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Deutlicher Beigeschmack von Neid

Oliver Fritsch | Mittwoch, 7. Juli 2004 Kommentare deaktiviert für Deutlicher Beigeschmack von Neid

in die Freude der Türken über den Erfolg der Griechen mischt sich ein deutlicher Beigeschmack von Neid (Tsp) – Griechenlands Nationalmannschaft, ein Jurassic Park des Ballsports (Zeit) – die EU-Kommission hat die italienische Regierung formell aufgefordert, das „salva-calcio“-Gesetz zu ändern (NZZ)

Thomas Seibert (Tsp 8.7.) bemerkt Neid in der Türkei: „Die roten Fahnen mit Halbmond und Stern und die weiß-blauen Flaggen mit dem Kreuz wehten in trauter Eintracht nebeneinander. Nach dem Triumph der griechischen Nationalmannschaft bei der EM in Portugal feierten mehrere hundert griechische und türkische Fans gemeinsam auf dem Taksim-Platz im Herzen von Istanbul. Auch die türkische Presse freute sich: „Der Pokal steht jetzt auf der anderen Seite der Ägäis“, lautete eine Schlagzeile. Doch in die Freude mischt sich ein deutlicher Beigeschmack von Neid. „Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich sei nicht neidisch gewesen“, bekannte einer der prominentesten Journalisten der Türkei, Mehmet Ali Birand, nach dem EM-Finale. Griechenland, das mit seinen knapp elf Millionen Einwohnern weniger Einwohner hat als die türkische Metropole Istanbul, hat erreicht, wovon 70 Millionen Türken seit Jahren träumen: einen international bedeutenden Titel, der das Image des Landes im Westen mit einem Schlag verändert. Der dritte Platz der Türkei bei der WM 2002 war zwar ein Achtungserfolg, aber für die EM konnten sich die Türken nicht qualifizieren. (…) Dass die türkisch-griechische Harmonie ihre Grenzen hat, zeigte sich auch auf der geteilten Mittelmeerinsel Zypern. Nach diplomatischem Hin und Her entschied das griechische Olympische Komitee, die Flamme nicht in den türkischen Teil tragen zu lassen. Auch die EM führte auf Zypern zu Krach zwischen den Volksgruppen. Während in Istanbul gemeinsam gefeiert wurde, sollen in einem der wenigen von Griechen und Türken bewohnten Dörfer auf Zypern siegestrunkene Griechen auf das türkische Bürgermeisteramt geschossen haben.“

Griechenlands Nationalmannschaft, ein Jurassic Park des Ballsports

Sehr lesenswert! Richard Herzinger (zeit.de 5.7.) greift tief in die Sprüche-Kiste: „Fußball – das ist, wenn 22 Leute hinter einem Ball herrennen und am Ende gewinnt immer Deutschland. Dieser legendäre Ausspruch eines frustrierten englischen Kickerstars aus den achtziger Jahren hat sich am Sonntag auf unheimliche Weise einmal mehr bestätigt. Die Deutschen schon in der Vorrunde ausgeschieden? Ausdruck eines jahrelangen Niedergangs deutscher Fußball-Dominanz? Kein Problem. Rechtzeitig hat Deutschland eine Wunderwaffe exportiert (nicht umsonst nennen wir uns so gerne „Export-Weltmeister“), die an fernen Gestaden eine Art Team Deutschland II oder auch Deutschland Classic aufgebaut hat. König Otto Rehakles schuf aus griechischem Rohmaterial eine genetische Kopie des deutschen Ledertreter-Ungeheuers, das in früheren Jahrzehnten alle freudig, fröhlich und naiv aufspielenden Rivalen niedertrampelte, und von dem sich die große globale Fußballwelt schon erlöst gewähnt hatte. Rennen bis zum Umfallen, Räume zu und eng machen, kämpfen mit unverwüstlicher Kondition und eiserner Disziplin bis zur letzten Sekunde, mit unbeirrbarer Konsequenz durch Kampf zum Spiel finden und so weiter, das war die Rezeptur, die Otto im Reagenzglas ins hellenische Exil mitnahm und in die ihm zur Verfügung gestellten südländischen Körper einimpfte. Griechenlands Nationalmannschaft, ein Jurassic Park des Ballsports. Dellas, der Hellas-Briegel. (…) Welche Magie war da im Spiel? Nun, ein kulturhistorischer Rückblick führt das Geschehen aus der Twilight Zone wieder in die Gefilde rationaler Erklärbarkeit zurück. Dass ausgerechnet Griechenland als Wiedergänger teutonischer Fußball-Glorie auftrat, ist kein Zufall. Ja, nur mit Griechenland war solche faustische schwarze Verwandlungskunst möglich. Denn ist nicht Griechenland im Grunde an sich ein Geschöpf deutscher Imagination? Hat nicht die Griechenlandsehnsucht der deutschen Klassik und Romantik, von Winkelmann bis Schliemann, im 18. und 19. Jahrhundert jener südbalkanischen Hirtenbevölkerung, die ihre glorreiche antike Vorgeschichte längst vergessen hatte, überhaupt erst die Idee ins Ohr geblasen, sie seien die nationalen Erben der größten Kultur aller Zeiten? Die alten Griechen der Neuzeit wollten die Deutschen sein und es damit ihren Rivalen im Westen, den Welschen und dem perfiden Albion zeigen, welche sie als Nachfahren der mit roher Gewalt über die Welt herrschenden Römer ansahen.“

