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Lasst der Jugend ihren flotten Lauf!

Oliver Fritsch | Montag, 21. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Lasst der Jugend ihren flotten Lauf!

Medienkritik, „das Übermaß an Bildquellen führt zur Überforderung“ (Stanley Schmidt in FAZ) – „lasst der Jugend ihren flotten Lauf!“ (SZ) – SZ-Interview mit Gerald Houllier über die Taktik-Trends der EM – Jürgen Sparwasser hatte seinen großen Tag heute vor dreißig Jahren (FAZ) u.v.m.

Lasst der Jugend ihren flotten Lauf!

Klaus Hoeltzenbein (SZ 22.6.) freut sich über Elan und Erfolg von Wayne Rooney, Arjen Robben, Philipp Lahm & Co.: „Diese Generation trägt nicht nur dazu bei, dass der Abschied von den Zidanes & Figos, den Dreißigern, leichter fällt als befürchtet, sie prägt schon jetzt ein Turnier von hoher emotionaler und sportlicher Güte. Nur könnte diese Jugend noch wesentlich eindrucksvoller wirken, würde sich nicht eine alteingesessene Lobbyistengruppe ihrem (und jedem) Sturm und Drang widersetzen: die der Trainer, die Advocaats und Trapattonis. Man muss Verständnis haben für die Holländer, die ihre Holzschuhe in den Fernseher schleuderten in dem Moment, als Dick Advocaat gegen Tschechien der Idee verfiel, seinen pfiffigsten Fuß – den linken von Arjen Robben – auszuwechseln. Der größten Stütze entledigt, kollabierte Holland. Und was mag Trapattoni getrieben haben, gegen Schweden den Torschützen und besten Stürmer auszuwechseln, den Römer Cassano? Italien ging in die Knie. Gut für den Fußball, dass all die Teams prompt bestraft wurden, die sich ihrer vitalsten Kräfte mit dem immerselben, nachgereichten Argument (Junger Mann! Müde!!!) beraubten. Wie England, das ein 1:0 gegen Frankreich verspielte, nachdem Rooney vom Rasen befohlen war. Oder Portugal, das sich in ein Alles-oder-nichts-Spiel gegen Spanien zwingen ließ, auch weil Trainer Scolari zuvor auf Ronaldo nur als Einwechselspieler vertraute. Trainer! Lasst der Jugend ihren flotten Lauf!“

Eine Art defensives Quadrat vor dem Strafraum
SZ-Interview (22.6., Christoph Biermann) mit Gerald Houllier, Mitglied der Technical Study Group und somit Beobachter und Kommentator des sportlichen Geschehens

SZ: Wie bewerten Sie die bisherige Qualität des Turniers?
GH: Ich bin inzwischen der Ansicht, dass es schwieriger ist, die EM zu gewinnen als die WM. Die Geschwindigkeit hat mich bisher wirklich beeindruckt. Selbst die Nachmittagsspiele hatten das gleiche Tempo wie die Partien am Abend, allerdings aufgrund der Temperaturen nicht über die gesamte Spielzeit. Außerdem ist es auffällig, dass es kaum einseitige Partien gegeben hat.
SZ: Gibt es schon taktische Trends?
GH: Es ist noch zu früh, darüber zu sprechen, ich kann allenfalls über einzelne Spiele reden. Holland gegen Tschechien war das spektakulärste Spiel, auch wenn die Niederlage für die Niederlande vielleicht nicht verdient war. Diese Begegnung hat sich zweifellos in die Geschichte des Wettbewerbs geschrieben. Auch Italien gegen Schweden war ein offener Schlagabtausch.
SZ: Die Zahl der Tore ist bislang zwar etwas höher als früher, aber der Trend könnte dahin gehen, nur noch mit einer echten Spitze zu spielen.
GH: Offensichtlich spielen inzwischen viele Teams mit einem Stürmer vorne und einer hängenden Spitze dahinter. Es gibt mehr Formationen, die man als 4-1-4-1 oder 4-4-1-1 beschreiben könnte. Außerdem ist es auffällig, dass weder Pauleta, noch Owen, Raúl, Henry oder Vieri anfangs getroffen haben.
SZ: Gibt es eine Erklärung dafür?
GH: Sobald ein Team den Ball verliert, bildet sich eine Art defensives Quadrat vor dem Strafraum, dann gibt’s kaum ein Durchkommen. Selbst mit Flanken nicht, wie man gegen die Letten sehen konnte. Es ist sehr schwer, in der Mitte durchzukommen.

