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Beachtliche Häufung von Herzinfarkten

Oliver Fritsch | Sonntag, 27. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Beachtliche Häufung von Herzinfarkten

„der moderne Fußball ist, wie die globalisierte Wirtschaft, ein geschlossenes System“ (Tsp) – der DFB muss an seiner Öffentlichkeitsarbeit arbeiten (FR) – „die Häufung von Herzinfarkten nach verlorenen Elfmeterschießen ist beachtlich“ (FTD) – „die Gewohnheit des Scheiterns lässt die großen Nationen lockerer mit Niederlagen umgehen“ (FAZ) u.v.m.

Wie kann eine Kuh ein Kaninchen fangen?

Christian Eichler (FAZ 28.6.) lehnt sich zurück und faltet die Hände: „Schau an, Europa: Die Kleinen übernehmen das Sagen. Fußball verteilt die Kräfte neu. Spanien, Italien, Deutschland, England, Frankreich: 300 Millionen Einwohner, acht WM-Titel, ab nach Hause; Portugal, Griechenland, Niederlande, Tschechien, Dänemark: 50 Millionen Menschen, kein WM-Titel, auf der Höhe der Zeit. Die Kleinen spielen den Turniersieg aus, genießen die heimische Begeisterung, freuen sich am Staunen der alten Großmächte, deren Fußballfans flexibler werden und auch ohne eigene Teams Quotenrekorde aufstellen. Das neue Motto, Fußball macht’s vor: lieber mit den Kleinen freuen als mit den Großen ärgern. Der Aufschrei der Entmachteten, der Weltschmerz, der sich oft im Scheitern von Fußballteams entlud, blieb aus. Es zeigte sich eine Gewohnheit des Scheiterns: in Spanien, dessen Teams noch stets unter ihren Möglichkeiten blieben; in Italien, wo man trotz des 2:2 der Skandinavier nicht überall böse Mächte anklagte; in Deutschland, das sich auch im Fußball ans Mittelmaß gewöhnt hat; und in England, wo man die Rituale des Scheiterns leise liebgewonnen hat (…) Portugal und Griechenland, sie waren einst der Hinterhof Europas; Randlagen, die von den Zuwendungen aus Brüssel profitierten und prosperierten. Nun, da die Ost-Erweiterung neue Aufpäppel-Kandidaten in die EU gebracht hat, zeigen die beiden kleinen, stolzen Nationen vom Rande des Kontinents im Sport, was sie inzwischen auf die Beine stellen: eine tolle Fußball-EM, zwei Halbfinalisten und demnächst Olympia – sofern nicht weitere Fußballfeiern die Athener Bauarbeiter von der Akkordarbeit abhalten. Die EM entspricht den wirtschaftlichen Notwendigkeiten im heutigen Europa: Die Großen müssen an sich arbeiten, die Kleinen dürfen sich feiern. Das tun nun sogar die Großen unter den Kleinen: 16 Millionen Niederländer haben nach dem üblichen Hadern mit ihrer Elf die Begeisterung entdeckt. Karneval in Orange – verdiente Auszeit von der calvinistischen Tüchtigkeit. Ein paar Zweifler bleiben. Ruud Gullit, Kapitän der einzigen Oranje-Elf, die einen Titel gewann, EM 1988, antwortete auf die Frage, ob das heutige Team das wiederholen könne, mit der Gegenfrage: „Wie kann eine Kuh ein Kaninchen fangen?“ Doch derzeit gewinnt selbst der Kuh-Hirte Dick Advocaat Sympathie. Ein Transparent drückte den Trend aus: „Durch Dick und Dünn“. Das klang zuletzt noch anders, so daß Innenminister Remkes im Haager Parlament gegen die Behandlung des „Bondscoach“ in den Medien protestierte.“

