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Tendenziell rotziges Selbstbewusstsein

Oliver Fritsch | Samstag, 19. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Tendenziell rotziges Selbstbewusstsein

„es gibt viele junge Fußballer, die man sieht und denkt, der könnte mal einer werden – und es gibt einige wenige wie Wayne Rooney, die man zum ersten Mal sieht und das nie vergisst“ (SZ) / „mit Robustheit, Entschlossenheit, Kampfkraft und einem tendenziell rotzigen Selbstbewusstsein ausgestattet, zeigt Rooney auf dem Spielfeld große Präsenz“ (taz) – „die Franzosen stecken in der Krise“ (SZ) – die Strategie von Portugals Trainer Felipe Scolari scheint endlich aufzugehen (BLZ)

Es wäre traurig, aber leider nicht verwunderlich, wenn sein Körper schon mit Mitte Zwanzig dem Profisport nicht mehr gewachsen ist

Ronald Reng (SZ 19.6.) verbeugt sich vor Roonaldo: „Wayne Rooney sah aus, als sei er sehr zornig. Er riss die gelbe Eckfahne aus dem Boden und warf sie auf den Fußballplatz, er trat ein Fernsehmikrophon um, das am Spielfeldrand stand, und stampfte weiter mit schwingenden Schultern, der ganze Körper bebend vor Aggression. Er hatte gerade sein erstes Tor bei der EM geschossen. Vielleicht ist in ihm beim Fußballspielen nur Wut, weshalb er auch in den schönsten Momenten nichts anderes zeigen kann; vielleicht war er nicht mehr in der Lage zu verarbeiten, was er gerade angerichtet hatte, und seine Gefühle gerieten völlig durcheinander. Vielleicht war es auch so: Rooney, der mit Worten weit weniger gut als mit dem Fußball umgeht, konnte seinen Torzorn nicht erklären, der ihn am Donnerstag nach seinen zwei Volltreffern beim 3:0-Sieg der englischen Nationalelf über die Schweiz ritt. Die einmalige Art, seine Tore zu feiern, verstärkte nur den Eindruck, dass sich in Coimbra ein Fußballer offenbarte, wie es ihn noch nicht gegeben hat. Mit 18 Jahren und sieben Monaten wurde Rooney der jüngste Spieler, der je bei einer Europameisterschaft ein Tor erzielte. Es gibt viele junge Fußballer, die man sieht und denkt, der könnte mal einer werden – und es gibt einige wenige, die man zum ersten Mal sieht und das nie vergisst. So ging es jenen, die das Glück hatten, im Oktober 2002 das Spiel der ersten englischen Liga zwischen dem FC Everton und Arsenal London zu sehen, als ein 16-Jähriger mit einem Wochengehalt von 80 Pfund, dessen Kinderzimmer zu Hause noch voller Everton-Poster hing, in seinem erstes Profi-Match mit einem Schuss aus 25 Metern Arsenals Serie von 30 Spielen ohne Niederlage beendete. Aber Stars gebären kann nur eine Welt- oder Europameisterschaft, wenn viele Millionen zuschauen. (…) Rooney kommt aus einem Reihenhaus in Croxteth. Die Geschäfte, die es in dem Nord-Liverpooler Stadtteil gibt, sind: Wettläden, Fastfoodshops, Getränkemärkte. Viele Häuser haben Bretter vor den Fenstern. Liverpool erlebt gerade eine Renaissance, aber hier ist die Depression der achtziger Jahre nie zu Ende gegangen. Vor ein paar Monaten ist er auf Drängen seines Klubs in eine reiche Gegend gezogen. Evertons Trainer David Moyes hat ihm eine Köchin ins Haus geschickt. Aber es ist fraglich, ob sie jetzt, mit fast 19, Croxteth noch aus ihm herausbekommen. Er hat sich immer nur von Junk Food ernährt, Alkohol früh kennen gelernt, es wäre traurig, aber leider nicht verwunderlich, wenn sein Körper schon mit Mitte Zwanzig dem Profisport nicht mehr gewachsen ist. „Als ich begann, in der Premier League zu spielen, bin ich nach den Spielen nach Hause gegangen und habe mit meinen Kumpels auf der Straße gekickt.“ Er redet im breitesten Scouse, dem Liverpooler Akzent, in dem „my house“ etwa „me house“ heißt. Es klang bedauernd, dass er nun in „mir schicken Haus“ wohnen muss, so weit weg von den Freunden im Arbeiterklasseviertel. Bloß im Stadion lebt er immer noch wie in Croxteth auf der Straße: Wenn dich einer schlägt, schlag zurück. Im nächsten Spiel am Montag gegen Kroatien ist er wegen zwei Gelben Karten nach zwei wilden Tacklings gesperrt. „Mein Temperament ist ein wichtiger Teil meines Spiels“, sagt er. Sein Torjubel macht allerdings sogar den Mitspielern Angst: Nach seinem zweiten Treffer in Coimbra rannten David Beckham und Darius Vassell auf ihn zu – und entschieden, als sie den zornig stampfenden Kollegen sahen, dann doch lieber nur einander zu umarmen statt Rooney.“

