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Wenig inspiriert, müde, richtiggehend bedächtig

Oliver Fritsch | Samstag, 26. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Wenig inspiriert, müde, richtiggehend bedächtig

Frankreichs Degeneration gegen Griechenland, „wenig inspiriert, müde, richtiggehend bedächtig“ (NZZ) – Portugal-England 8:7 n.E.: „zwischen Wahn und Wirklichkeit“ (FAZ) / Felipe Scolaris Mut wird belohnt / „wo ist Luis Figo?“ (FAZ) / „der Rasen hatte sich rund um den Elfmeterpunkt gelöst“ (Tsp) u.v.m.

Frankreich-Griechenland 0:1

Wenig inspiriert, müde, richtiggehend bedächtig

Peter B. Birrer (NZZ 26.6.) beschreibt den Zerfall französischer Spielkultur: „Es dauerte in der durch ein paar Spalten unter dem Dach ins Estádio José Alvalade hineinscheinenden Abendsonne nicht lange, bis der erste Tiefpunkt geortet war. Nach etwas mehr als einer halben Stunde begannen die zahlreichen nach dem Ausscheiden ihrer englischen Mannschaft in Lissabon gebliebenen Anhänger kraftvolle „England-Gesänge“ anzustimmen. Nachdem bereits die „Marseillaise“ vor Spielbeginn nicht so recht hatte klingen wollen, ging es auch auf dem Rasen in gemächlichem Tempo weiter. Die favorisierten Fussballer aus Frankreich mühten sich gegen Griechenland über weite Strecken vergeblich ab, es war jedenfalls nie zu erkennen, wer hier einen Titel zu verteidigen hat und wer demzufolge als erklärter Turnierfavorit gilt. Letzterer hatte in der ersten Halbzeit kaum eine Torchance, vielleicht abgesehen von einem Kopfball Henrys und einem Abschlussversuch kurz vor der Pause. Angesichts der erschreckend harmlosen Art und Weise, wie die gelobte Equipe tricolore schon Teil 1 abspulte, erübrigten sich die Diskussionen über das System, die Form oder die mangelhafte Physis der Protagonisten. Da stimmte kaum einmal etwas zusammen, man schob sich in der mittleren Zone einfallslos den Ball zu, als würde man alle Zeit dieser Fussballwelt haben, um den Gegner in die Knie zu zwingen. Zinedine Zidane liess sich wie die beiden Stürmer Henry und Trézéguet zurückfallen, es gab keinen Raum und keinen Weg zum Tor. Zidane zeigte zwar Kunststücke, die ihm so schnell keiner nachmacht, und wechselte mit genauen Zuspielen die Seite. Aber Zidane hatte auch für ihn ungewöhnlich viele Ballverluste zu beklagen, und als persönlicher Tiefpunkt erhielt er kurz vor der Halbzeit nach einem Foul die gelbe Karte vor das Gesicht gehalten. Es gab in der Tat Phasen, während deren das Geschehen in ein einfallsloses Ballgeschiebe ausartete. Welch ein Kontrast zur Partie zwischen Portugal und England am Abend zuvor, welch eine Differenz in Sachen Spielkultur und Tempo. Trainer Jacques Santini stand macht- und fassungslos an der Seitenlinie und erinnerte sich wohl der Worte des französischen Verbandspräsidenten Claude Simonet, der schon im ersten Spiel gegen England so etwas wie „Angst“ zu spüren geglaubt hatte. Kann so ein Europameister spielen? Nein. Ist so eine Überraschung möglich? Sicher. Genau dieses Spannungselement war es auch, das den zweiten Viertelfinal am Leben erhielt. (…) In der zweiten Halbzeit änderte sich vorerst nichts an der unerwarteten Physiognomie des Spiels. Die Franzosen wirkten wenig inspiriert, müde, richtiggehend bedächtig, und der Trainer lehnte sich lässig an die Seite der Spielerbank, ohne jedoch mit Wechseln seinem sich schon fast quälend abmühenden Team neues Leben einzuhauchen.“

Barbara Klimke (BLZ 26.6.) fügt hinzu: „Wer die Partie in ansehen musste, dem dämmerte schnell, dass diese französische Mannschaft nichts mehr gemein hat mit der, die über Jahre den Weltfußball beherrschte: Quälend, schleppend, ja beinahe gelähmt traten sie auf. Und die besseren Chancen verbuchte der Außenseiter, dem Rehhagel eines genommen hatte: die Ehrfurcht vor dem Gegner mit der großen Geschichte.“

