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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Ein Tor war ein Tor und keine Erlösung

Oliver Fritsch | Sonntag, 21. Mai 2006 Kommentare deaktiviert für Ein Tor war ein Tor und keine Erlösung

Holger Gertz (SZ/Seite 3) schreibt über die Qualität eines guten, alten TV-Reporters und spricht uns tief aus der Seele: „Rolf Kramer erlebt so etwas wie eine Renaissance. Vom Tagesspiegel wurde Kramer in die Traum-Elf der besten Reporter gewählt. Sentimentale Begründung: ‚Er klang merkwürdigerweise immer nach Mono-Empfang, mit weit aufgedrehtem Höhenregler.‘ Er klingt immer noch so. Rolf Kramer hat für das ZDF die WM-Finals 1978 und 1986 übertragen. Er hatte es nicht leicht mit den Kollegen von den Boulevardzeitungen, weil er mit denen nicht kungeln wollte. Entsprechend waren die Kritiken seiner Reportagen: zu trocken, zu viele Pausen. In der Rückschau wirkt diese Kritik noch lächerlicher als damals schon. Er hat die spannendsten Spiele kommentiert, das Halbfinale 1982, Deutschland gegen Frankreich; das Endspiel 1986. Manchmal sagte er nur einen Namen, ‚Kaltz‘, und dann Ewigkeiten nichts, manchmal hörte man ihn nur leise atmen. Er war nicht aufdringlich, aber er gab einem das Gefühl, nicht allein zu sein mit so einem Spiel. Kramer war Fußballreporter in einer Zeit, als das ZDF noch nicht gezeichnet war von der Töpperwienisierung und Verposchmannung der Gegenwart; als noch Harry Valérien auf Sendung ging mit ausführlichen Dopingbeiträgen; als das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich nicht vom Massengeschmack erziehen ließ, sondern die Massen, gerade im Sport, selbst ein bisschen erzog. Als es die private Konkurrenz noch nicht gab und der Fußball, bei aller Hysterie, etwas flacher gehalten wurde. Er hat aufgehört, weil er spürte, dass man jetzt anders reden muss, lauter. 1984 war das Privatfernsehen eingeführt worden. Er hat dann beim ZDF hinter den Kulissen gearbeitet und ist jetzt im Ruhestand, und er hört zu, wie die anderen das machen. Sie machen es anders, und er will nicht sagen, dass sie es schlecht machen. Aber er hat damals gelernt, dass, wenn der Ball im Tor liegt, man nicht groß rumschreien muss. Und als ihm einmal ein Kollege gesagt hat, ein bisschen mehr Chauvinismus dürfe er ruhig einfließen lassen in seine Reportagen, ‚da war ich geschockt‘. Dabei mochte er den Kollegen sehr. Also, Deutschland war eine Mannschaft in seinen Reportagen, kein Symbol. Ein Tor war ein Tor und keine Erlösung. Ein Spiel war ein Spiel, Fußball war nicht das Gefühlskino, das vielen jetzt so auf den Geist geht.“

Gegensätze

Jürgen Kaube (FAZ/Leitartikel) versucht schlau zu werden aus den Widersprüchen des Fußballs und aus der aktuellen Fußballhermeneutik der Soziologen, Philosophen und anderen Sternedeutern und kritisiert das Fernsehen: „Schaut man sich die vielen Deutungen an, so laufen sie auf einen Gesamtbefund hinaus: Fußball ist offenbar alles – und dessen Gegenteil. Religion, heißt es, sei er, Kunst, Kommerz, Männerdomäne, Gewaltspektakel, Residuum nationalistischer Hochstimmungen – und dann wieder genau das Umgekehrte: ganz weltlich, reiner Spaß, mit erfolgreichen Teams aus armen Ländern, mit zunehmendem Interesse bei Frauen, mit leichtfüßigen Gewinnern und Mannschaften, die schon darum überwiegend aus Spielern ‚mit Migrationshintergrund‘ bestehen, weil Arbeitsmigration im Spitzenfußball der Normalfall ist. Auf der einen Seite wird behauptet, im Fußball zeigten sich uralte, rituelle Bedürfnisse, oder gar, Fußball sei pure Emotion. Auf der anderen Seite weiß jeder, wie durchanalysiert das Spiel inzwischen ist und daß sich ganze Wissenschaftszweige damit befassen, woran man möglichst früh Talente erkennt und wie man am besten trainiert. Oder ein anderer Gegensatz: Aus dem Ei gepellte Figuren wie Oliver Bierhoff erzählen etwas von fehlenden Bolzplätzen, während der Sportartikelkonzern 110 Euro für seinen WM-Ball verlangt. (…) Daß aber soviel mittelmäßige Soziologie beim Reden über das Spiel ins Spiel kommt und die Phrase vom ‚Spiegel der Gesellschaft‘ sich hält, liegt vor allem an der riesigen Lücke, die seit Jahren das Fernsehen läßt. Denn von wem, wenn nicht von den Fernsehkommentatoren, würde man denn Recherche, Deutung oder wenigstens kontrastreiche Beschreibungen erwarten? Aber die allermeisten reportieren nicht, sie apportieren nur, als letztes Glied der Verwertungskette und völlig distanzlos, so als gehörte ihnen der Fußball und sie ihm. Darin steckt das Verständnis, die Medien hätten die Aufgabe, um jeden Preis Begeisterung zu übermitteln, und am meisten begeisterten sich die Leute, wenn man ständig schwer auf die Pauke haut. Aber Fußball ist nicht begeisterungszufuhrbedürftig. Sondern einfach und kompliziert, offenkundig und voller Hinterbühnen. Wo immer sich also ein Stammtisch oder ein Podium seiner annimmt, geschieht das zu Recht: Es muß darüber geredet werden. Und je besser, desto besser.“

Sehr lesenswert! Jorge Valdano gilt als klügster Kopf des Fußballs. Ein Gespräch in Spiegel Special über Kapitalismus und Kreativität

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