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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Beamter im Ball

Oliver Fritsch | Sonntag, 11. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Beamter im Ball

Holger Gertz (SZ/Seite 3) verbittet sich mit Beginn der WM Nörgeleien über den Gastgeber: „Der Fußball hat eine Menge anderer, wichtigerer Themen überlagert in den vergangenen Monaten, er konnte einem lästig werden, Franz Beckenbauer war zu oft im Fernsehen, die Geldgier der Fifa ist unerträglich, aber jetzt muss man ein sehr hartnäckiger Fußballverachter sein, um nicht zu sehen, dass Fußball etwas anstellt mit den Leuten. 45.000 waren beim öffentlichen Training der Deutschen, 25.000 bei den Brasilianern. 3.000 Rotenburger haben sich gefreut über ihr Team aus Trinidad und Tobago, und auch wenn man das nicht verrechnen kann mit rassistischen Überfällen im Osten: ‚Die Welt zu Gast bei Nazis‘, wie die taz neulich schrieb – das ist natürlich zu pauschal. Sie geben sich Mühe mit ihren Gästen, die Deutschen, auf ihre Art. Sie freuen sich, bei der obskuren Fifa-Kartenlotterie ein Ticket ergattert zu haben für ein Gurkenspiel wie Tunesien gegen Saudi-Arabien. Sie tanzen nicht, sie können nicht so gut tanzen. Aber sie bringen Blumen mit. Und die Bahn zwingt ihr Personal in den Bahnhöfen in riesige Fußbälle, aus denen sie Auskünfte erteilen über den Weg der Züge. Dort sitzen Beamte in Uniform, und wenn einer von draußen ein Foto machen will, winken sie aus dem Fußball heraus, manchen ist das vielleicht ein wenig peinlich, manche macht es eher stolz. Die Fotos werden jedenfalls später ein schönes Zeitdokument sein vom Sommer 2006: Ein Beamter im Ball. Deutsche Korrektheit in verspieltem Rahmen.“

Du bist Bayer!

Jens Weinreich (BLZ) rümpft die Nase bei der Eröffnungsfeier: „Diese 18. Fußball-Weltmeisterschaft hätte kaum attraktiver beginnen können. Damit ist allerdings nicht jene seltsame Eröffnungsshow gemeint, als Schuhplattler, Kuhglockenschwinger und andere bajuwarische Gestalten, die merkwürdige Hüte trugen, auf dem mit riesigen bunten Matten abgedeckten Rasen herumstampften. ‚Du bist Deutschland‘, hieß er nicht so, dieser arg patriotische Slogan? Am Freitag in München hätte er lauten müssen: Du bist Lederhose! Oder: Du bist Bayer! Edmund Stoiber wird’s gefallen haben. Restdeutschland rieb sich verwundert die Augen. Und der Rest der Welt wird darüber debattieren, ob dies die schlechteste Eröffnungsfeier der vergangenen zwei Jahrzehnte war.“

Sucht euch bitte jemand anderen!

Stefan Niggemeier (FAS/Medien) äußert Kritik an Kerner und Co.: „Das große Talent von Johannes B. Kerner ist es, aus dem Stegreif scheinbar druckreife Sätze formulieren zu können. Als Füllwörter fügt er nicht ‚äh‘ oder ‚öhm‘ ein, sondern Begriffe wie ’sehr herzlich‘ oder ‚ganz außerordentlich‘. Wie Stuck kleben wichtigtuerische Substantivkonstruktionen in seinen Sätzen. Das große Talent von Jürgen Klopp ist es, daß er es merkt. Der Mainzer Trainer ist nicht nur deshalb so ein Glücksgriff für das ZDF, weil er es schafft, Kompetenz und Verständlichkeit zu kombinieren, sondern auch, weil er der ideale Sidekick für Kerner ist. Mit einem einzigen Laut kann er die Luft aus einer Kerner-Frage herauslassen. Wenn der fragt, ob es nicht ein Fehler war, daß die Nationalmannschaft noch nie in der neuen Münchner Arena gespielt hat, macht Klopp ein Geräusch wie ‚öapf‘, was klingt wie: ‚Ja, Gott, man kann natürlich in alles etwas hineininterpretieren, aber für diesen Kindergartenkram sucht euch bitte jemand anderen!‘ Als Kerner eine lange Reihe von Statistiken zitiert und nach der ‚Magie‘ von Eröffnungsspielen fragt, sagt Klopp: ‚Mir ist das scheißegal, wie die alle gespielt hatten‘, und das Publikum in der ‚ZDF-Arena‘ applaudiert. (…) Die Zeiten, in denen die Privatsender den Öffentlich-Rechtlichen zeigten, wie man eine Fernsehsendung state of the art inszeniert, sind vorbei. Ich möchte lieber nicht wissen, was die ‚ZDF-Arena‘ am Potsdamer Platz gekostet hat – aber genau so muß heute ein WM-Studio aussehen, und genau so muß man das Studio, die Spiele und die Analysen in Szene setzen. Und zu Ingolf Lücks witzig gemeinter Sendung ‚Nachgetreten‘, in der Mike Krüger sagte, er hätte gedacht, Ecuador würde als Hauptexporteur von Guano auch ‚Scheiße spielen‘, und selbst das hoffentlich alkoholisierte Publikum auf mehrere Holländerwitze mit Totenstille reagierte, nur soviel: Ich habe mir die Namen aus dem Abspann notiert. Die merk ich mir. Alle.“

