson, der Präsident der Uefa, setzten ihre Unterschrift unter das Fußball-Volksbegehren. Doch erst vor knapp zwei Monaten gab Larsson dem schwedischen Trainergespann Lars Lagerbäck und Tommy Söderberg telefonisch sein Jawort. Ein Land jubelteAls die Nationalmannschaft Ende April von einem Testspiel aus Portugal zurückkehrte und in Frankfurt auf den Anschlußflug wartete, meldete sich Henrik Larsson endlich fernmündlich. Bei Anruf Tore – so einfach scheint es in Schweden zu funktionieren. Wie andere Leute telefonisch eine Pizza ordern, bestellte eine torhungrige Nation Erfolgserlebnisse.“

Ralf Itzel (FR 16.6.) lernt schon mal Schwedisch: „“Etta I kvalen. Nu nár vi finalen!“ Das ist schwedisch und bedeutet: „Wir haben die Qualifikation gewonnen. Wir sehen uns im Finale!“ Der Spruch prangt auf dem Mannschaftsbus der Skandinavier, und als sie am Montagabend gegen 23 Uhr am Estadio Jose Alvalade in Lissabon wieder einstiegen, schien es gar nicht mehr so unmöglich, dass auch der zweite Teil des Slogans in Erfüllung geht.“

Das ganze Land hat eine Gänsehaut bekommen

Im Tagesspiegel (16.6.) lesen wir: „Es war ein klarer Fall von Kompetenzüberschreitung, der letztlich dazu führte, dass sich Bulgariens Auftaktspiel zu einer nationalen Tragödie auswuchs. Denn eigentlich hätte Henrik Larsson gar nicht auf dem Platz stehen dürfen. Er hätte in der Sonne liegen, mit seinem Sohn spielen oder sonst was tun können, aber nicht zwei Tore schießen sollen. (…) Die Reaktionen der Menschen ließen die Vermutung aufkommen, Schweden habe den Titel bereits gewonnen. „Das ganze Land hat eine Gänsehaut bekommen“, sagte Nationaltrainer Tommy Söderberg. Mit Larsson, behauptet er, sei das Team nun „um 30 Prozent stärker“. Auch der Protagonist zweifelt nicht an seinem Entschluss: „Es war richtig, zurückzutreten, und es ist nun richtig, wieder zurückzukommen.“ Denn Larsson glaubt, dass ihn die Nationalmannschaftspause sogar noch besser gemacht hat. „In den Jahren, in denen ich nicht für Schweden gespielt habe, konnte ich im Verein auf europäischer Ebene Erfahrung sammeln“, sagt er. „Die Zeit, in der ich nicht international im Einsatz war, hat meine Karriere verlängert.““

Frankreich-England 2:1

Zidane zerschlägt England

Henry Winter (Telegraph 14.6.) schildert seine Anspannung: „Wie grausam, wie brutal, wie unfair! Gerade als England dachte, seine mutige Verteidigung und Frank Lampards schöner Kopfball hätten einen glorreichen Tag gebracht, schoss Zinedine Zidane zwei erstaunlich späte Tore und schickte England auf die Knie und David Beckham mit Tränen vom Feld. Beckham und sein Team waren durch Anfängerfehler im Stadion des Lichts in die Dunkelheit geraten. Eine bittere Enttäuschung nach so flinkem Widerstand im Angesicht der offensichtlichen technischen Klasse Frankreichs. (…) Abgesehen von den verblüfften französischen Rängen, rollte wilder Jubel rollte durch das Stadion des Lichts. Spieler umarmten sich, genossen den Moment als Frankreichs Lauf von 17 Stunden ohne Gegentor gestoppt wurde. Das Gelächter auf Kosten der Franzosen begann: „Seit ihr verkleidete Schotten?““

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