Otto in die EU-Verfassung

Tobias Schächter (taz 28.6.) sinkt auf die Knie: „Otto rennt. Angeblich gebiert der Fußball Nationen und deren Helden. Aber er gebiert nur einen Gott. Das ist die Wahrheit, nicht wahr, meine Herren! Die Wahrheit liegt! Und zwar auf dem Platz! Punkt. Amen. Halleluja. Dass Demokratie und Diktatur sich einander ausschließen – geschenkt, Otto. Europa, welch Fehler, den Gottesbezug aus deiner Verfassung zu verbannen. Zur Rettung des Abendlandes und der EU könnte Valéry Giscard dEstaing aber einfach mehrere Volksbefragungen arrangieren: Otto in die EU-Verfassung! Otto für Prodi! Otto für Ottmar! Otto für Gerhard! Otto für Zeus! Siege mit stalinistischen 99 Prozent der Wählerstimmen wären gewiss, selbst im gerupften Gallien. Ein Otto von gestern sei er, ein Déjà-vu aus der Ära Kohl. Quatsch: Modern ist, wer gewinnt. Historiker befürchten zwar eine neue Übermacht des Anekdotischen und warnen grundsätzlich vor Plebisziten, aber – wenn ein bisschen Populismus die EU-Verfassung rettet?“

Der moderne Fußball ist, wie die globalisierte Wirtschaft, ein geschlossenes System

Raphael Honigstein (Tsp 28.6.) analysiert das Ausscheiden der großen Nationen: „Es gibt keine großen Teams mehr. 40 Jahre lang haben die Nationalmannschaften der größten und reichsten europäischen Länder den Fußball auf dem Kontinent wie selbstverständlich dominiert. Sie hatten nicht nur eine sehr viel höhere Anzahl von Spielern als die kleineren Länder, sondern gleichzeitig die größten Vereine sowie eine professionellere Ausbildung und Betreuung. Der deutsche Bundestrainer konnte so zum Beispiel aus gut 398 Profis, die in der Bundesliga beschäftigt waren, wählen; sein schwedischer Kollege musste aus 300 Profis in der viel schwächeren schwedischen Liga die Mannschaft zusammenstellen – plus einige wenige Legionäre. Doch jetzt ist das anders. Der moderne Fußball ist, wie die globalisierte Wirtschaft, ein geschlossenes System. Stärke oder Qualität werden nicht geschaffen, nur umverteilt. Das bedeutet, dass die so genannten Kleinen im wahrsten Sinne des Wortes auf Kosten der Großen stärker werden. Das Bosman-Urteil hat 1996 die Grenzen für europäische Spieler komplett abgeschafft – 54 Prozent der Spieler, die in Portugal auftraten, sind heute in den großen fünf Ligen beschäftigt. In Italien, England und Deutschland sind so nur noch weniger als 40 Prozent einheimische Kicker angestellt, der Prozentsatz ist in Spanien und Frankreich nicht viel höher. Weil auch in den Klubs und Ligen der kleineren Länder professionell gearbeitet wird, ist der quantitative Vorsprung der großen fünf sehr viel geringer geworden: Rudi Völler kann nur noch aus etwa 150 deutschen Profis im Oberhaus auswählen, die Schweden haben 30 Spieler in den großen fünf Ligen sowie 300 Profis in der nicht mehr so schwachen eigenen Liga.“

Die Häufung von Herzinfarkten nach verlorenen Elfmeterschießen

Sport ist Mord! Rene Martens (FTD 28.6.): „Douglas Carroll von der Uni Birmingham dürfte derzeit reichlich malochen. Schuld daran sind die Spieler, die in diesen Tagen beim Elfmeterschießen versagen. Carrolls Spezialgebiet ist die Häufung von Herzinfarkten nach verlorenen Elfmeterschießen. Als England 1998 gegen Argentinien verlor, war die Quote 27 Prozent höher als gewöhnlich – herausgefunden hat Carroll dies, indem er verglich, wie viel Herzinfarktpatienten wann in die englischen Krankenhäuser eingeliefert wurden. Zudem fiel ihm auf, dass es vergleichbare Phänomen in den Niederlanden gibt, und dass die Opfer selbst zu ihrem Schicksal beitragen, da sie während des Spiels die Dehydrierung ihres Körpers forcieren, vulgo: reichlich einen heben. Möglich aber, dass der Herzkasper nach dem Portugal-Spiel nicht so oft zugeschlagen hat, da die Engländer nach 1990, 1996 und 1998 an Katastrophen gewöhnt sind. Außerdem steht dahin, ob es nur Versager wie David Beckham oder Darius Vassell sind, die das Leben der Fans bedrohen, und nicht auch die pure Freude über einen Sieg ins Verderben führen kann.“

