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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Uns selbst besser kennenlernen

Oliver Fritsch | Sonntag, 18. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Uns selbst besser kennenlernen

Alexander Marguier (FAZ/Leitartikel) deutet die WM als Deutschlands Spiegel: „In diesen Tagen staunt Deutschland vor allem über sich selbst. Soviel Weltoffenheit, solch eine Unbeschwertheit, eine derart unverkrampfte Gastfreundschaft hätten wir uns gar nicht zugetraut. Klinsmanns Team spielt munteren Offensivfußball, nicht einmal auf das Wetter scheint noch Verlaß: Die hochsommerliche Atmosphäre versetzt das angeblich notorisch trübe Gemüt eines angehenden Globalisierungsverlierers geradezu in Wallung. Sind wir am Ende gar nicht so, wie wir glaubten zu sein? Die große Chance dieser Weltmeisterschaft liegt nicht im gestiegenen Absatz von Turnschuhen, Erfrischungsgetränken, Staubsaugerbeuteln, Schwarzwälder Schinken, Dinkelbrötchen oder was neuerdings sonst noch über eine behauptete Nähe zum Thema Fußball unters Volk gebracht wird. Und natürlich ist das sportliche Großereignis eine zwar nicht einmalige, aber gewiß seltene Möglichkeit, sich dem Ausland als einigermaßen entspannte Nation zu präsentieren, in der Organisation auch ohne Ordnungswahn funktioniert. Der wahre Segen aber besteht darin, daß wir uns bei dieser Gelegenheit selbst ein bißchen besser kennenlernen und vielleicht das eine oder andere Vorurteil in eigener Sache korrigieren können. Der Blick unserer Besucher auf unser Land ist genau dafür ein wertvolles Gastgeschenk: Nicht nur Reisen bildet, sondern auch, besucht zu werden.“

Zwiespalt

Auch Gustav Seibt (SZ/Meinung) kommentiert die Patriotismus-Debatte: „Junge Deutsche sind heute so kosmopolitisch und vielsprachig wie in keiner Epoche früher; der hartnäckige Fremdenhass einer Minderheit gehört zur hässlichen Symptomatik eines verhockten, oft regional beschränkten Verlierertums wie in den anderen Industrienationen auch. Mit der Spaßgesellschaft in Schwarzrotgold hat er wenig zu tun. Wer im Jahr des Mauerfalls geboren wurde, macht in Kürze Abitur – und hatte wenig Anlass und Gelegenheit, ‚an Deutschland zu leiden‘, dafür nicht selten ein reiches Beobachtungsfeld im Ausland, wo keineswegs alles besser ist, aber immer noch viele antideutsche Ressentiments blühen. Und darum sind es derzeit auch weniger die Professoren und Historiker, die wie einst in den achtziger Jahren das Wort des Patriotismus führen, als vielmehr jüngere, agile und oft weitgereiste Publizisten, die ein mechanisches Deutschland-Bashing mit gutem Grund abgestanden finden. Unangenehm wie je ist dabei nur der zuweilen markige Tonfall. Historisches Bewusstsein lehrt, dass Nationalismus immer auch Krieg sein konnte, wie der große Patriot François Mitterrand sagte, weil er sich in der Abgrenzung von Feinden stabilisierte; andererseits bleibt er eine wichtige moderne Form überindividueller, also großherziger Gefühle. Diesen ewigen Zwiespalt spielerisch aufzulösen, dafür ist jetzt gute Gelegenheit. Der Zeichenwelt der Trikoloren muss Ritterlichkeit nicht fremd bleiben, und wenn die Massenkommunikation beim Fußball dazu beiträgt, ganze Völker dafür zu gewinnen, dann hat sich die teure Party gelohnt.“