Das Übermaß an Bildquellen führt zur Überforderung

Stanley Schmidt (FAZ 22.6.), ehemaliger TV-Reporter und Bild-Regisseur, kritisiert die Verantwortlichen für die TV-Bilder aus Portugal: „Bei den Fernsehübertragungen stellt sich dem Fußballfreund zunehmend die Frage, wie oft der Ball noch im Bild ist. Fußball wird als Unterhaltungsprodukt vermarktet, und der Trend zur impressionistischen Bildregie ist nicht neu – aber in diesen Tagen weiß der Zuschauer oft schlicht nicht, wo sich der Ball gerade befindet. Ein banaler Schuß geht am Tor vorbei. Was jeder gesehen hat, wird mit einer Zeitlupe noch einmal vorgeführt, die mit einem bombastischen Trickbild eingeführt wird. Anschließend gibt es das Ganze noch mal von der anderen Seite aus – „reverse angle“ genannt –, was eher zur Sinnesverwirrung beiträgt, weil es dem menschlichen Auge einen ungewohnten Achsensprung zumutet. Dergleichen galt früher als Kunstfehler, und auch heute noch pflegt der Reporter zur Einordnung des Geschehens den Hinweis anzubringen, daß diese Szene von der gegenüberliegenden Seite aus aufgenommen wurde. Dann folgen in der Regel noch zwei bis drei Großaufnahmen von Fans, Spielern, Trainern – bis der Bildregisseur der Ansicht ist, nun wäre es an der Zeit, wieder mal zu zeigen, wo der Ball gerade ist. Manchmal befindet der sich dann schon wieder vor oder in einem Strafraum, und der Fußballfan fragt sich, was wohl in der Zwischenzeit auf dem Feld passiert sein mag. (…) Das Übermaß an Bildquellen führt zur Überforderung. Und wo die Optik inzwischen so weit reicht, daß Hautärzte Ferndiagnosen anstellen könnten, rutscht ein Spieler, der sich plötzlich und schnell bewegt, dem Kameramann leicht aus dem Bild. Im Ergebnis führt dies zu einer Disharmonie zwischen Ereignis und optischer Verarbeitung. Der moderne Fußball wirkt zu schnell für Fernseh-Spielereien. Aber wo Talkmaster auch als Kommentatoren zunehmend das Sagen haben, gelten andere Gesetze. Der Mann am Mikrofon hat eben seine vorbereiteten Merkzettel, die abzuarbeiten sind. Der Regisseur muß auf ihn reagieren, nicht so sehr aufs Fußballgeschehen.“

Und der Deutsche?

Christopher Keil (SZ/Medien 21.6.) zappt: „Eine Woche ist so schnell vorüber, und man mag sich gar nicht vorstellen, was wird – wenn diese vielen Fußballfernsehexperten plötzlich überhaupt nicht mehr über die deutsche Mannschaft reden können. Bei Günter Netzer von der ARD klang bereits Verzweiflung durch: „Sie können es nicht“, attestierte er. Er meinte: nicht besser, und er war noch nicht einmal zornig. Dabei hatten wir Hoffnung geschöpft, auch bei Marco Bode, den einige bereits in der Nachfolge Netzers sehen: Bode, der Vizeweltmeister 2002, der fast alle kennt aus dem deutschen Ensemble und deshalb keinen kritisiert. Der sehr viel weiß. Zum Beispiel weiß er, dass bei Referaten des Teamchefs moderne Technik eingesetzt wird. Die Rede war wohl von Tageslichtprojektoren und Flip Charts. Doch „der Lette“, wie Netzer sagte – später noch: „Der Tscheche“, in Verbindung mit: „größte Weltklasse“, weil der Tscheche den Holländer bezwungen hatte, – „der Lette“ also, der bestimmt keine Flip Charts hat, der könne sich jetzt sogar für das Viertelfinale qualifizieren. Und der Deutsche? Siehe Netzer. Alternativ: Siehe Thomas Helmer. Als Profi in München blickte Helmer den Journalisten jahrelang mit geringer Schätzung an, weshalb es erfreulich ist, dass er nun im EM-Quartier des Deutschen für das DSF wegelagert. In der Kulisse eines botanischen Gartens und mit einer symbolischen Frisur, die einem zerplatzten Autobahn-Igel nachempfunden wurde, kündet er von lustigen Erinnerungen und Prophezeihung.“

Als wir uns wieder beruhigt hatten, schworen wir, uns nie, nie wieder über Winfried Mohren aufzuregen

