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Ball und Buchstabe

Steigerung des Nonplusultra

Oliver Fritsch | Freitag, 2. Juli 2004 Kommentare deaktiviert für Steigerung des Nonplusultra

Wie beladen und gestützt zugleich

Christoph Biermann (SZ 2.7.) hätte gerne im portugiesischen Mannschaftsbus gesessen: „Wieder war der Hubschrauber dem Mannschaftsbus gefolgt und hatte alle Stationen auf der Reise ins Glück dokumentiert. Live übertrug das portugiesische Fernsehen, wie die Mannschaft ihr Trainingscamp in Alcochete verließ, auf der riesigen Vasco-da-Gama-Brücke den Tejo überquerte, um dann von der Polizeieskorte weiter ins Estadio José Alvalade zum Halbfinalspiel gegen Holland geleitet zu werden. Noch mehr Boote hatten unter der Brücke auf die Passage der Helden gewartet als vor den anderen Spielen, noch länger war der Schweif von Motorradfahrern, die dem Bus folgten, und noch mehr Menschen als bei den Spielen zuvor hatten entlang der Straße gestanden, waren aufgeregt herumgehüpft, hatten ihre Fähnchen geschwenkt und den Spielern zugejubelt. „Es war unglaublich“, erzählte später Miguel, der junge Verteidiger, dessen Leistung viel zum Sieg beigetragen hatte, weil er Arjen Robben aus dem Spiel nahm und den Gegner damit um eine seiner größten Stärken brachte. „Die Erwartungen bedeuten zwar einerseits Druck, aber zugleich haben wir uns frei gefühlt“, sagte Miguel, „als wir am Stadion ankamen, haben wir geglaubt, dass wir nur gewinnen können.“ Man kann nur erahnen, was es wirklich bedeutet haben mag, im portugiesischen Mannschaftsbus zu sitzen. Jeder Spieler musste merken, wie beladen und gestützt zugleich er durch die Erwartung eines ganzen Landes war. Eine Erwartung, die weit über das hinausgeht, was Fußballspieler normalerweise in ihrem Leben erfahren. Auch sonst mögen Profis die Hoffnungen des Publikums spüren, wenn große Derbys anstehen oder entscheidende Spiele um Titelgewinne. Sie mögen ahnen, welche Wünsche sich an ihre Leistungen knüpfen, wenn sie aufgeregte Berichte in den Zeitungen lesen, die Dauerberichterstattung im Fernsehen verfolgen oder hier und da auf ihre Fans treffen. Aber in diesem Bus bekam das eine zusätzliche Qualität, die nicht mehr abstrakt war. Auf jedem Meter der dreißig Kilometer langen Fahrt war das konkret zu erfahren, mit jedem Blick in ein neues Gesicht entlang der Straße. „Das ist einer der Gründe, die uns Stärke geben“, sagte Miguel, und er untertrieb dramatisch. Portugals Mannschaft erfährt gerade das beste Doping, das es im Fußball gibt. Sie spürt die Zuneigung des Publikums in einem Maße, wie das wohl nur wenige Fußballspieler je erlebt haben. Inzwischen hat Portugal sich in einen Rausch gesteigert, der dem in Südkorea ähnlich ist. Aber er geht deshalb weiter, weil Portugal lange schon ein Land des Fußballs ist und die Begeisterung nicht die Naivität hat wie vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft in Fernost. Die Portugiesen wissen auch, dass ihre Mannschaft keine überragende ist, aber sie ahnen, dass sie die Gunst der Stunde nutzen könnte.“

Steigerung des Nonplusultra

Der Finaleinzug der Portugiesen hat eine historische Dimension, und auch ihr Trainer ist entzückt, weiß Peter B. Birrer (NZZ 2.7.): „Luiz Felipe Scolari erreicht den nächsten Gipfel. Falls immer noch einige Trainer behaupten, dass auf dem Fussball-Planeten nichts mehr kommen könne, nachdem man als Coach der brasilianischen Seleção mehr als einen Monat überlebt habe, müssen die ihre Meinung revidieren. Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Gewinn des WM-Titels mit Brasilien in Yokohama erfuhr Scolari gemäss eigenen Aussagen noch die Steigerung des Nonplusultra. Brasilien sei damals in Japan bereits zum fünften Mal Weltmeister geworden, blickte Scolari zurück, Portugal steht demgegenüber erstmals im EM-Endspiel. Deshalb sei die Finalqualifikation für sein Curriculum wichtiger als der WM-Titel, übertrieb Scolari in der Hitze des Momentes. Zum Abschluss seiner vergnüglichen Redestellte Scolari mit einem Ehering, den er sich vor laufenden Kameras an den Finger steckte, bildhaft dar, dass er die Heirat mit dem portugiesischen Verband bis 2006 verlängere. (…) Als die Selecção spät in der Nacht im Mannschaftsbus im Camp in Alcochete eintraf, war die Strasse noch immer mit gegen den Bus trommelnden Menschen gesäumt – und das portugiesische Fernsehen live auf Sendung. Der 30. Juni 2004 geht nicht nur für Scolari in die Geschichte ein. Am gleichen Tag, exakt vor 13 Jahren, wurden Luis Figo und Rui Costa in Lissabon Juniorenweltmeister.“

Hunde werden in portugiesische Nationaltrikots gezwängt

Sven Goldmann (Tsp 2.7.) feiert mit den Portugiesen: „Es ist eine laute Nacht in Rot-Grün, und wer je die Partytauglichkeit einer Autohupe angezweifelt hat, der muss sich den nächtlichen Korso durch Lissabon ansehen. Vom Estadio José Alvalade die Nord-Süd-Achse hinunter bis zum Rossio, dem zentralen Platz der portugiesischen Hauptstadt. Alle machen sie mit, die Polizeiautos, die Linienbusse, die Fahrzeuge der Stadtreinigung und die ungezählten Privatautos, aus denen sich junge Mädchen und alte Männer recken. Mitten auf der Avenida da Republica steht ein Kipplaster, beladen mit einer rot-grünen Menschenmasse, die er immer wieder nach oben hebt und fallen lässt. Hunde werden in portugiesische Nationaltrikots gezwängt, und patriotische Taxifahrer lassen auf ihren Leuchtschildern gleichzeitig die rote (Taxi besetzt) und die grüne Diode (Taxi frei) leuchten. Dazu dröhnen die Hupen, aber sie können nicht den Refrain der Nacht übertönen, von Tausenden immer wieder gesungen bis zur glückseligen Heiserkeit: „Portugal olé, Portugal olé, Portugal olé!“ In dieser Nacht räumen die Portugiesen auf mit dem Vorurteil, sie seien eine Nation von romantischen Melancholikern, dem traurigen Fado verfallen und unfähig zur Ausgelassenheit. Nie ist die Wesensverwandtschaft zur früheren Kolonie Brasilien so deutlich wie bei der improvisierten Festa da Lisboa, die keinen Vergleich zum Karneval in Rio scheuen muss.“

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