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Strafstoß #6 – Reine Nervensache – Das ideale 2:1

Oliver Fritsch | Freitag, 18. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Strafstoß #6 – Reine Nervensache – Das ideale 2:1

von Herrn Bieber und Herrn Mertens

Mathias Mertens: Wenn Sie ein Tor wären, Herr Bieber, welches wären Sie?

Christoph Bieber: Was meinen Sie genau, Herr Mertens, ein *konkretes* Tor oder lediglich eine bestimmte Art von Tor?

MM: Sie Tor! (kleiner Scherz)

CB: Darauf habe ich nur gewartet. Leider bringt mich dieser *falsche Einwurf* nicht wirklich weiter. Also: konkretes Tor oder Torgenre?

MM: Ein Torgenre wäre O.K., wenn auch fast zu wenig. Auf jeden Fall gehört ein wenig Erläuterung dazu. Das historische, konkrete Tor bietet natürlich mehr Spielraum zur persönlichen Anbindung.

CB: Hm, Sie lavieren im abgesicherten Mittelfeld, gerade so wie die unentschlossenen Franzosen eben gegen Kroatien. Es gibt doch so viele Tore. Auch wenn es immer wieder heißt, dass die Spiele heute vor allem von der Defensive geprägt werden und in der Offensive nicht mehr viel passiert. Tore sind das, was kleben bleibt. Ein klebriges Tor wäre man also… Was bedeutet es eigentlich, ein Tor zu sein, sich damit zu identifizieren? Worauf wollen sie mit der Frage hinaus, glauben Sie, damit in die Tiefe der Persönlichkeit einzudringen – etwa so, wie der Therapeut in der Premiere-Werbung mit Marcel Reif, der x-beliebige Tintenkleckse als Spielszenen bekannter Fußball-Matches interpretiert? Würde nicht jeder irgendein Supertor sein wollen, ein Fallrückzieher von Klaus Fischer, ein 30-Meter-Freistoß von Rainer Bonhof oder ein Dribbling von Ronaldo? Würde das den Erkenntnisgewinn nicht massiv beeinträchtigen?

MM: Sie, Herr Bieber, spielen aber einen ausgeprägten Catenaccio. Das sind doch schon relativ konkrete Tore. Interessant ist aber nicht ihre defensive Taktik, sondern die Auswahl ihrer Torschützen. Vielleicht wollen Sie ja gar kein Tor sein, sondern Rainer Bonhof. Wollen Sie das wirklich? Wahrscheinlich doch eher der Freistoß, oder?

CB: Clever, Herr Mertens, allerdings spiele ich keinen Catenaccio (obwohl ich die Arbeit von Giovanni Trappatoni sehr schätze), meine Torauswahl war natürlich eine Finte! Selbstverständlich möchte ich weder Klaus Fischer, noch Rainer Bonhof oder gar Ronaldo sein. Es scheint mir nämlich so, dass bei der Wahl eines konkreten Tors immer auch der Identifikationswunsch mit dem Schützen (oder der Schützin – ein interessanter Gedanke) mitspielt. Aber darum geht es ja wohl gerade nicht. Also entscheide ich mich zunächst einmal für das Torgenre – was haben wir denn da: Traumtore, erzwungene Tore, kuriose Tore, herausgespielte Tore, Abseitstore, goldene Tore, Tore des Monats, Tore aus dem Nichts, Eigentore…

MM: Sie antworten mich ganz schwindlig.

CB: Da muss ich wohl aufpassen, dass ich mich nicht auf dem sprichwörtlichen Bierdeckel festdenke… Vielleicht ist es bei den Torgenres so ähnlich wie in der Literatur – dort gibt es Romane und Kurzgeschichten, Gedichte und Briefe, Dramen und Erzählungen. Aber auch das Kino könnte eine gute Eselsbrücke sein: Meine Favoriten sind immer die Filme, die nicht linear verlaufen, deren Handlung verschachtelt ist und erst das Ende eine Auflösung bringt (oder auch nicht). Demnach müsste ich ein Tor sein wollen, dem man seine Entstehung nicht unbedingt ansieht…

MM: Jetzt bin ich aber gespannt. Welchem Tor sieht man denn seine Entstehung nicht an? Dem Freistoß von Frings im Holland-Spiel? Dem in eine Flanke stolpernden und dadurch einen Flugkopfball verursachenden Schiedsrichter? Einem Anstoß auf den Faröer-Inseln bei widrigsten Wetterbedingungen, deren Windböen den Ball vom Boden heben und ihn in erratischen Schlangenlinien durch den gegnerischen Strafraum tragen, aufs Nasenbein des Torwarts schleudern, von wo aus er gegen die Latte prallt, direkt auf die Linie aufsetzt und dann durch den sich vor Schmerz windenden Torwart auf dem Boden hinter die Linie geschoben wird?