Auch Matti Lieske (taz 19.6.) bewundert Wayne Rooney: „Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1958 tauchte völlig aus dem Nichts ein 17-Jähriger namens Pelé auf und schoss Brasilien zum Titel. 1980 in Italien führte ein international ziemlich unbekannter blonder Jüngling das deutsche Team fast im Alleingang zum EM-Gewinn. Fortan war Bernd Schuster ein Weltstar, und der FC Barcelona sicherte sich seine Dienste. 1984 war es der Belgier Enzo Scifo, der, zuvor nur wenigen bekannt, in Frankreich für Furore sorgte. Solche Überraschungen gibt es heute nicht mehr. Die jungen Supertalente sind früh gesichtet, allgemein bekannt, längst bei großen Klubs unter Vertrag oder bei U20- und U21-Meisterschaften im Rampenlicht. Sogar ein 14-Jähriger wie Freddie Adu schießt seine Tore schon in der Major League Soccer für Washington und steht unter ständiger Beobachtung, der 19-jährige Portugiese Cristiano Ronaldo stürmte in der Champions League für Manchester United. Und auch Wayne Rooney vom FC Everton ist fast schon ein alter Bekannter. (…) Mit Robustheit, Entschlossenheit, Kampfkraft und einem tendenziell rotzigen Selbstbewusstsein ausgestattet, zeigt Rooney auf dem Spielfeld große Präsenz und wirkt keineswegs wie ein 18-Jähriger. Erst wenn er in der Pressekonferenz Auskunft über seine Errungenschaften geben soll, scheint der Teenager ein wenig durch. Aber auch hier schlägt er sich gut. Im schönsten Liverpudlian-Slang gibt der vierschrötige Jüngling, der in jedem Sozialdrama von Ken Loach eine tragende Rolle spielen könnte, knappe Statements von sich. „Wir haben ganz gut gespielt, aber wir hätten noch besser spielen können“, analysiert er die über weite Strecken recht lethargische Partie seines Teams, sein zweites Tor bezeichnet er nach einigem Nachdenken als das wichtigste seiner bisherigen Karriere: „Bis dahin waren die Schweizer noch im Spiel, das hat sie gekillt.““

Jenni Zylka (taz 19.6.) legt nach: „Genau so sollten Engländer aussehen – und auch spielen: Rooney steht meistens nur rum, und hin und wieder bewegt er seinen babyspeckigen Engländerleib und ballert einen ins Tor. Zwischen den Spielen geht er ein paar Liter dunkles, dickflüssiges Ale trinken, denn davon ist er bereits mit der Muttermilch abhängig geworden (was bei ihm noch nicht so lange her ist), und den Rest der Zeit ruft er „Bingo!“ oder was Engländer sonst so rufen. Rooney, der zu Hause Roonaldo genannt wird, bildet außerdem ein schönes Gegenstück zu Becks. Der übrigens, und dafür tut er mir Leid, in seiner Heimat minütlich zu allen Themen dieser Erde nach seiner Meinung gefragt wird und dessen dünnes Jungenstimmchen beim Antworten gar nicht mehr gehört wird.“

Sáez‘ Offensivfußball beruft sich auf zwei Dogmen: zuerst die Kraft, dann die Qualität