In der SZ (26.6.) lesen wir: „Während der DFB nach dem Aus in der Vorrunde einen neuen Teamchef sucht, feierte Rehhagel den größten Erfolg seiner Karriere, in eben jenem Stadion, in dem die Deutschen am Mittwoch gegen Tschechien B gescheitert waren. „Mit Leidenschaft, Einsatz und Willen haben sich die Jungs diesen Sieg verdient“, sagte Rehhagel hinterher. Natürlich ließ er die Gelegenheit nicht ungenutzt, den eigenen Anteil heraus zu heben. Nur „böswillige Leute“, sagte er, könnten ihm unterstellen, er sei ein Trainer von gestern und taktisch nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Die Meldung, er habe für das nun zu besetzende Amt des Bundestrainers abgesagt, dementierte er energisch. Er und die Jungs bescherten dem griechischen Verband jedenfalls den größten Erfolg seiner Geschicht, und nebenbei den ersten Sieg gegen die Franzosen überhaupt. Rehhagel rührte, wie immer bei dieser EM, griechisch-deutschen Beton an, um die Bilanz zu schönen. Libero Dellas räumte ab, vor ihm werkelten zwei Manndecker, von denen einer, Seitaridis, sich an die Fersen von Thierry Henry heftete. Das Mittelfeld stand tief gestaffelt. Das mögen die Franzosen nicht. Dass er damit aber dem schicksten Ensemble Europas Paroli bieten würde, glaubte Rehhagel wohl selbst nicht. Die Franzosen steckten von Anfang an in Schwierigkeiten, sie knüpften sofort an die schwerfällige Gangart der drei Vorrunden-Begegnungen an.“

Portugal-England 8:7 n. E.

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

Für Thomas Klemm (FAZ 26.6.) war das Duell Dramatik pur: „Ein ganzes Land, das Sekunden zuvor am Rande des Nervenzusammenbruchs gestanden hatte, brach in Freudengeschrei aus. Ein ganzes Land – bis auf einen. Wo war Luis Figo? Wortlos und ohne einen Blick für Nationaltrainer Scolari und seine Mitspieler war der Kapitän nach 74 Minuten vom Platz geschlichen, zitterte weder in der Verlängerung noch im Elfmeterschießen mit seinen Kollegen auf der Bank im Estádio da Luz. Das Gesicht des portugiesischen Fußballs hatte sich in diesem Moment abgewandt von der Gruppe, deren Einheit es zuletzt oft beschworen hatte. Er habe gehört, behauptete der Brasilianer Scolari, daß Figo sich das Elfmeterschießen auf dem Bildschirm in der Mannschaftskabine angeschaut und gebetet habe. So stellte es sich der Trainer vor, der seinem Star zuvor nicht zugetraut hatte, die Wende im Spiel herbeizuführen. Figo selbst behauptete, er habe im Entmüdungsbecken gelegen und mitgelitten. Nur mit einem Handtuch um die Lenden wollte er nicht zum Jubeln herauskommen und sich Millionen von Fernsehzuschauern halbnackt zeigen. Es könnte so oder so gewesen sein an diesem dramatischen Fußballabend in Lissabon, der zwischen Wahn und Wirklichkeit viel Raum ließ. (…) Bis in die Nacht hinein feierte Portugal, als ob es schon die Europameisterschaft gewonnen hätte. Das Erreichen des Halbfinales hatte Luiz Felipe Scolari, der in allen bisherigen vier EM-Spielen ein glückliches Händchen mit seinen Einwechslungen bewies, dem Land vor dem Turnier versprochen. „Jetzt streben wir das Endspiel an“, so brachte der Brasilianer den Gastgeber zum Träumen. „Potzblitz! Wie es dieses Spiel verdient hätte, das Finale zu sein“, schrieb die Sporttageszeitung „A Bola“. Was ist jetzt noch möglich im lusitanischen Land des Lächelns?“

