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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Wir spielen dynamisch. Wir spielen offensiv. Wir spielen in der Zone

Oliver Fritsch | Dienstag, 6. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Wir spielen dynamisch. Wir spielen offensiv. Wir spielen in der Zone

Das fruchtbare Schweizer Ausbildungssystem imponiert Christoph Biermann (SZ): „Viel haben sie ausprobiert seit der Stunde Null des Schweizer Fußballs im Frühjahr 1994, als sich die Schweiz gerade für die WM in den USA qualifiziert hatte. Ein historisches Ereignis war das damals, denn nach dem Turnier in England 1966 hatte die einst große Fußballnation fast drei Jahrzehnte lang weder an WM- noch an EM-Endrunden teilgenommen. Daher verknüpfte der neue Sponsor des SFV, eine Bank, die Unterstützung mit der Vorgabe, dass die Hälfte des Betrages in die Nachwuchsförderung fließen sollte. Am 1. Januar 1995 nahm Hansruedi Hasler seine Arbeit als erster Sportdirektor in der Geschichte des SFV auf. Der ehemalige Erstligaprofi hatte zuvor 20 Jahre als Erziehungswissenschaftler an der Sporthochschule Magglingen gearbeitet und entwickelte ein Konzept, wie der Schweizer Fußball systematisch Anschluss halten könnte. Ein halbes Jahr lang bereiste er dazu Europa und untersuchte die Arbeit mit Fußballtalenten in acht Ländern; in seinen Entwurf flossen viele Elemente aus Frankreich, aber auch Dänemark oder vom damals erfolgreichen schweizerischen Ski-Verband ein. Seither ist die Zahl von nur vier hauptberuflichen Nachwuchstrainern in der Schweiz auf sechzig gestiegen. Es gibt einen Ausbildungsfonds in Zusammenarbeit mit der Swiss Football League, in den bei jedem Transfer festgelegte Beträge eingezahlt werden müssen. Beim Verband ist die Zahl der professionellen Trainer seit 1995 von einem auf nun zehn gestiegen. Ihre Hauptaufgabe besteht vor allem im ‚Controlling der Vereine‘, sagt Hasler. Das bedeutet allgemeine Hinweise zur Trainingsarbeit, teilweise auch individuelle Vorschläge für Spieler aus den Nachwuchs-Nationalmannschaften. Zudem soll die Spielphilosophie des Verbandes in die Vereine getragen werden. Wobei die Spielphilosophie auf schriftlich dargelegten Maximen des Spiels beruht. ‚Wir spielen dynamisch. Wir spielen offensiv. Wir spielen in der Zone‘, heißen die drei Hauptvorgaben. Sie drücken sich etwa darin aus, dass der erste Pass eher ruhig gespielt werden soll und der lange Pass nach vorne nicht gerne gesehen ist.“

Geschenk der Globalisierung

Michael Horeni (FAZ) wiegt die Bedeutung des Fußballs und der WM für Ecuador: „Das Land, in dessen ethnischer Vielfalt sich seine Geschichte spiegelt, ist so heterogen wie seine Landschaften. 35 Prozent der Bevölkerung sind Mestizen, ein Viertel ist europäischer Abstammung, mindestens 20 Prozent sind Indigenas und 15 Prozent Mulatten. Die Mulatten sind afrikanischer Abstammung, sie kamen im 16. Jahrhundert als Sklaven in das Gebiet des heutigen Ecuadors. Nur 5 Prozent der Ecuadorianer sind schwarz – aber 100 Prozent der Nationalmannschaft. Die Schwarzen in Ecuador sind eine Klasse für sich. Sie gehören zu den Ärmsten, sie haben kaum Zugang zur Bildung, in der politischen und wirtschaftlichen Elite sind sie praktisch nicht zu finden. Ihnen wird im täglichen Leben oftmals mit Mißtrauen begegnet. Wer arm und schwarz ist, der ist auch kriminell, heißt es im Volk oft. Auch die Nationalspieler haben früh den Rassismus kennengelernt, und wenn sie nicht im Fußball Karriere gemacht hätten, dann hätte nur ein kärgliches Leben auf sie gewartet. Der Fußball ist für die schwarzen Ecuadorianer eine Rettungsinsel, aber er wirkt auch auf die anderen 95 Prozent der Bevölkerung. (…) Die Schwierigkeiten des Landes, in dem es in den letzten Jahren langsam, zu langsam aufwärtsgeht, wird die WM nicht vertreiben. Aber das zerrissene Land will sich eine Pause von der Misere gönnen. Ganze Dörfer im Süden bewohnen mittlerweile nur noch Frauen, weil die Männer vor allem als Handwerker ins Ausland gegangen sind. 1999 mußte sich der Staat zahlungsunfähig erklären. Die Reichen schaffen ihr Geld aus dem Land, die ins Ausland vor der Not Geflüchteten schicken zurück nach Ecuador, was sie können. Im öffentlichen Reden ist die Nationalmannschaft der Stolz aller Ecuadorianer. Aber eigentlich ist es der Erfolg, den er symbolisiert. Aber das Land versteht nicht einmal, seinen Ölreichtum richtig zu nutzen. (…) Die WM in Deutschland mit dem Gastgeber als Gruppengegner ist für die Wirtschaftselite des Landes ein Geschenk der Globalisierung.“

