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Sehnsucht nach Fußballkunst

Oliver Fritsch | Donnerstag, 16. September 2004 Kommentare deaktiviert für Sehnsucht nach Fußballkunst

17. September

„Die bezaubernde Schönheit Bayer Leverkusens“ (FR) / „Real Madrid kommt die ganze übrige Fußball-Welt wie Mainz vor“ (FAZ) – Anders Frisk erleidet Gewalt im dekadenten Fußball-Rom – „Bayern Münchens Sehnsucht nach Fußballkunst“ (SZ) u.v.m.

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Bayer Leverkusen-Real Madrid 3:0

Real kommt die ganze übrige Fußball-Welt wie Mainz vor

Wie kommt der klare Sieg zustande, Peter Heß (FAZ 17.9.)? “Das nackte Resultat drückt unzureichend aus, mit welcher Wucht und Konsequenz Bayer Leverkusen die „Galaktischen“ und „Königlichen“ genannten Stars von Real Madrid an die Wand spielten. Ein Wunder? Nein. Zuallererst bleibt festzuhalten: Das 3:0 wurde möglich, weil viele Leverkusener Spieler über ein exzellentes Format und über ein exquisites Talent verfügen. Zugegeben, daran herrschten lange Zeit Zweifel. (…) Leverkusen hat wieder eine Mannschaft beisammen wie 2001/02, als Ballack, Zé Roberto und Bastürk im Verbund mit Bernd Schneider die Fußballwelt spielend aus den Angeln hoben und bis ins Finale der Champions League gelangten. Wieso die Helden vom Mittwoch ihr Können in der Vergangenheit nicht oder nur zum Teil abrufen konnten, ist nicht mit schlechten Trainern oder falscher Taktik erklärt. Die Psyche entscheidet zuallererst im Fußball. Sie kann begnadete Talente so blockieren, daß sie von motivierten, braven Fleißarbeitern überflügelt werden. (…) Real gab ein erschütterndes Bild ab. Satt und blasiert bereitete es Bayer die Bühne für die Glanzvorstellung. Aber kann das wirklich überraschen? Was haben Zidane, Figo, Ronaldo, Beckham und Raúl sich und der Öffentlichkeit nach zehn Jahren Weltruhm noch zu beweisen? Bei Real spielen keine Galaktischen mehr, sondern Kicker für Galas. Die Künstler im weißen Ballett sind grau geworden und gelangweilt. Ihnen kommt die ganze übrige Fußball-Welt wie Mainz vor.“

Weltraumschrott

Bernd Müllender (taz 17.9.) hat Real Madrid nicht erkannt: „Auch musikalisch hatte alles gepasst. Als Real endlich nach vielen Chancen das erste Tor kassierte durch Krzynoweks 33-Meter-Kracher, spielten sie „Knockin on Heavens Door“ ein wie einen ironischen Gruß an die Galaktischen, die sich in diesen Sphären auskennen müssten. Zur Pause liefen ein paar Takte Star Wars und nach Francas 2:0 „Freude schöner Götterfunken“. Real im Delirium. Dann ging der Regie die beziehungsreiche Musik aus. „Raumpatrouille“ wäre noch was gewesen: die Königlichen als Weltraumschrott an den Rand der Unendlichkeit geschickt. Peter Schillings Ohrwurm hätte die Bayer-Darbietung gut beschrieben: „Völlig losgelöst“. Die entrückten Fans verabschiedeten Real zu „Go West“ mit donnerndem Chor „Was wollt ihr in der Champions League?“ Eine gute Frage. Unvergesslich war nicht nur die packende Fußballshow, sondern auch Minute 58: Da war Luiz Nazario Da Lima Ronaldo ausgewechselt worden. Der große, einst sausewindige Schrecken aller Abwehrreihen, ersetzt durch einen Senor Albert López Celádes. Als die Nr. 9 aufleuchtete zum Zeichen des Spielertauschs, war ein seltsamer Geräusch-Mix aus Staunen, Freude und Entgeisterung durchs Rund gegangen. Ronaldo als unbrauchbar abgestempelt – das war schon ein historischer Moment. Wann ist der Mann je nach weniger als einer Stunde aussortiert worden? Ronaldo hatte die Existenz von Gegenspielern als eine Art surreale Beleidigung aufgefasst. Mehrfach wollte er bockig genau da hin, wo schon einer stand, und prallte regelmäßig mit seinem etwas zu rundlichen Körper ab.“