Tilo Wagner (FR 26.6.) bestaunt Felipe Scolaris glückliches Hand: „Später, als die ersten Emotionen gezügelt waren, bewies Luiz Felipe Scolari, der Brasilianer, mal wieder große Einfühlsamkeit, als er den Sieg der Seefahrernation Portugal symbolisch einer Gruppe von Fischern widmete, die von ihren Booten aus der Selecção auf ihrem Weg ins Stadion frenetisch zugejubelt hatten. Dass Scolari auch vom Fußball eine Menge versteht, bewies er im Spiel gegen England: Er nahm den Superstar Luis Figo vom Platz und brachte einen 21-jährigen Ersatzstürmer von Tottenham Hotspurs, der seit sechs Monaten nicht mehr das gegnerische Tor getroffen hatte. Acht Minuten später markierte jener Hélder Postiga den Ausgleich, im Elfmeterschießen düpierte der Bengel rotzfrech Schlussmann David James mit einem Strafstoß Schwejkschen Ausmaßes. Den Mut zu einer solchen Entscheidung hätte ein in Portugal geborener Nationaltrainer sicherlich nicht aufgebracht. Aus der ambivalenten Beziehung zwischen Portugiesen und Brasilianern nimmt Scolari die Möglichkeit, seinen taktischen Vorstellungen selbst Portugals größte Identifikationsfiguren zu opfern, ohne sich den Groll der Nation einzufahren. Bisher hat der Brasilianer immer Recht gehabt. Er gab dem in der Vorbereitung unsicher auftretenden Ricardo den Vorzug vor der portugiesischen Torhüterlegende Vítor Baía; er setzte Mannschaftskapitän Fernando Couto auf die Bank und ließ Ricardo Carvalho spielen, der eine herausragende Leistung in der Innenverteidigung gegen England bot; und er machte aus Rui Costa, der seinen Platz im Mittelfeld an Deco verlor, einen torgefährlichen Einwechselspieler. Während Couto die Wachablösung in Portugals Abwehr ohne Widerspruch hinnahm und der Mannschaft von der Bank aus seine Erfahrung zukommen lässt, scheint sich auch Rui Costa langsam an seine neue Rolle zu gewöhnen. „Es ist ein gutes Zeichen, dass ich schon wieder als Joker getroffen habe,“ sagte Costa, er fügte ironisch an: „Wenn das so weitergeht, will ich nur noch auf die Bank.“ Einzig Figo scheint Scolaris taktische Prioritäten auf den Magen zu schlagen. (…) Figo hatte sich derweil zusammen mit Pauleta das Spiel in der Kabine zu Ende angeschaut und soll ein Bild der Muttergottes fest in den Händen gehalten haben. Ob Mythos oder Realität, die Vorstellung, Portugals Superstar habe auf diese urtypischen Art und Weise das Wunder herbeigebetet, scheint die Portugiesen versöhnlich zu stimmen.“

Christoph Biermann (SZ 26.6.) lobt Scolaris geraden Rücken: „Wieder einmal war die portugiesische Mannschaft über ihre Grenzen gegangen und hatte ein Spiel gewonnen, in dem ein Sieg lange nicht auf der Agenda zu stehen schien. Hilflos waren die Gastgeber lange Zeit dem frühen Rückstand hinterhergelaufen. Ihr Zusammenspiel war einfallslos und unpräzise gewesen, die britische Sprinterstaffel hatte viele Aktionen leicht vorausahnen können und die Kombinationen immer wieder blitzschnell durchtrennt. Anders als gegen Spanien wurden die Portugiesen auch nicht vom Publikum getragen, denn mehr als die Hälfte der Plätze im Estadio da Luz waren von englischen Anhängern besetzt. Und so schien der Ausgleich aus dem Nichts zu kommen. Plötzlich reichte eine schlichte Flanke von Simao, und der nur acht Minuten zuvor eingewechselte Helder Postiga konnte einköpfen. Ob er mit seinen Auswechselungen einfach nur Glück habe oder ob er das für inspiriertes Coaching halten würde, wurde Felipe Scolari nach der Partie gefragt, und man merkte, wie sehr dem portugiesischen Nationaltrainer diese Frage gefiel. „Einige sagen, dass ich sowieso nicht arbeite, also wird es Glück sein“, sagte er und fügte dann genüsslich an, „aber dieses Glück hat mir immerhin 16 Titel eingebracht.“ Auch das 2:1 erzielte in Rui Costa ein Spieler, den Scolari spät gebracht hatte. Damit gehen fünf der sechs portugiesischen Treffer bei diesem Turnier auf das Konto von Einwechselspielern. Doch in diesem Fall bekam die Entscheidung von Scolari etwas nahezu Genialisches, denn es war Luis Figo, der seinen Platz für Postiga hatte räumen müssen. Nur wenige Trainer hätten in dieser Situation wohl so entschieden, obwohl der Star einen schlechten Tag hatte. Figo mühte sich, aber ihm gelang wenig. Trotzdem spürte man im Stadion das Entsetzen der Fans, ohne ihn schienen alle Hoffnungen zu schwinden, und er selbst inszenierte seine Wut ohne Scheu. Zur Auswechselung kam Figo nicht an die Mittellinie, sondern verließ den Platz hinter dem gegnerischen Strafraum, nahm den langen Weg entlang der Seitenauslinie, um direkt in der Kabine zu verschwinden. Danach ward er nicht mehr gesehen. (…) Scolari hatte gezockt, und er hatte gewonnen. Der späte Ausgleich von Postiga veränderte das Spiel völlig, danach war wieder das Portugal der Passionen zu sehen, wie man es bereits gegen Spanien erlebt hatte. Und nachdem die Mannschaft nun bereits so viele Krisen und kritische Momente überwunden hat, „wollen wir jetzt auch ins Finale einziehen“, sagte Scolari. Und diesem Willen werden die Schweden oder die Holländer etwas entgegensetzen müssen, was jenseits ihrer Grenzen liegt.“