Organisierbar

Die SZ kommentiert die Ankündigung der iranischen Regierung, den Vizepräsidenten Mohammed Aliabadi zur WM zu senden, um die Spiele der Nationalmannschaft zu besuchen: „Hinter der Entscheidung steckt eine vielschichtige Botschaft: Erstens wollen die Iraner nicht unnötig provozieren, indem sie den Holocaust-Leugner und Reiz-Präsidenten Ahmadinedschad schicken. Zweitens wollen sie sich einen Besuch aber auch nicht verbieten lassen. Drittens wäre es ja auch seltsam, wenn ein delikater Besuch aus Iran das politische Deutschland aus dem Gleichgewicht würfe, während eben dieses Deutschland als Teil einer globalen Allianz mit Iran Verhandlungen führen möchte. Der Umgang mit Iran und seinen politischen Vertretern ist nicht einfach, aber er ist organisierbar.“

Triumph des Fußballs über die Ernsthaftigkeit

Die WM, ein Fenster für Diplomatie – Gunter Gebauer (BLZ): „Welche Chance würde sich der Diplomatie eröffnen, wenn Präsident Ahmadinedschad zum Anfeuern der iranischen Sache in ein deutsches Stadion käme! Die amerikanische Öffnung gegenüber China wurde seinerzeit durch die so genannte Ping-Pong-Diplomatie von US-Tischtennisspielern erreicht. Jetzt böte sich Steinmeier die Chance, am Entmüdungsbecken in den Stadionkatakomben das iranische Atomprogramm mit westlichen Vorstellungen kompatibel zu machen. Mit dem diplomatischen Gebrauch der WM wird eine neue Vorstellung von Politik in die Tat umgesetzt: Im Unterschied zu früher werden die Probleme der Gegenwart nicht für die Zeit des Turniers vergessen, sondern in ein Stadion geholt und hier dem Unernst des Spiels ausgesetzt. Der Stimmung in der Arena widersteht kein Ernst der Welt. (…) In den nächsten Wochen wird man den Triumph des Fußballs über die Ernsthaftigkeit erleben. Vielleicht wird es unter seinem Einfluss gelingen, politische Probleme herunterzuspielen. Es bleibt die Frage, ob sich die wichtigen Dinge unserer Zeit davon erholen werden.“

Abgelenkt

Die FAZ durchschaut die derzeitige Betriebsamkeit der deutschen Politiker: „Wer hat nicht in Kindertagen versucht, den Eltern schlechte Schulnoten bei frohgemuten Anlässen ‚unterzujubeln‘? Ganze Schülerkohorten spekulierten darauf, daß die Väter in Siegeslaune vom Fußballplatz nach Hause kamen. Die Nachsicht der Eltern war im Augenblick angenehm, doch rächte sich die neunmalkluge Taktik oft auf lange Sicht. Ein sofortiges Donnerwetter hätte dem schulischen Erfolg wahrscheinlich mehr gedient. Die Kinder von damals sind die Politiker von heute. Die Taktik von damals haben sie anscheinend beibehalten. Die gut vier Wochen der Weltmeisterschaft sind seit langem mit dicken Balken im politischen Kalender nicht nur der großen Koalition markiert: nur vordergründig, um keines der Spiele der berühmten Mannschaften, vor allem Deutschlands, zu verpassen, in Wahrheit aber, um immer genau zu wissen, wann die Bürger abgelenkt oder gar siegestrunken genug sind, um nebenbei die schlechten Nachrichten aus den Regierungsvierteln ‚durchzuwinken‘.“

Reformunfähig

Die SZ ärgert sich über die Gewerkschaft Verdi, die in Thüringen verhindert hat, den Ladenschluß während der WM aufzuheben: „Die Welt zu Gast – vor verschlossenen Ladentüren: Die Gewerkschaft präsentiert sich als Besitzstandswahrer und Risikovermeider. Bei der Weltmeisterschaft hätte sich zeigen können, ob und wie längere Öffnungszeiten sinnvoll sind. Doch die Verdi-Klagen belegen, wie reformunfähig Deutschland beim Ladenschluss ist. Es wird ja keiner gezwungen, sein Geschäft rund um die Uhr aufzumachen. Er sollte es aber dürfen.“

BLZ: Rein rechtlich gehört die WM der Fifa, die Deutschen sind nur Lizenznehmer und nicht Herr im eigenen Land

SZ: Wir sind Bierhoff – vom „positiven Patriotismus“ im Land der Gurus und Nörgler

FR: Volker Bouffier und Daniel Cohn-Bendit sehen keine Gefahr für Nationalismus

SZ: Wie die Kirchen im Münchner Dom die WM-Eröffnung zelebrieren

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