Beckmann im TV, Carola Rönneburg (taz 22.6.) ergeht es wie vielen anderen: „Wir haben es versucht. Mehrere Spiele hindurch haben wir stumm das ertragen, was die hauptberuflichen Dampfplauderer Kerner und Beckmann für Fußballkommentare ausgeben. Wenn wir uns in unser Schicksal ergäben, das ohnehin nicht zu ändern sei, hatten wir überlegt, ertrügen wir es leichter. Seit Sonnabend aber verzeichnet die Statistik meiner Fußballguckgemeinschaft (FGG) neben acht harmonischen Abendessen auch einen kollektiven Wutanfall. Vorbereitet wurde er von Reinhold „Heimsuchung“ Beckmann in der 50. Minute des bis dato aufregendsten EM-Spiels, der Partie Holland – Tschechien. „Nedved ist überall zu finden, wo es zur Sache geht“, schnatterte er, „ja, da trifft er auf den guten alten Kollegen Edgar Davids, hier die beiden. Viele Erfolge gefeiert zusammen bei Juve, bei der guten alten Dame des italienischen Fußballs, Nedved und Edgar Davids. DAS IST – schaunwermalrichtighin – ja, das ist Lothar Matthäus! Wollt mal richtig guten Fußball sehen, deshalb ist er hier vorbeigekommen!“ Meine gute alte FGG stöhnte auf. „Das Schlimmste ist, man kann sich nicht wehren“, seufzte Frau Awal. „Ah“, sagte Beckmann, „der Grandseigneur des tschechischen Fußballs, Karel Brückner, 64 Jahre alt, Pokerface, ein Fußballprofessor, der die klassische Musik liebt. Wenn man ihn so anguckt, so ne Mischung aus Leonard Bernstein und George Tabori, der da am Spielfeldrand steht …“ An dieser Stelle verloren wir zeitgleich die Contenance und brüllten wild durcheinander; so laut, dass unsere elfjährigen Mitglieder auf Probe verschreckt zusammenzuckten und Herr Tomaczek aus dem Badezimmer herausgeschossen kam, weil er einen unberechtigten Elfmeter vermutete. Als wir uns wieder beruhigt hatten, schworen wir, uns nie, nie wieder über Winfried Mohren aufzuregen.“

Hans Werner Kilz (SZ/Medien 22.6.) stellt fest: „Ohne Grundkenntnisse der Psychologie und der Soziologie kommt heute kein Trainer mehr aus. Das hat sich im Spiel gegen die Letten gezeigt und wird sich, wenn nicht sofort etwas unternommen wird, auch gegen die B-Elf der Tschechen rächen. Da ist zum einen die körperliche Verfassung, in der Fußballersprache Kondition genannt: die stimmt bei den Deutschen traditionell. Kampfmaschine, Motor, Vormarsch, Angriffswelle, Brechstange – alles beste teutonische Tugenden. Schwieriger gestaltet sich das mit der seelischen Verfassung, der so genannten Form, heute auch vielfach mentale Stärke oder Psyche genannt. Das sind fremdartige Ausdrücke, die Sepp Herberger vor 50 Jahren, als Deutschland Fußball-Weltmeister wurde, noch gar nicht kannte, geschweige denn benutzte. Sätze wie „Der nächste Gegner ist immer der schwerste“ oder „Brenne müsse se“ (er meinte die Spieler) sind längst in den Rang wissenschaftlicher Lehrsätze erhoben. Heute liegen die Probleme mehr neben dem Fußballfeld. Unsere Nationalspieler verdienen so viel wie Josef Ackermann (der nur auf der Bank sitzt), sind als Millionäre und Aktienbesitzer auch betriebswirtschaftlich geschult, in der Werbung professionell, bei Fernsehauftritten routiniert und als Familienväter affärengestählt. „Fußball ist ein Geschäft“, sagt Bayern-Manager Uli Hoeneß nüchtern, während der Schriftsteller Peter Handke sich mehr in das Innenleben der Stars einfinden kann: „Der Fußball hat eine Seele.“ Wie er eben.“

