indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Gruppe E

Oliver Fritsch | Mittwoch, 14. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Gruppe E

Begeisternd offensiv

Von wegen Catenaccio – Jörg Marwedel (SZ) bejubelt das 2:0 Italiens gegen Ghana (wir dachten immer, das sei deutschen Journalisten untersagt): „Totti ist Italien. Er ist der Genius in einem Volk aufbrausender Calcio-Verrückter. Und wenn das, was er bei seiner Rückkehr auf die Weltbühne zeigte, erst die von ihm taxierten 70 Prozent seines Leistungsvermögens waren, dann darf man jubeln zwischen Mailand und Palermo. Abgesehen von ein paar Auszeiten, die sich der Kapitän des AS Rom gönnte, prägte er zusammen mit dem überragenden Torschützen Andrea Pirlo und dem wendigen Stürmer Luca Toni sofort wieder das Spiel dieser begeisternd offensiven Mannschaft. Sein Beitrag: Krachende Distanzschüsse, sehenswerte Tempowechsel, blitzschnelle Pässe in den Lauf der Stürmer. Überhaupt hatte es nur wenige Schwächen in dieser harmonischen Elf gegeben. Vielleicht waren das die Außenverteidiger Grosso und Zaccardo. Auch am Scharnier zwischen Abwehr und Mittelfeld muss noch geschraubt werden. Das wurde in der ersten Halbzeit deutlich, als oft eine viel zu große Kluft zwischen den Mannschaftsteilen klaffte, und der verletzte Nahkämpfer Gattuso vermisst wurde. Es eröffnete den Afrikanern mehrere Chancen, die sie aber überhastet vergaben.“

Staunen

Frank Heike (FAZ) ergänzt und nennt die wenig überraschenden Mängel Ghanas: „Natürlich kann eine solch weitreichende Manipulationsaffäre ein Nationalteam nicht unbelastet hinterlassen, wenn selbst Akteure aus dem Herzen der Mannschaft wie Torwart Buffon involviert sind. Insofern war das kollektive Aufatmen der Italiener verständlich. Unbeeinflußt von ‚Moggi-Gate‘ hatte Lippi seinem Team ein kluges taktisches Gerüst verpaßt, an das es glaubte und das gegen keinesfalls schwache Ghanaer bis zum Ende beeindruckend stabil blieb. Es war dann doch die offensivere Variante mit Totti als Mann hinter den Spitzen und zunächst ohne Mauro Camoranesi, der Lippi vertraute. Auch der zuletzt angeschlagene Nesta war dabei. Das ergab ein italienisches Team mit den bekannten Qualitäten: nahezu fehlerlos in der Defensive, stark im Zweikampf, kompakt im Mittelfeld, gut im Ausnutzen der Möglichkeiten und einzigartig beim Verteidigen einer Führung. (…) Die Ghanaer zeigten bei ihren drei guten Möglichkeiten im ersten Durchgang eine derart bizarre Schußtechnik, das einzig die Fans auf den oberen Rängen bedroht waren, nicht aber das italienische Tor. Es mag ein nicht auslöschbares Klischee sein, doch seit Jahren sieht man, daß viele afrikanische Fußballer immensen Nachholbedarf in Sachen Schußtechnik haben (daß Torwart Richard Kingson bei jedem hohen Ball danebengriff, erinnerte an ein anderes Vorurteil). So brachte der gekonnte ghanaische Balltransport durchs italienische Mittelfeld zwar das Publikum zum Staunen, störte die italienische Mannschaft aber nicht weiter.“

FR: Andrea Pirlo hat gegen Ghana nicht nur mit seinem Treffer seinen Wert für Italiens Nationalteam demonstriert

Motivation durch Lob

Tomás Rosicky, der Mann des Spiels. Thomas Klemm (FAZ) schildert, wie ihn sein Trainer zu solch guten Leistungen bringt: „Karel Brückner, in seiner Heimat als ‚Magier‘ bekannt, läßt seine technisch hochveranlagten Offensivspieler zaubern, motiviert einen einst Sensiblen wie Rosicky, indem er ihn in den höchsten Tönen lobt. Brückner bat ihn, nach der Auszeichnung zum ‚Mann des Spiels‘ noch einen Augenblick zu verweilen, um dann vor aller Ohren zu sagen: ‚Ich möchte Arsenal dazu gratulieren, so einen phantastischen Spieler verpflichtet zu haben.‘ Bereits zuvor hatte Brückner dem jüngsten aus seiner alternden Offensivabteilung die große Bühne bereitet, ihn ausgewechselt, damit Rosicky den wohlverdienten Sonderapplaus der 20.000 Tschechen auf den Tribünen einzig und allein genießen konnte.“ Thorsten Jungholt (Welt) sieht das tschechische Mittelfeld als Ganzes: „Wenn Rosicky der Kopf der Tschechen ist, ist Nedved das Herz. Er stellt sich mit seinem aggressiven, laufintensiven und fintenreichen Spiel ebenso in den Dienst des jüngeren Mitspielers wie der Rest des Mittelfelds.“