CB: Na, nun übertreiben sie aber ein wenig, Herr Kern…, äh, Herr Mertens. Auf jeden Fall ein eher kompliziertes Tor (womit der der 30-Meter-Freistoß von Rainer Bonhof wohl ausscheidet). Ich glaube, die Situation, die zum Tor führt, ist eher ein unübersichtliches Gewusel, nicht eine mutwillig herbeigeführte Rasenschachaktion aus dem Systemspiel von, nun ja, Ajax Amsterdam, AC Mailand oder der Equipe Tricolore. Aber ich rede hier auch nicht von einem Abstaubertor à la Gerd Müller, der ja bekanntlich aus allen Lagen heraus erfolgreich sein konnte. Das Tor sollte schon zwingend herbei geführt werden, aber eben auf möglichst unvorhersehbaren Umwegen – würde Quentin Tarantino die Mannschaft trainieren, die das Tor schießt, wäre der Torschütze bereits ausgewechselt worden.

MM: Das hieße, einer der beiden Innenverteidiger ist bereits angeschossen und verletzt aus dem Spiel genommen worden, bringt aber seinen sich weiter auf dem Platz befindlichen Partner durch ein intensives freundschaftliches Zurufen von der Bank aus dazu, sich nicht aufzugeben und stachelt diesen zu einer Aktion an, die einen Torerfolg einleitet. Wäre das ungefähr „the Pulp-Fiction-Way-of-Scoring“?

CB: Ja, so könnte es gehen, nun habe ich eine Idee von „meinem Tor“ – wir schreiben die 78. Minute, es handelt sich also nicht um ein frühes Tor, aber auch nicht um einen erlösenden Treffer in der Nachspielzeit. Es muss danach noch genügend Zeit für einen ordentlichen Abspann des Spieles sein (schließlich muss auch der angeschossene Innenverteidiger noch ausreichend gewürdigt werden).Doch welche Tore fallen in der 78. Minute? Das Spiel wogt hin und her (wir wissen ja noch nicht, wie es ausgeht) und aus dem Mittelfeld gelangt der Ball irgendwie in Strafraumnähe (aus der Tiefe des Raumes, aber ohne Zutun der Herren Netzer, Overath, Bein et al.). Dort greift sich ein kreativer Spieler (kein Stürmer!) den Ball, schlägt ein oder zwei Haken und hält drauf. Der Ball wird abgefälscht, aber nicht so, dass der Torwart völlig von der Richtungsänderung überrascht wird. Er könnte den Ball noch abwehren, wenn er nicht technisch sauber und irgendwie präzise in Richtung Tor geschlagen worden wäre. Ich glaube, die Beschreibung passt schon einigermaßen auf das „Golden Goal“ von Oliver Bierhoff 1996, aber das wollte ich auf keinen Fall sein – das ist mir viel zu prätentiös und außerdem mit zuviel Hektik und Brechstangenanteilen erzielt. Mein Tor sollte ein Spieler erzielen, der eine unaufgeregte Coolness und Eleganz mitbringt, die meinem Tor die nötige Würde verleihen.

MM: Jetzt sagen Sie bloß nicht Snotti Totti!

CB: Das italienische Lama? Wo denken Sie hin! Ich meine Mehmet Scholl. Das einzige Problem dabei ist nur, dass seine Tore zwar Spiele entscheiden können – doch was nützt schon das ideale 2-1 am 14. Spieltag einer mittelmäßigen Saison, wenn im Champions-League-Endspiel ein Elfmeter verschossen wird… aber genau darum geht es – sie haben mich ja schließlich nur nach einem Tor gefragt und das ist, wenn der Schiedsrichter pfeift.

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