Bezaubernde Schönheit

Erik Eggers (FR 17.9.) nennt die Leverkusener Erfolgsfaktoren: „Leverkusen hatte die schlechte Vorstellung der „Galaktischen“ erzwungen mit der beinharten Spielweise, die der englische Schiedsrichter Graham Poll zugelassen hatte. Dieser harte Stil bildete die Grundlage dafür, dass Leverkusen wie ein Sturm über Real hinwegfegte. „Sie haben uns einfach überrollt“, urteilte ein frustrierter Real-Coach Camacho, der Ronaldo und Figo direkt nach dem 0:3 auswechselte – um ein noch schlimmeres Debakel zu verhindern. Das Angriffsspiel Leverkusens erinnerte an die grandiose Saison 2001/02, in der die Mannschaft erst knapp im Endspiel an Madrid gescheitert war und Europas Fußballfans begeistert hatte. Das von Ponte angetriebene Kurzpass-Spiel im Mittelfeld war von bezaubernder Schönheit, der Hochgeschwindigkeits-Takt der Kombinationen raubte den spanischen Spielern im Wortsinn den Atem.“

AS Rom-Dynamo Kiew 0:1 Abbr.

Er soll sterben

Dekadentes Rom – der Schiedsrichter Anders Frisk erleidet Gewalt eines Zuschauers. Dirk Schümer (FAZ 17.9.) berichtet „ein skandalöses Fußballspiel, mit dem Rudi Völlers Mission, den AS Rom zu einem europäischen Spitzenklub zu machen, schon gescheitert sein dürfte (…) All die Hypotheken lasten über einer frisch angebrochenen Saison, die für Völler angesichts der sportlichen und ökonomischen Ungewißheiten sowieso ein Risiko bedeutete. Seine Sentimentalität für den alten Verein, in dem er als Spieler einst große Erfolge feierte, hat den Ehemann einer Römerin bereits die gewohnte Heiterkeit gekostet. Völler beklagte nach dem Spielabbruch nicht nur die Attacke auf den Unparteiischen, sondern auch die generelle Disziplinlosigkeit seiner Spieler. Jungstar Antonio Cassano hatte der Trainer nach verbalen Entgleisungen beim vormittäglichen Training bereits nach Hause geschickt. Andere – wie Kapitän Totti – seien körperlich nicht fit. Völler ging mit seinem neuen Arbeitgeber hart ins Gericht: „Hier in Rom habe ich Dinge vorgefunden, die nicht zu einer Profimannschaft gehören.“ (…) Mindestens ebenso schwer wie die Entgleisung eines einzelnen wiegt aber der Sittenverfall beim Kollektiv der römischen Fans. Als der Stadionsprecher Frisks Verletzung bekanntgab, brach auf den Tribünen ein Jubelsturm los, und die berüchtigte Kurve skandierte: „Er soll sterben.““

Wir exportieren beide eine siegreiche Idee in die Welt – Sie das Christentum, ich den AC Mailand

Birgit Schönau (SZ 17.9.) kritisiert die Entwicklung des italienischen Fußball: „Die neuen Hooligans kommen aus Italien, und sie stehen – der Vorfall in Rom beweist es – nicht nur in den Fankurven, sie besetzen eben nicht nur die billigen Plätze. Der Mann, der dem schwedischen Schiedsrichter Frisk einen metallenen Gegenstand mit so viel Wucht an den Kopf geworfen hat, dass der Referee blutüberströmt in die Kabine flüchten musste, saß auf der Ehrentribüne. 100 Euro kostet dort ein Platz – wenn man nicht eingeladen ist. Der italienische Fußball befindet sich schon lange im rechtsfreien Raum. Wer auf dem grünen Rasen absteigt, kann per Gerichtsbeschluss oder Notverordnung der Regierung trotzdem noch den Klassenerhalt schaffen; wer Pleite ist, muss deshalb noch lange nicht aus den Annalen verschwinden; wer schwarze Wetten organisiert, braucht nur einen guten Anwalt und wird milde Richter finden. Fußball ist für viele Italiener eine Ersatzreligion, getreu dem Credo ihres Ministerpräsidenten, der einst Papst Johannes Paul II. erklärte: „Wir exportieren beide eine siegreiche Idee in die Welt – Sie das Christentum, ich den AC Mailand.““

Peter Hartmann (NZZ 17.9.) fügt hinzu: „Völler wird es im surrealen römischen Treibhausklima schwer haben mit seinen Vorstellungen von deutscher Ordnung und Disziplin.“