Man lebt nur einmal

Daniel Theweleit (SZ) rückt den enttäuschenden Amerikaner Landon Donovan in den Blickpunkt: „Es gibt Menschen, die fühlen sich nur in der Heimat wohl, und wenn man ein Kalifornier ist, passiert das vielleicht besonders leicht. Für den Zauber des historisch beladenen Fußballs vom alten Kontinent hat er jedenfalls nicht mehr viel übrig. Dass seine Entwicklung darüber irgendwann zu stagnieren droht, scheint ihm mittlerweile egal zu sein. In einem Interview hat er einst gesagt: ‚Jeder sagt mir, es sei so wichtig, in Europa zu spielen. So großartig. Man müsse da spielen, um auf dem nächsten Level anzukommen. Stimmt ja. Aber: Es geht doch darum, glücklich zu sein. Man lebt nur einmal.‘ Wenn der Herbst kommt, wird es viele große Fußballer geben, die Landon Donovan um diese Leichtigkeit, um diese Unabhängigkeit und um das Wetter in seiner Heimat beneiden.“ Thomas Kilchenstein (FR) fragt sich, wieso die USA in Europa immer verlieren und findet in Landon Donovan ein Sinnbild: „Vielleicht steht einer wie Landon Donovan stellvertretend für diese Misere. Auch er, hochbegabt, gesegnet mit einer prima Balltechnik und Übersicht, versucht seit vielen Jahren Fuß zu fassen in Deutschland – und scheitert immer wieder. Im Alter von 17 Jahren kam Donovan, der als Kalifornier natürlich die Sonne und das Surfbrett liebt, zum ersten Mal nach Deutschland. Er galt als das größte US-amerikanische Talent und wurde prompt mit einem Vertrag bis 2008 ausgestattet. Doch der Versuch missriet ihm gehörig. Womöglich war er noch zu jung, zu unerfahren, nach zwei Jahren kehrte er auf Leihbasis nach San José zurück – und blühte in der Major Soccer League prompt auf. Mehrmals wurde er zum wertvollsten Spieler gewählt. Also versuchte er es noch einmal, im Januar 2005, inzwischen gereifter, wagte er den zweiten Versuch – und wieder endete er im Nichts.“

Gruppe F

Mauerblümchendasein abgestreift

3:1 gegen Japan – Uwe Marx (FAZ) bezweifelt, daß Australien seinen nächsten Gegner Brasilien beeindruckt hat: „Mal abgesehen vom furiosen Finale, war es keine Vorstellung, die beim Titelverteidiger Angst und Schrecken auslösen dürfte. Angetreten mit acht Spielern aus England, ging Australien lange Zeit trotz großer Hitze zwar Premier-League-Tempo, allzu erfolgreich war das allerdings nicht. Es gab eine Reihe von Chancen, aber auch ein japanisches Tor.“ Marx fragt sich, warum die Japaner das Tor einfach nicht treffen: „Da war sie wieder, die japanische Schwäche im Abschluß. Sie sind flink, lauffreudig, aber sie treffen das Tor zu selten. Warum es gegen Australien trotz passabler Spielsituation und guter Ansätze nicht häufiger geklappt hat, war die eine schwer zu beantwortende Frage. Die andere: Wie konnten diese Zauderer im Testspiel gegen Deutschland gleich zweimal treffen?“ In der FAZ heißt es über das WM-Fieber im verschneiten Australien: „Um kurz vor ein Uhr morgens brach nach dem dramatischen 3:1 über Japan auf dem fünften Kontinent kollektiver Jubel aus. Straßen wurden blockiert, Fahnen geschwenkt, Autohupen gedrückt, Schultern geklopft und Wildfremde umarmt. Trotz der winterlichen Temperaturen nicht viel über dem Gefrierpunkt hat das Fußballfieber nach dem dramatischen 3:1 höchste Temperaturen erreicht. Tausende hatten das Match im Freien auf Großbildleinwänden in den australischen Großstädten gesehen, viele Pubs waren zum Bersten voll und nutzten die verlängerten Sperrstunden. Das vielen Australiern lange Zeit suspekte ‚Rundballspiel‘, das neben Kricket und Rugby ein Mauerblümchendasein fristete, ist endlich erwacht.“

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

117 queries. 0,452 seconds.