Neues aus Berlusconien, meldet die NZZ (8.7.): „Der Streit zwischen Brüssel und Rom über das „Salva calcio“-Gesetz zur finanziellen Entlastung der oft hoch verschuldeten Fussballklubs geht in die nächste Runde: Die EU-Kommission hat am Mittwoch die italienische Regierung formell aufgefordert, das Gesetz zu ändern. Erhält sie binnen zweier Monate keine zufriedenstellende Antwort, kann sie den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anrufen. Der umstrittene Erlass vom Februar 2003 enthält Vorschriften über die Rechnungsabschlüsse von Profi-Sportvereinen, darunter der Fussballklubs der Serie A. Nach Auffassung der Kommission verstösst er gegen die EU-Rechnungslegungsvorschriften, da die Jahresabschlüsse einiger Sportvereine kein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der finanziellen Lage bieten. So können die Klubs Wertminderungen von Vermarktungsrechten an Profis in der Buchhaltung als Aktiva ausweisen und über zehn Jahre abschreiben. Nach den EU-Vorschriften darf die Abschreibung nicht länger dauern als die Vertragslaufzeit selbst, die bei Spielerverträgen viel kürzer ist.“

Zeit-Interview (8.7.) mit Peter Neururer

Meine Herren, sie stehen fast so da wie bei der ersten Tanzstunde

Thomas Kistner (SZ 8.7.) berichtet das Zusammentreffen der 74er: „Es ist zurzeit überall im deutschen Lande eine Menge geboten in Sachen fußballerischer Denkmalpflege. In München hätte es sich dieser Tage glatt gelohnt, auf dem Marienplatz jemand mit einem Megaphon herumzuschicken, um folgenden protokollarischen Hinweis zu verkündigen: „Wir bitten nun alle Teilnehmer an den Gedenkfeierlichkeiten für die Helden von Bern 1954 den Platz zu räumen, damit in Kürze die Helden von München 1974 einmarschieren können – wir danken für ihr Verständnis!“ Dienstag feierten die 54er, Mittwoch war es gleich wieder so weit, mit Franz Beckenbauer an der Spitze nahmen die Fußball-Weltmeister von 1974 das Rathaus in Beschlag. Obwohl, so raumgreifend war die Präsenz der Müller, Overath, Hoeneß, Breitner, Bonhof, Netzer, Vogts und Kollegen (nur Grabowski, der 60. Geburtstag feierte, Heynckes, Höttges, Nigbur, Kremers, Herzog fehlten) nicht: „Meine Herren, sie stehen fast so da wie bei der ersten Tanzstunde“, neckte Oberbürgermeister Christian Ude das Heldenaufgebot im Kleinen Sitzungssaal, wo der Eintrag ins Goldene Buch der Stadt stattfand. (…) Und so trafen sich 30 Jahre danach die Helden von einst zur großen Nostalgie-Party, auch die Spieler der damaligen DDR-Auswahl waren samt Trainer Georg Buschner nach Bayern gereist – und mit Jürgen Sparwasser, der seinen legendären Treffer heute eher als Fluch empfindet: Einmal, weil er fortan zuhause als Günstling der Parteibonzen galt, mit Auto, Haus und anderen schönen Dingen, von denen er tatsächlich nur weiter träumen konnte in einer Magdeburger Mietskaserne. Und dann, weil jenes Tor der DDR seinerzeit in eine Zwischenrundengruppe verhalf, die sich als „Todesgruppe“ herausstellte, wie Mayer-Vorfelder genüsslich anmerkte: Brasilien, Argentinien und das Sensationsteam aus den Niederlanden waren damals eindrucksvoller als die Gruppengegner der DFB-Auswahl: Jugoslawien, Schweden, Polen. Um so schwerer wog der deutsche Endspieltriumph über die Holländer, die ja „knapp, aber immerhin mit 2:1 geschlagen wurden“, wie Ude fand – und dafür ein paar strenge Blicke kassierte.“