Ein Schweizer in Paris – Rod Ackermann (NZZ 22.6.) fühlt sich beobachtet: „Im Herzen von Paris, auf dem Platz vor dem Hôtel de Ville – ziemlich genau an der Stelle, wo bis am Vorabend der grossen Revolution das Blutgerüst stand –, ragt in diesen Euro-Wochen eine Grossleinwand empor. Zu deren Füssen strömt jeweils, nicht anders als vor 1789 am Schafott, zu Abertausenden ein nach Belustigung dürstendes Volk zusammen; immerhin zeugt es von zivilisatorischem Fortschritt, dass die allgemeine Hochstimmung nicht mehr durch scheussliche Folterungen sowie grausame Hinrichtungen armer Sünder erzeugt wird, sondern durch fussballerische Darbietungen. Vorab solche der französischen Nationalmannschaft mit ihrem Patron und Schutzheiligen Zizou. (…) „Allez, les Bleus!“, hatte es schon vor dem Anpfiff vielstimmig aus der Menge gedröhnt, ganz so, als werde den Petits Suisses ein „Kopf ab!“ entgegengeschleudert. Die paar eidgenössischen Aufrechten hielten, diskret wie immer, den vielen blau-weiss-roten Flaggen kein einziges Fähnlein entgegen, sondern konterten bestenfalls mit zagen Anfeuerungen. Dennoch: Chapeau vor ihrer Courage, denn delikat ist es, gegen la voix du peuple – wörtlich: die Stimme des Pöbels – anzukämpfen, zumal an dieser historischen und nicht gänzlich geheuren Stätte. Auch wenn dort nicht mehr gevierteilt, gepfählt und aufs Rad geschlagen, sondern nur noch gekickt, geköpfelt und auf den Mann gespielt wird. Und kein Blut mehr spritzt.“

Guck mal, schon wieder der Sparwasser

Heute vor dreißig Jahren schoss Jürgen Sparwasser ein wichtiges Tor; Steffen Haffner (FAZ 22.6.) erinnert sich und uns: „Für die DDR war es vor genau dreißig Jahren ein grandioser Propagandacoup. Er gelang mit Hilfe eines Mannes, der bis dahin im Arbeiter-und-Bauern-Staat im Schatten von Spielern wie Hans-Jürgen („Dixie“) Dörner, Achim Streich oder Jürgen Croy, dem Sepp Maier der DDR, stand. Niemand ahnte, daß Sparwassers Treffer wie ein Weckruf auf Bundestrainer Helmut Schöns Nationalmannschaft wirken würde, die mit dem 2:1-Finalsieg am 7. Juli 1974 im Münchner Olympiastadion über die Niederlande Weltmeister wurde. Sparwasser sei Dank! Sein Tor hat Jürgen Sparwasser im Westen Deutschlands viel Anerkennung eingetragen, in der DDR, wie er meint, aber eher geschadet: „In jeder Sportsendung wurde im Vorspann das Tor gezeigt. Da hatten viele die Schnauze voll und haben gesagt: ,Guck mal, schon wieder der Sparwasser.‘“ Ihm sei verargt worden, daß er nun zum Mittel der Propaganda geworden sei. Außerdem habe der Neideffekt die Spekulationen angeheizt: „Wieviel Geld hat er dafür gekriegt? Der hat ‚n Haus und kann sich jedes Jahr ein Auto kaufen.“ Hinzu kam, daß der Torjäger, der 53 Länderspiele für die DDR bestritt und mit dem 1. FC Magdeburg dreimal DDR-Meister, viermal Pokalsieger sowie einmal Europapokalsieger wurde, der SED angehörte und regelmäßig im Parteiorgan „Neues Deutschland“ eine Fußball-Kolumne schrieb. Daß ausgerechnet die Fußball-Ikone der DDR sich zusammen mit seiner Frau Christa im Januar 1988 in den Westen absetzte, sorgte für Aufsehen.“

of spekuliert wild und mit offenen Augen: „Ich hab die Fernsehbilder mehrmals geschaut und bin der Meinung, dass Sepp Maier Sparwassers Schuss absichtlich ins Tor gelassen hat. Oder besser: Maier hat nichts unternommen, um das Tor zu verhindern, sondern sich deutlich vor dem Ball geduckt und den Blick vom Schützen abgewendet – ungewöhnlich für den Weltklasse-Keeper. Warum sollte er das getan haben? Es muss ja nicht gleich die Stasi im Spiel gewesen sein, wie einige Chronisten spekulieren; vielleicht genügt die übliche, unpolitische Erklärung: Die deutsche Mannschaft ist durch die Niederlage auf leichtere Gegner in der Zwischenrunde getroffen, als das bei einem Sieg der Fall gewesen wäre. Oder: Vielleicht wollten Beckenbauer & Co. Günter Netzer, der in der zweiten Halbzeit eingewechselt wurde, das Etikett der Niederlage anheften, um ihn aus dem Team zu halten.“

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