Ronald Reng (FR 19.6.) fürchtet, dass Spanien mal wieder früh ausscheidet: „Raúl Gonzalez und Fernando Morientes hatten einen Riesenspaß dabei, eine Chance nach der anderen geradezu dilettantisch zu verschwenden. Raúl nahm sich schon wieder den Ball, Morientes hatte mitgezählt, sechs vergebliche Versuche lagen schon hinter dem Kapitän der spanischen Nationalelf, er zielte, „sieben!“, rief sein Sturmpartner Morientes, und sie lachten gemeinsam über ihr Unvermögen. Sie spielten nur ein wenig Basketball, vergangene Woche am Ende eines Trainings im Quartier der Spanier in Falperra, in den Bergen Nordportugals. Inzwischen ist die Sache ein klein wenig ernster. Wenn sich die spanische Elf am Sonntag im abschließenden Vorrundenspiel in Lissabon mit Portugal vergleicht, sorgen sich mittlerweile die Mehrheit und der Cheftrainer einer fußballverrückten Nation um die Trefferquote ihrer Stürmer. „Uns fehlt die Leichtigkeit des Toreschießens“, klagt Nationaltrainer Iñaki Sáez. (…) Allein, sein Land schaut weiter zurück, auf all die Welt- und Europameisterschaften, die voller Beispiele spanischer Tragik sind, etwa das Aus bei der EM 2000 im Viertelfinale gegen Frankreich, als Raúl in letzter Spielminute einen Elfmeter neben das Tor setzte. Die Kraft der Geschichte wiegt schwer. In der Ahnung, dass es kommen wird, wie es immer gekommen ist, sind die spanischen Sportblätter schon mal vorauseilend in Hysterie verfallen. „Sáez, raub‘ uns nicht die Hoffnung!“, schreit Marca, die meist verkaufte Zeitung des Landes. Sáez hat bislang im Detail einige Sachen gemacht, über die man streiten kann – etwa Ruben Baraja trotz dessen offensichtlicher Formschwäche im Mittelfeld den Vorzug gegenüber Xabi Alsono gegeben. Aber er hat im großen Ganzen eine wunderbare Elf geschaffen. Und wenn es der nicht bald gelingt, ihr Spiel in mehr Tore zu konvertieren, wird sie als wunderbarste Elf, die nichts erreichte, in der Fußballgeschichte untergehen. Sáez‘ Offensivfußball beruft sich auf zwei Dogmen. Erstes Gesetz: Die Angriffe laufen vor allem über zwei Flügelstürmer. Zweites Gesetz: das Spiel teilt sich in zwei Phasen, „zuerst die Kraft, dann die Qualität“, sagt Sáez, das heißt im ersten Teil des Spiels sollen Morientes und Raúl den Gegner mürbe machen, dann wechselt Sáez aus und bringt Juan Carlos Valerón und Fernando Torres, technisch starke Spieler, die den erschöpften Rivalen ramponieren sollen.“

ZZ Top

Für Ralf Itzel (SZ 19.6.) stecken die Franzosen in einer Krise: „Seit dem Start dieser EM konnte man den Eindruck gewinnen, Jacques Santini übe für den diplomatischen Dienst oder für ein Amt als Politiker. Der Trainer der französischen Nationalmannschaft drosch eine Menge leerer Phrasen, schwadronierte viel und sagte wenig. Doch am Donnerstagabend blitzten im Stadion Dr. Magalhães Pessoa von Leiria klare Worte aus dem Strom schwieriger Sätze hervor: „Desaströs“ . . . „haben uns erschüttern lassen“ . . . „dumme Ballverluste“ . . . „wurden gedemütigt“ . . . Man hätte glauben können, seine Equipe wäre soeben aus dem Turnier geplumpst. Dabei hat sie sich durch das 2:2 dem Viertelfinale durchaus angenähert: Ein weiteres Remis am Montag gegen die Auswahl der Schweiz, und der Cut von 16 auf acht Mannschaften wäre überstanden. (…) Auf die Flügel und ins Mittelfeld will Henry nicht ausweichen, er möchte Tore erzielen, nicht vorbereiten. In der Premier League lancieren ihn die Kollegen in Sekundenschnelle, in der Auswahl dreht Zidane immer erst ein paar Pirouetten. Die beiden Stars sind offenbar nicht kompatibel: Von Henrys 25 Toren hat Zidane bei rund fünfzig gemeinsamen Auftritten kein einziges vorbereitet, eine erstaunliche Statistik. Dem Rest der Mannschaft tut Zidane aber gut, mehr noch: Sie hängt an seinem Tropf. Denn, mal ehrlich: Wäre Frankreich ohne seinen Zehner schon in Portugal angekommen, oder immer noch in Korea, wo die letzte Endrunde ohne den verletzten Star zur Blamage wurde? Zidanes Stil hat sich verändert. Er ist vom Ideengeber und Kreativling zum Anführer und Spielentscheider geworden. Nach Prsos Treffer zum 1:2 trommelte er die Kollegen zur Vollversammlung an der Mittellinie zusammen, um sie aufzurütteln. Und zählt man das per Freistoß erzwungene Eigentor durch Tudor zum 1:0 hinzu, hat „ZZ Top“ von den vier französischen EM-Treffern drei selbst produziert. Es braucht schon in der Vorrunde Kraftakte des 32-Jährigen, denn von den Kollegen überragen derzeit nur Patrick Viera im defensiven Mittelfeld und vielleicht noch Fänger Barthez, der nach Beckhams Elfmeter fast auch den von Rapaic pariert hätte. Andere fallen komplett durch, so könnte man den alternden Kapitän Marcel Desailly in Leiria zum letzten Mal im blauen Sporthemd gesehen haben.“