Der gute alte Schwarzmarkt

Felix Reidhaar (NZZ) fühlt sich gut aufgehoben: „So und nicht anders hat man sich die Weltmeisterschaft bei unserem Nachbarn im Norden vorgestellt. Abermillionen vor den Bildschirmen, Hunderttausende auf den Strassen der Städte, vornehmlich in Dortmund, Berlin und München, den Heimstätten des Gastgeberteams. Überall volle Arenen mit neugierigen Menschen, natürliche und erfrischende Freundlichkeit, wohin man blickt, und bis jetzt eine Organisation, die – wen wundert’s bei deutscher Gründlichkeit – keine Wünsche offen lässt.“ Roland Zorn (FAZ) verweist auf die Funktion des Schwarzmarkts: „Dem Fan gehören die Stadien – auch das ist eine angenehme Erkenntnis aus der ersten WM-Woche, nachdem zuvor immer wieder behauptet worden war, es stehe eine Weltmeisterschaft der Bonzen und Bosse mit allerlei Leerstellen in den Arenen bevor. Der gute alte Schwarzmarkt hat die Dinge im Sinne des Fußballs reguliert.“

Den Teufel an die Wand malen, um ihn zu bannen

Markus Wehner (FAS/Politik) durchleuchtet die Funktion von Kritik, Warnung und Miesmacherei: „Zum ersten Mal seit dem Mauerfall feiert Deutschland sich selbst, ohne nationale Überhebung, aber mit gesundem Selbstbewußtsein. Die Mischung aus Freude und Gelassenheit, Euphorie und Disziplin kommt unangestrengt daher. Selbst Veranstaltungen mit 500.000 Fans auf der Straße des 17. Juni werden so zu einem friedlichen Fest. Daß die Stimmung sensationell ist, hat auch mit der sportlichen Leistung der deutschen Mannschaft zu tun. Klinsmanns junge Elf zeigt begeisternde Spielfreude, setzt auf Risikobereitschaft statt auf Versicherungsmentalität und Wahrung des Erreichten. Das ist auch anders, als wir uns bisher sahen. Bis kurz vor der WM ergingen sich Medien und Fachleute vor allem in der Beschreibung ihrer möglichen Probleme: Die einen pflegten Schreckensvisionen, in denen Horden britischer und polnischer Hooligans das Land brandschatzen, die anderen sahen braune Rotten auf dem Nürnberger Reichstagsgelände aufmarschieren, mit deutschem Gruß dem iranischen Führer huldigend, wieder andere warnten vor Polizeifestspielen im Hochsicherheitstrakt Deutschland, in dem jeder Bürger ausgeforscht und seine Daten mißbraucht würden. Doch wenig davon ist bisher wahr geworden. Selbst das Verkehrschaos ist ausgeblieben. Deutschland ist nicht das, was manche Phantomdiskussion den Bürgern als Zerrbild vorgaukelt. Aber vielleicht gehört auch das zu uns: daß wir stets den Teufel an die Wand malen, in der Hoffnung, ihn so am sichersten bannen zu können.“

Selbstzweifel

Die Lehrergewerkschaft GEW fordert, die Nationalhymne abzuschaffen, und Berthold Kohler (FAZ/Leitglosse) rauft sich die Haare: „Man muß schon ein außerordentlich problematisches Verhältnis zum Konzept des Nationalen und zu seinen Symbolen sowie eine sehr selektive Sicht der deutschen Geschichte haben, um dieser Deutung die Behauptung entgegenzustellen, Strophe drei sei ein nationalistischer Evergreen. Es gibt in modernen Gesellschaften nicht mehr viele Möglichkeiten, sich öffentlich zu der Nation zu bekennen, der man angehört. Doch existiert offenkundig ein solches Bedürfnis. Sind Plätze voller jubelnder Menschen und hupender Autos andererseits schon Beleg für einen neuen deutschen Bekenntnispatriotismus? Ein Grund, in die alten Rituale des nationalen Selbstzweifels zurückzufallen, sind sie jedenfalls nicht.“

SZ: So viel Schwarz-Rot-Gold war nie: Für viele Fans sind die Nationalfarben vor allem ein buntes Kostüm zum Feiern, den patriotischen Druck spüren die Spieler dafür umso mehr

FR: Waffenstillstand während der WM – ungeachtet des Konflikts sehen die Menschen in Nahost begeistert Fußball, der „die Welt vereint“

NZZ: In Afrikas Fußballteams prallen Erste und Dritte Welt aufeinander

Sehr lesenswert! Ein FAS-Stilkritik an den TV-Bildern: Vielen Deutschen ist die Dominanz der Totalen zu wenig emotional

Tagesspiegel: Welche Taktik dominiert die WM? Ein Zwischenfazit

taz: Schauen Frauen wirklich anders Fußball? Interview mit der Ethnologin Almut Sülzle

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