Maccabi Tel Aviv-Bayern München 0:1

Wir hoffen, daß irgendwann der Knoten platzt

Bayern München spielt wie seit Jahren in der Champions League, redet aber jetzt anders. Michael Borgstede (FAZ 17.9.) sammelt Stimmen: „“Für die Bayern war mal wieder der Moment der Selbstkritik gekommen. Die deutlichsten Worte fand wie gewöhnlich Oliver Kahn. „In der ersten Halbzeit haben wir Angsthasen-Fußball gespielt. Wir haben überhaupt nichts zustande gebracht und die Bälle nur blind nach vorne gehauen oder quer gespielt.“ Felix Magath fand etwas freundlichere Worte, stimmte seinem Kapitän aber im Grunde zu. Wie soll die von ihm geforderte „Wende um 180 Grad“ bis zum nächsten Spiel gegen Borussia Dortmund eintreten? „Es werden allesamt schwere Wochen“ lautete Rummenigges Antwort. Dies sei „nicht der Fußball, mit dem wir auf lange Sicht Erfolg haben werden“. So gab man sich bei den Bayern etwas gezwungen hoffnungsvoll. „Wir hoffen, daß irgendwann der Knoten platzt“, sagte Uli Hoeneß. Auf dem Platz ließ der Auftritt der Bayern zu wünschen übrig, mit ihren freundlich-unpolitischen Interviews jedoch redeten sie sich in die Herzen der Israelis. Magath bedankte sich für die Gastfreundschaft und sagte, er werde „jederzeit mit Freunden zurückkommen“. „Wir hatten zwei tolle Tage in Israel“, sagte er. Rummenigge soll vom lokalen Essen geschwärmt haben und die Internetseite der Zeitung „Maariv“ verkündete ungläubig, daß deutsche Zeitungen einigen israelischen Spielern bessere Noten gegeben hätten als den Bayern-Akteuren. „Verloren – aber ehrenvoll“, lautete dann auch die Schlagzeile des Artikels. Es ist zweifelhaft, ob man sich in Tel Aviv über die Niederlage mehr ärgerte als in München über den mühsam errungenen Sieg.“

Sehnsucht nach Fußballkunst

Klaus Hoeltzenbein (SZ 17.9.) ergänzt: „Alles könnte in Ordnung sein – beim alten FC Bayern. Der neue aber will mehr, er will nicht ein 1:0 in Tel Aviv an ein 1:0 gegen Bielefeld addieren, er sehnt sich nach einer Fußballkunst, von der die Menschen zwischen den grünen Hügeln Irlands und den Reisfeldern Asiens anders sprechen sollen als Rummenigge in seinen Mitternachts-Spitzen: Probleme habe das Personal, das „Selbstvertrauen zu finden, das man braucht, um diesen Fußball zu spielen, den die Mannschaft eigentlich qualitativ drin hat“. (…) Wie in der Vorsaison wirken die Münchner, als hingen sie an Roy Makaays Tropf, würden gespeist von den Toren eines Einzigen, der nach einem langen Fußball-Sommer ermattet wirkt. Folglich war die Rede Rummenigges im Kern ein Flehen an einen Schwerkranken, sich in Bälde zu Glanz und Größe zu erheben: „Ich möchte Euch bitten, und wünsche Euch auch viel Glück dabei, dass ihr in den nächsten Spielen die Kräfte bündelt.“ Hey, du ewiger Patient, wirf“ deine Krücken weg und laufe! Wunder aber sind knapp geworden in der Gegend um Tel Aviv, die letzten liegen zwei Jahrtausende zurück. Was im Stadion geboten wurde, war schwere Plackerei.“

Schwarz kann als Farbe missverstanden werden

Raphael Honigstein (FR 17.9.) fügt hinzu: „Sein Bild von Tel Aviv sei „völlig revidiert“ worden, sagte Rummenigge im „Grand Ballroom“ des Hilton Hotels, und erinnerte daran, dass der Club auch eine „sportpolitische Verpflichtung“ in Israel wahrgenommen habe: „Ich denke, dass sich hier jeder gut verkauft hat.“ Das von ihm gelobte „Fingerspitzengefühl“ beim Umgang mit den Gastgebern hatte sich noch kurz vor Anpfiff in der Kabine bemerkbar gemacht. Die Bayern spielten anstatt in den neuen, schwarzen Champions-League-Trikots doch in Rot-Weiß. „Schwarz kann als Farbe missverstanden werden“, erklärte Rummenigge einem israelischen Reporter, „wir wollten lieber auf Nummer Sicher gehen.“ Sehr zum Leidwesen der 50 mitgereisten Bayern-Fans schien die Mannschaft diese sympathische Idee etwas zu wörtlich verstanden zu haben. Anders ist es kaum zu erklären, mit welcher Lust- und Ideenlosigkeit die Kugel durchs Mittelfeld gekullert wurde, während sich die Israelis über das gemächliche Tempo in der Königsklasse wunderten. Der nicht gerade für seine Unfehlbarkeit auf der Linie bekannte Maccabi-Torwart Liran Strauber bekam gerade mal einen einsamen Schuss vor die Fäuste, und die von Trainer Felix Magath konzipierte Taktik mit drei Angreifern mutete mitunter wie ein im internationalen Fußball nur selten praktiziertes 4-6-0-System an.“

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