In-ger-laaand, In-ger-laaand

Ronald Reng (Tsp 28.6.) trifft überall englische Fans: „Es war wieder einmal ein ausgezeichneter Moment, einen deutschen Akzent zu haben. „Verdammte Hölle!“, sagte der junge Engländer, „als ich heute morgen in den Spiegel blickte, wusste ich schon, dies ist ein Tag, an dem ich schreckliche Leute sehe.“ Es war der Tag nach Englands Scheitern im Duell aus elf Metern gegen Portugal. „Weißt du, was das allerschlimmste ist?“, fragte er dann. „Ihr Deutschen habt mittlerweile so ein schlechtes Team, dass es überhaupt keinen Spaß mehr macht, euch zu hassen.“ England ist seit Donnerstag nicht mehr im Turnier, aber es sind anscheinend nur elf Engländer nach Hause gefahren. Ihre Fans sind noch immer zu Tausenden da. Sie sind überall: am Strand von Cascais, auf den Toiletten der Autobahnraststätten, auf die sie sich setzen, ohne die Türen abzusperren, in den Stadien. „In-ger-laaand, In-ger-laaand“, schallte es durch das Estadio José Alvalade. Es spielte Frankreich gegen Griechenland. Das Viertelfinale England gegen Portugal war das wohl erste Match in der Geschichte der EM, in dem der Gastgeber kein Heimspiel hatte: Auf den Tribünen saßen 20 000 Portugiesen und 40 000 Engländer, so viele wie schon in der Partie zuvor gegen Kroatien.“

„Der Fußball hat einen Schritt vorwärts gemacht. Er ist noch einmal schneller und flexibler geworden“, schreibt Peter Heß (FAZ 28.6.): “Die Spiele in Portugal erlauben uns Deutschen einen Blick in eine Fußball-Dimension, die uns die Bundesliga nicht bietet. Der starke Eindruck, den diese EM auf ihre Beobachter macht, entsteht zuallererst durch die ungeheure Intensität und das horrende Tempo der Spiele. Lauffreude und Kampfeswille sind bekannte Qualitäten des deutschen Fußballs, in Portugal werden auch in dieser Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt. Nach der Vorstellung des Portugiesen Cristiano Ronaldo gegen England müssen entweder die Trainingslehrbücher neu geschrieben oder die Dopingtests erweitert werden. Wenn wieder einmal ein Bundesligatrainer behauptet, sein Team könne unmöglich neunzig Minuten Forechecking betreiben, sollte ihm sofort das Video der Partie Portugal gegen England vorgespielt werden. Darin sieht man Ronaldo, wie er sich am gegnerischen Strafraum in einem Dribbling gegen zwei Engländer aufreibt, dann vor dem eigenen Tor in letzter Sekunde rettet, schließlich den Gegenangriff einleitet und auch abschließt. Diese drei Szenen spielten sich alle in der 115. Minute ab. Die EM verwöhnt die Zuschauer aber auch mit den feineren Dingen des Fußballs. Die Spieler haben ihre Körperbeherrschung und Ballfertigkeit bis zum Artistischen gesteigert. Ibrahimovics Ausgleichstreffer gegen Italien war reif für das Varieté. Der Schwede ist der Auffälligste aus einer Generation, die sich nicht mehr damit zufriedengibt, so zu spielen, wie es alle anderen zuvor taten. Die „Moves“ der nordamerikanischen Basketballprofis sind Ibrahimovics Vorbild. Er schwärmt von den Spielzügen, die die coolen Riesen immer neu entwickeln, die nicht nur dem Erfolg, sondern auch dem Showeffekt geschuldet sind. (…) Alles, was die Deutschen dem Fußball jemals gaben, waren Disziplin, Willensstärke und Kondition. Aber die Normen, die sie setzten, haben alle anderen längst erreicht. Nun wäre es an der Zeit, demütig die Fähigkeiten der anderen zu kopieren. Und nicht nach jedem glücklichen Teilerfolg zu sagen: „Wir können weitermachen wie bisher.“ Jeder Jugendtrainer, der seinen Spielern verbietet, den Ball auf der Hacke tanzen zu lassen, vergeht sich an der Zukunft des deutschen Fußballs.“

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