Triste Perspektiven

Die WM als Ablenkung von der Politik, von den Politikern und von ihren Fehlern? Gerd Kröncke (SZ/Politik) legt die Hoffnung der französischen Regierung dar: „Sie spielen auf Zeit und hoffen, dass schon alles vorbeigehen wird, irgendwie. Das Jahr bis zum Ende der Amtszeit des Jacques Chirac kann sich noch quälend lange hinziehen. Ihm und seiner schwächlichen Regierung bleibt immer noch genügend Zeit für neue Fehler und neue Skandale. Die Endlos-Affäre Clearstream, die Premierminister Dominique de Villepin durch Aussitzen politisch zu überleben versucht, ist auch noch nicht überstanden. Aber die entscheidende Schwächung hatte der Präsident schon mit dem Scheitern des Verfassungsreferendums vor genau einem Jahr erfahren, seither ist nichts besser geworden. Die Regierenden in Paris hangeln sich von Woche zu Woche. Nun hoffen sie auf die Fußball-Weltmeisterschaft, darauf, dass in wenigen Tagen die Politik von einer wichtigeren Nebensache für ein paar Wochen ins Abseits gerückt wird. Danach muss der Präsident noch sein jährliches Fernsehinterview zum Nationalfeiertag am 14. Juli überstehen, und dann kommt die Sommerpause. So triste sind die aktuellen Pariser Perspektiven.“

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Willkommen im Holodrom

Berlin ändert zur WM sein Gesicht, und das Feuilleton der FAZ ballt die Fäuste: „Lissabon hat sich zur Expo 1998 eine komplett modernisierte, auch ästhetisch faszinierende Infrastruktur gegönnt, und Barcelona wurde seinerzeit für die Olympischen Spiele regelrecht neu erfunden. In Berlin hingegen scheint die drohende WM das Gegenteil hervorzutreiben. All die repräsentativen Orte der Hauptstadt, die seit dem Mauerfall mit viel Geld und einigem Erfolg hergerichtet wurden, werden nun gezielt infantilisiert und entstellt. Daß ausgerechnet neben dem Sitz des Deutschen Bundestages eine riesige Kopfschmerztablette aufgerichtet wurde, mag noch als besonders subtile Form der Parlamentarismuskritik erklärt werden. Warum aber ist die schöne, weite, gerade erst angepflanzte Rasenfläche vor dem Reichstag platt gewalzt und asphaltiert worden, um dort einen Rummelplatz der Firma Adidas einzurichten? Wer war der historisch unterbelichtete arme Tropf, der ausgerechnet am Bebelplatz, dem Ort der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen, einen silbrigen Bücherturm aus Kunststoff hat hochstapeln lassen – nicht etwa zum Gedenken an die barbarische Tat, sondern zur Feier der Erfindung des Buchdrucks? Vermutlich muß man schon dankbar sein, daß die Stelen des Holocaust-Mahnmals nicht allesamt Nationaltrikots übergestülpt bekommen haben oder zu Sitzplätzen für Live-Übertragungen der WM umgewidmet wurden: ‚Willkommen im Holodrom, freier Eintritt, alle Spiele in historisch prickelnder Atmosphäre!‘“

Leere

Harry Nutt (FR/Politik) fühlt sich unfreiwillig an dunkle Zeiten erinnert: „Was an der wundersamen Stadtverpuppung Staunen macht, ist die geschichtsvergessene Arglosigkeit, mit der freimütig ins Gigantische geträumt wird. Vielfach werden ästhetische Anleihen bei den Licht- und Bildkünsten einer Leni Riefenstahl gemacht, ohne dass auch nur schamhaft auf den Zusammenhang von Massenspektakel und politischer Verführbarkeit hingewiesen wird. Es verbietet sich, von einer unschuldigen Gestaltungsfreude zu sprechen, die aus arglos und mit einigem Größenwahn an mehreren Stellen in der Stadt entstandenen Instantbauten hervorragt. Um es mit den Worten herkömmlicher Kulturkritik zu sagen: Die Fifa-WM ist ein monströses Medienspektakel, dessen selbstherrliche Inszenierungswucht eng verwandt ist mit der politischen Ästhetik der Olympischen Spiele von 1936. (…) Eine deutsche Selbstdarstellung zur WM hätte gewiss nicht von einem belehrenden Geschichtsseminarismus begleitet werden müssen. Nun aber, wo alles hinter der seltsam künstlichen Größe eines ‚Walk of ideas‘ verschwindet, der die industrielle Leistungsfähigkeit der Deutschen ausgestellt wissen will, wird eine Leere sichtbar, zu der ein Schuss Selbstreflexion gut gepasst hätte.“

FAZ: eine Sammelrezension über Fußball-Hörbücher (Günther Koch, Philipp Köster und andere)

FR: Rezension über Ror Wolfs Fußball-Hör-Collagen

FR: Ahmadinedschads brauner Fanclub – in Leipzig wollen Deutschlands Neonazis Irans Fußballer „begrüßen“, die Antifa-Szene hält gegen

taz-Interview mit dem FDP-Politiker Burkhard Hirsch über die Sicherheitspolitik bei der WM

Ballgeschiebe

Die Frankfurter Rundschau sendet einen Strauß Blumen: „Dass ein Netzblog auch intelligent gemacht werden kann, zeigt die Seite indirekter-freistoss.de. Hier schiebt man sich auf anspruchsvollen Niveau ohne jeglichen Belehrungssound die Bälle zu.“

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