Jesus took the penalty

Ronald Reng (FR 26.6.) schildert Englands Leiden und Englands Liturgie: „Es war Gary Neville, der Außenverteidiger, der oft so wichtigtuerisch in seiner ewigen Ernsthaftigkeit wirkt, der sich schließlich ruckartig aus der Menschenkette löste. Er packte David Beckham am Rücken und schubste ihn nach vorne, Richtung Vassell. Beckham war genug damit beschäftigt, Beckham zu sein, der berühmteste Fußballer der Welt, der gerade einen seiner traurigsten Momente erlebte, aber Neville fand, Beckham war auch Mannschaftskapitän. Altertümliche Bräuche halten sich im englischen Fußball mehr als anderswo, der Kapitän hat sich um die Kollegen zu kümmern, ohne zu fragen, wer sich um ihn kümmert. Also machte sich Beckham ein letztes Mal auf in Richtung Tor, Vassell kam ihm entgegen, Figuren des Leidens beide nach ihren verschossenen Elfmetern. Die Portugiesen mussten den letzten Schuss noch ausführen, aber Beckham und Vassell, hilflos aneinander geklammert, sahen schon aus wie Engländer auf dem Weg nach Hause. Sie brauchten die Bestätigung des letzten portugiesischen Tors nicht mehr, sie wussten schon, was passieren würde. Der englische Abgang ist längst eine einzige Wiederholung. Zum vierten Mal bei ihren jüngsten sechs Versuchen, nach dem WM-Triumph 1966 endlich wieder eine Meisterschaft zu gewinnen, scheiterte das selbsterklärte Mutterland des Fußballs im Elfmeterschießen. Chris Waddle und Stuart Pearce, die Fehlschützen beim ersten Drama, 1990 gegen Deutschland, vereinten das Land noch so, dass sie sogar Werbeverträge bekamen, Gareth Southgate, der arme Teufel bei der Europameisterschaft 1996, wurde „zum Kummerkasten für die Leute, sie schrieben mir, weil sie mich hatten leiden sehen und deshalb dachten, ich würde ihr Leiden verstehen“. Ersatzstürmer Darius Vassell und David Beckham dürfen nicht mit solch überwältigender Anteilnahme rechnen. Wenn ein Missgeschick zu oft passiert, verliert es an Dramatik. Es wird lächerlich. (…) All seine Phrasen vom Team, das noch in den Spiegel schauen kann, vertuschten nicht die Wahrheit, die ihm beim Blick ins eigene Gesicht entgegenstarrte. Beckham, berichtete einer aus dem Trainerstab im Privatgespräch, kam als einer der unfittesten Spieler ins Trainingslager, und es blieb niemandem verborgen. Er, der England so oft durch das eigene Beispiel inspiriert hatte, war während des ganzen Turniers ein bemühter, müder Krieger im Kampf mit sich selbst. Am Ende seines ersten Jahrs im Ausland, mit Eingewöhnungsproblemen bei Real Madrid auf und neben dem Rasen, wirkt er um Jahre gealtert. Es war der dritte Elfmeter in Folge, den er für England verschoss. Die Fans, 40 000 Engländer unter 60 000 im Stadion des Lichts, rollten die Fahnen ein, auch die mit „Jesus took the penalty“. Es war die wohl bewusst doppeldeutige Botschaft eines Christen und Witzbolds: „Jesus schoss den Elfmeter“ und „Jesus nahm die Strafe (für unsere Sünden)“ hieß das.“