Barbara Klimke (BLZ 19.6.) erzählt wie der Taktiker Felipe Scolari sich in Portugal unbeliebt gemacht hat: „“Das schöne Spiel ist tot“, gab Scolari deshalb als Parole aus, als er die Arbeit in Portugal aufnahm. In den Folgemonaten begann er, dem Team die ästhetischen Spirenzchen auszutreiben. Dem Hang zur Melancholie begegnete er, indem er ihn ignorierte. Denn auf Sensibilitäten nimmt Luis Felipe Scolari, einst ein Innenverteidiger eher holzschnittartigen Formats, schon prinzipiell nicht Rücksicht. In Brasilien weigerte er sich einst, den Weltstar Romario aufzustellen, aus disziplinarischen Gründen, wie es hieß. Nichts stimmte ihn damals um; weder eine Petition des Stadtrats von Rio de Janeiro, noch der Umstand, dass erboste Romario-Anhänger nachts sein Auto demolierten. In Portugal angekommen, agierte er ebenso rigoros. Seine erste Amtshandlung bestand darin, den langjährigen Nationaltorwart Vítor Baía auszusortieren. Ein Aufschrei ging durchs Volk, Verbandspräsident Gilberto Parca Madail bat um Erklärung: „Ich habe früher nicht auf 170 Millionen Menschen gehört, warum soll ich jetzt auf zehn Millionen hören?“, entgegnete Scolari schulterzuckend. Stattdessen berief er Vítor Baías Ersatzkeeper für ein Testspiel – ein Affront von einem Ausmaß, als hätte Rudi Völler Bayerns Oliver Kahn zu Hause gelassen und dessen Münchner Stellvertreter Jan Schlösser nominiert. Scolaris zweiter Akt war eine List: Er betrieb die Einbürgerung des brasilianischen Fußballprofis Deco vom FC Porto. Denn Deco hat als Mittelfeldspieler all das, was der alternde Rui Costa, der Held der Massen, verlor: Schnelligkeit, Durchsetzungsvermögen, Kraft und einen effektiven, schnörkellosen Stil. Gegen Decos Einbindung ins Nationalteam protestierte anfangs die halbe Mannschaft, vor allem der verbliebene Rest der Goldenen Generation. Deco wurde vom Team weitgehend geschnitten. Und so bedurfte es wohl einer verheerenden Niederlage wie des 1:2 gegen Griechenland im EM-Eröffnungsspiel, ehe Scolari es wagen konnte, seinen auserwählten Mann von Beginn an aufzustellen. Im zweiten Spiel gegen Russland (2:0) blieb Rui Costa zunächst auf der Bank. An seiner Stelle wurde Deco, unterstützt von vier seiner Adjutanten vom Champions-League-Sieger FC Porto auf den Platz geschickt: Nach sieben Minuten leitete der Porto-Block um Deco den ersten Treffer ein. Als der eingewechselte Rui Costa schließlich ebenfalls ins Tor traf, war auch dem letzten Skeptiker im Stadion klar, dass Scolaris Taktik endlich aufgegangen war.“

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