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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Eine Wucht

Oliver Fritsch | Freitag, 16. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Eine Wucht

Timm Kraegenow (FTD) kommentiert die Ausschreitungen in Dortmund: „Die Gewalttäter von Dortmund haben es nicht geschafft, dem bisher sensationell friedfertig und entspannt verlaufenden deutschlandweiten Fußballfest ihren Stempel aufzudrücken. Vieles am Sicherheitskonzept funktioniert: Gewaltbereite ‚Fans‘ werden schon vor Spielbeginn von szenekundigen Beamten lokalisiert und festgesetzt. Die Personalisierung der Tickets für die Stadien hält Hooligans fern – auch wenn in der Praxis die Personalausweise kaum kontrolliert werden. Entscheidend aber für das Gelingen einer friedlichen Weltmeisterschaft ist, wie sich die Masse der Fans verhält. In Dortmund war die Polizei überrascht, dass sich viele normale Fans spontan mit den Hooligans solidarisierten. Das aber ist bisher und zum Glück die ganz große Ausnahme. Bei allen anderen Spielen und in allen anderen Städten waren die Fans eine Wucht.“

Deutschland knutscht und flirtet, es singt und trinkt

Peter Heß (FAZ) kämpft sich durch Berlins Straßen und Fahnen: „Was treibt die Deutschen auf die Straßen? Partylaune, ein Wir-Gefühl oder das Bestreben, die Gunst der Stunde zu nutzen und endlich einen dumpfen Patriotismus ausleben zu dürfen? Wer die abziehenden Fanmassen von der Berliner Fanmeile gesehen hat, wer sich durch die Autokorsi in der Berliner Innenstadt geschlagen hat, kommt zum Urteil, daß die Gefahr eines aufziehenden falschen Nationalstolzes am Fußball-Horizont eher gering einzuschätzen ist. Zwar boomt die deutsche Flaggen-Industrie, die Produktion hat sich verzehnfacht, aber die Fans sehen die Deutschlandfarben eher wie eine Vereinsfahne. Das Publikum schwenkt nicht stolz und ehrfurchtsvoll, sondern wild und unbekümmert. Es verhält sich nicht viel anders als bei der Love Parade, obwohl die Bedröhnung durch Musik längst nicht so umfassend ist. Es knutscht und flirtet, es trinkt und singt. In dieser Berliner Nacht erscheint es unverhältnismäßig, wegen ein paar unverbesserlichen Freunden rechten Gedankengutes und einiger aggressiver Störenfriede die Party im ‚Klub Deutschland‘ schlecht zu reden. Es bleibt zu hoffen, daß sich an diesem Eindruck nichts ändert.“

Bescheidenheit statt Arroganz

Die NZZ bilanziert eine Woche Deutschland: „Schwerer Stand für Deutschland. Beim kleinen Bruder ist das Land der Dichter und Fussballer noch immer nicht in grosser Gunst. Wer dieser Tage in Schweizer Gesellschaft WM-Spiele der Deutschen verfolgt, ist als Sympathisant der Gastgeber allein gelassen. So wälzte jemand während des Spiels gegen Polen ein hinlänglich bekanntes Vorurteil. Betreff? Deutsche Hochnäsigkeit. Allein – wo ist sie geblieben? Die Ur-Einwohner Bad Bertrichs empfingen die Schweizer Gäste mit einem Hauch von Demut. Und wer sagt denn, er wolle Weltmeister werden? Der Schweizer Handballer Alex Frei oder der deutsche Pistenblitz David Odonkor? Odonkor sprach nach dem Sieg fast so schnell, wie er zu rennen pflegt, und bedankte sich bei X und Y in z-facher Ausführung für den Erfolg. Bescheidenheit statt Arroganz. Umdenken tut offenbar not.“

Den Abend vermiest

Oskar Beck (Stuttgarter Zeitung) lacht Lothar Matthäus aus, der an Klinsmann nach wie vor kein gutes Haar läßt: „Falls auch Sie zu uns entfesselten Deutschen gehören, die seit dem Polenspiel vor dem Fernseher vierfache Salti schlagen, halsbrecherisch auf dem Sofa tanzen und mit dem hohen Risiko des blutigen Genickbruchs an die Decke springen, geben wir Ihnen einen guten Rat: Buchen Sie ein Premiere-Abo! Dort spricht Lothar Matthäus. Unser Rekordnationalspieler versteht es, Sie von Wolke sieben wieder herunterzuholen. Als Sachverständiger saß der kommende Hilfstrapattoni von Red Bull Salzburg nach dem Spiel zwischen den Koryphäen Hitzfeld und Rehhagel – oder besser: Wie ein übel gelaunter Experte, dem das 1:0 den Abend verhagelt hatte. Jedenfalls hat er vor einem Millionenpublikum auf die Frage, wie er den deutschen Auftritt fand, ein Gesicht gemacht wie sieben Tage Sauwetter. Matthäus, muffig: ‚Es war ganz sicher kein gutes Spiel.‘ Hoffentlich ist uns nachträglich niemand böse, aber sicherheitshalber haben wir auf der Stelle hinübergezappt zur ARD und zum Sportskameraden Delling, der gerührt schwärmte: ‚Das war mitreißender Fußball.‘ ‚Erstklassiger Fußball‘, nickte Günter Netzer, ‚ich bin begeistert.‘ Na also, es geht doch. Den Grimmepreis hat sich wieder einmal das Duo Delling/Netzer verdient, und zwar diesmal unter dem Motto: Vier Augen sehen mehr als Matthäus. Jedenfalls fragen sich viele: Schaut sich Lothar die WM mit den Hühneraugen an – um nicht erleben zu müssen, dass sein Lieblingsfeind Klinsmann einen Geist entwickelt hat, der womöglich Berge versetzt?“

taz-Debatte Patriotismus

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