Der Rasen hatte sich rund um den Elfmeterpunkt gelöst

Sven Goldmann (Tsp 26.6.) leidet mit David Beckham: „Es ist ein bisschen ungerecht, dass die Öffentlichkeit David Beckham vor allem über seine wechselnde Frisur, seine Tattoos und seine exaltierte Ehefrau definiert. Viele übersehen, dass er ein ganz ausgezeichneter Fußballspieler ist, gesegnet mit einem rechten Fuß, der Flanken und Freistöße von unerreichter Qualität schlagen kann. Dieser rechte Fuß sollte England nun ins Halbfinale bringen. (…) Beckham lief an und schoss weit über das Tor, und selbst wenn es mit der Höhe geklappt hätte, wäre der Ball noch einen Meter am Tor vorbeigegangen. Wie er danach am Elfmeterpunkt stand, auf den Schiedsrichter einredete und klagend nach unten deutete, entbehrte nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Zu Unrecht. Die Zeitlupe des portugiesischen Fernsehens zeigte später, dass der Ball schon während Beckhams Anlauf ins Rollen geraten war und so seinen linken Fuß touchierte, bevor ihn der rechte traf. Der Rasen hatte sich rund um den Elfmeterpunkt gelöst, und alle folgenden Schützen widmeten fortan der Planierung der sensiblen Fläche genauso viel Aufmerksamkeit wie der Ausführung.“

Chaplinesk

Matti Lieske (taz 26.6.) sieht verhinderte Helden: „Warum nur, warum hat die Uefa das Golden Goal abgeschafft? Es wäre alles so perfekt gewesen. Rui Costa, der Verfemte, von Trainer Felipe Scolari aus der Stammformation verbannt, von den Fans im eigenen Land ausgepfiffen und darob so ergrimmt, dass er nach seinem Tor gegen die Russen nur mit finster-trotziger Büßermiene ins Publikum dräute, schießt Portugal gegen England mit einem prachtvollen 16-Meter-Knaller unter die Latte ins EM-Halbfinale. Setzt damit den gerechten Schlusspunkt unter ein dramatisches Match zweier hervorragender Mannschaften, die sich mit völlig unterschiedlichen Mitteln 110 Minuten lang heftig bekämpft haben. Und erspart es den armen Engländern, noch einmal trügerische Hoffnung schöpfen zu dürfen, um dann in einem jener Elfmeterschießen zu scheitern, die ihnen immer so schrecklich danebengehen. Doch das Golden Goal gibt es nicht mehr. So konnte Frank Lampard ausgleichen, und Rui Costa wurde mit seinem übers Tor gejagten Ball im Elfmeterschießen vom gepriesenen Erretter wieder zum profanen Unglücksbär, der Portugals Triumph noch einmal in Gefahr brachte. Nicht ganz so unglücklich freilich wie David Beckham, der nach seinem chaplinesken Auftakt-Elfmeter endgültig als Erfinder des eingesprungenen Strauchelstrafstoßes mit halber Schraube gelten darf. Vielleicht findet die Übung ja eines Tages Eingang in den Eiskunstlauf – als Beckham-Pirouette. Der Elfmeterpunkt, offensichtlich eine Mischung aus Sumpflandschaft und Wimbledon-Rasen am letzten Turniertag, wurde zunächst von Englands Kapitän ausgiebig beschimpft und erfreute sich dann großer Aufmerksamkeit der folgenden Kandidaten. Jeder suchte ihn gründlich nach weiteren Fußangeln ab und trat ihn mit der Sorgfalt eines Hofgärtners vom Buckingham-Palast fest, bevor er zum Vollzug schritt.“

Thomas Klemm (FAZ 26.6.) schießt nach: „Es war der Rasen am Elfmeterpunkt, es war der Schiedsrichter, es war der dreifache Albtraum. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Möglicherweise war es sogar die Verletzung von Wayne Rooney, dem besten Torschützen im Team. England suchte Gründe, fand aber nur Leere. David Beckham war den Tränen nah, als er vom Platz schlich. „Wir haben es zu akzeptieren“, sagte der Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson am Freitag vor dem Abflug, „aber um diese Niederlage zu verarbeiten, brauchen wir mehr als 24 Stunden.“ Das Leben gehe weiter, aber es ist ein Leben in England statt in Portugal, auf Urlaub statt bei der Europameisterschaft. (…) War es der Rasen? Nach der Niederlage gegen Frankreich, als Beckham elf Tage zuvor mit einem Strafstoß an Torhüter Fabien Barthez gescheitert war, hatte die englische Delegation dreimal die Uefa auf das holprige Geläuf rund um den Punkt aufmerksam gemacht. Die Uefa hatte laut Eriksson zugesagt, sich „um ein neues Rasenstück“ zu kümmern. Geschehen ist offensichtlich nichts, die Schützen waren gezwungen, den Platz vor dem Kick mit ihren Füßen zu bearbeiten. Der englische Kapitän fand mit dem linken Bein nicht den richtigen Stand, drosch den Ball in die Wolken.“

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