Der kurze Sommer der Ottokratie

Stefan Willeke (Zeit 8.7.), Wunder über Wunder: „Otto Nikopoldis, Otto Seitaridis, Otto Dellas, Otto Basinas, Otto Zagorakis, Otto Giannakopoulos, Otto Charisteas, Otto Fyssas, Otto Vryzas, Otto Kapsis, Otto Katsouranis und als Einwechselspieler Otto Venetidis, gefolgt von Otto Papadopoulos. Wie die meisten anderen Journalisten dachte auch ich, man müsse sich die Namen der griechischen Spieler nicht merken. Trainer Otto Rehhagel und seine Griechen liefen bei mir unter der Rubrik „Der kurze Sommer der Ottokratie“. Aber Rehhagel hat alle Zweifler eines Besseren belehrt, sein Sommer ist sensationell lang geworden. Europameister Griechenland, wie kann man diesen Siegeszug erklären? Keinem gelingt das überzeugend, und deswegen hat jetzt das „Wunder“ Konjunktur. (…) Einmal, nach einem EM-Spiel der englischen Mannschaft, fuhr ich in der Nacht stundenlang zurück zur Südküste. Ich war hundemüde. Kurz vor dem Ziel, es war drei Uhr früh, stauten sich die Autos vor der Mautstation am Ende der Autobahn. Überall Engländer, eine Schlange aus rot-weißen Flaggen. Warten, anfahren, bremsen, dösen, warten. Plötzlich hupte alles, weil ein Fan aus einem Auto gesprungen war. Ich dachte zuerst, ich halluzinierte. Der Mann hatte sich nackt ausgezogen, rannte auf das Kassenhäuschen zu, blieb dann abrupt stehen, schmiss seine Arme empor und schrie wie von Sinnen: „Inglänt!“ Danach lief er unter tosendem Applaus zurück zu seinem Wagen, zog sich wieder an und zahlte an der Kasse brav 16 Euro 35. Nationalmannschaften, sagt man, könne man nicht wirklich lieben. Im Fall von England bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher.“

Otto Rehhagel hat sich als der große Meister der plebejischen Schlauheit erwiesen

Der griechische Schriftsteller Petros Markaris (Welt/Feuilleton 7.7.) weiß den Sieg Griechenlands historisch-philosophisch einzuschätzen: „Nein, dachte ich fünf Minuten vor dem Ende des Spiels, es kann nicht sein, dass wir die Portugiesen 1:0 besiegen. Unsere Plebejer proben zwar den Sieg, werden aber mit leeren Händen nach Hause gehen. Fünf Minuten später waren wir Europa-Meister, aber keiner glaubte daran. Weder die Spieler, noch die Zuschauer in Lissabon, Portugiesen und Griechen, noch weniger die Millionen Griechen, die vor ihren Fernsehschirmen saßen. Wie konnte man es auch glauben? Man bedenke doch, welche Fußballsstars uns den Weg sperrten: Luis Figo, Deco, und Pauleta; Raul, Vicente und Paco Morientes; Zinedine Zidane und Thierry Henry; Baros und Pavel Nedved. Die sind doch mindestens eine Million Euro pro Fuß wert. Und was hatten wir dagegen anzubieten? Trajianos Dellas, der zwar in Roma spielt, aber den Ball kaum zweimal während des Campionatto berührt hat. Jiorgos Karagounis, der bei Inter ist, aber nur ab und zu in der letzten Viertelstunde eingesetzt wird. Und Angelos Charisteas von Werder Bremen, der seit Dezember fast nicht mehr gespielt hat. Viele haben sich über das defensive Spiel der griechischen Mannschaft ironisch, oder gar verächtlich geäußert. Wenn man aber gegen Goliaths überleben will, muss man sich wie David verhalten. Anders herum gesagt: Wenn man jeden zweiten Abend gegen ein anderes Römisches Reich kämpft, braucht man das Durchhaltevermögen und die Schlauheit der Plebejer. Lassen wir mal die beiden Mannschaften beiseite, und nehmen uns die Trainer vor. Auf der einen Seite Felipe Scolari, der vor einigen Jahren Brasilien – unbesiegt! – zur Weltmeisterschaft geführt hat. Auf der anderen Seite Otto Rehhagel, vor der Übernahme der griechischen Nationalmannschaft arbeitslos und in Deutschland in Verruf geraten. Der Vergleich besagt alles, nur eines nicht; dass nämlich Otto Rehhagel sich als der große Meister der plebejischen Schlauheit erwiesen hat. Otto Rehhagel war vielleicht der einzige, der immer an den Sieg geglaubt hat. Und es war ihm vollkommen egal, ob die Mannschaft modernen oder altmodischen Fußball spielte. „Modern ist, wenn man gewinnt“, antwortete er einmal auf die Frage eines deutschen Sportjournalisten. Ein anderer, auch deutscher Sportjournalist, schrieb vor einigen Tagen, dass Otto Rehhagel den Griechen die harte Arbeit, die Disziplin und das Engagement beigebracht hätte; und er fügte, etwas bitter, hinzu: „Alle jene deutschen Eigenschaften, die die deutschen Spieler nicht mehr haben.“ Die Letzten werden die Ersten sein, sagt die Bibel. Kann sein, dass sie einmal Recht hat.“

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