indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Schrei

Oliver Fritsch | Montag, 19. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Schrei

Was sagt uns der Schrei Angela Merkels beim Sieg gegen Polen? Eine sehr lesenswerte ikonographische Exegese von Peter Richter (FAS/Feuilleton): „Und am nächsten Tag dann dieses Merkel-Foto beim Torjubel. Sie sah aus, als habe ihr Lech Kaczynski eine tote Maus auf den Stuhl gelegt. Es war, als sei Edvard Munchs gestohlenes Meisterwerk ‚Der Schrei‘ plötzlich wieder aufgetaucht. Noch nie hat man einen lebendigen Menschen derart gepeinigt aufschreien sehen. Es war das pure Entsetzen, das aus diesem schreienden Kanzlerinnengesicht sprach. Und vielleicht war es ja auch so, daß ihr, der so entschlossen unpathetischen Angela Merkel, schlagartig ins Bewußtsein geschossen war, was hier gerade passierte. Die brachialste Steuererhöhung in der Geschichte, und die Leute schwenken jubelnd Fähnchen. Die gelähmteste große Koalition, die es je gab, und die Opposition turnt bei Schwulendemos in Osteuropa herum. Oder schwenkt jubelnd mit Fähnchen. Die Polizei erkämpft sich das Recht zurück, im Dienst mit Fähnchen jubeln zu dürfen. Die Bild-Zeitung kennt sowieso keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, die die Nationalhymne mitsingen, oder ‚Miesmacher‘ wie den unvermeidlichen Rhetorikprofessor Walter Jens, der mal wieder verlangt hat, das ‚unverständliche‘ Deutschlandlied (‚Glückes Unterpfand‘ und so) gegen Brechts ‚Kinderhymne‘ auszutauschen, als ob ‚Anmut sparet nicht noch Mühe‘ so wahnsinnig viel klarer wäre. Gründe zum Schreien hatte sie also genug. Vielleicht hat sie aber auch nur geahnt, daß sie da gerade einem historischen Moment beiwohnt, der dem Land einen neuen Mythos bescheren könnte, vielleicht sprach also aus diesem Schrei auch nur die Angst, Sönke Wortmann könnte sich die Rechte sichern und etwas noch Entsetzlicheres als ‚Das Wunder von Bern‘ daraus machen. Und dann kommt Schröder zurück, zieht sein Sakko aus, weint ein bißchen, tritt gegen einen Ball und gewinnt wieder.“

Maßstäbe gesetzt

Christian Zaschke (SZ) lobt die Schiedsrichter, insbesondere den Uruguayaner Jorge Larrionda, der einen Italiener und zwei Amerikaner vom Platz stellt: „So hart, so konsequent und doch immer richtig in einem WM-Spiel zu entscheiden, unter gewaltigem Druck und vor den Augen eines weltweit zuschauenden Fernsehpublikums – das ist ebenso beachtlich wie der große Auftritt eines Spielers, der seine Mannschaft zu einem Sieg führt. Es war zudem die bisher beste von vielen durchweg guten Schiedsrichterleistungen. Freuten sich die Schiedsrichter nach der ersten WM-Woche darüber, dass niemand über sie sprach, weil sie nicht weiter aufgefallen waren und relativ wenige schwere Fehler begangen hatten, so können sie sich seit diesem Wochenende darüber freuen, dass über sie gesprochen wird, weil einer der ihren Maßstäbe gesetzt hat. Die erste, ruhige Woche deutete an, dass die Leistungen der Schieds- und Linienrichter besser sein würden als bei der WM vor vier Jahren, als das Niveau mancher Referees und vieler Linienrichter lausig war. Die zweite Woche, in der der Druck größer wird, deutet an, dass es ein Turnier der sehr guten Schiedsrichterleistungen werden könnte.“

FR: Lob für die Schiedsrichter

Zurück zu den Wurzeln

Marc Heinrich (faz.net) schätzt das Public Viewing: „Auch wenn es in vielerlei Hinsicht angebracht ist, über die Fifa zu meckern, muß festgehalten werden: Mit den Fan-Festen, mit dem Public Viewing, so der Fachbegriff, hat der Weltverband den jungen Fans, dem Fan-Nachwuchs, eine bislang nie dagewesene Zugangsmöglichkeit erschaffen. Es erschließt Kreise von neuen Interessenten, die aus Neugierde mitgehen. Die WM raus aus den Stadien hinein ins weite Land zu bringen, war die weiseste Entscheidung, die die Fifa, das deutsche Organisationskomitee und Rechteinhaber Infront treffen konnten. Football’s coming home, singen sie in den Stadien. Der Fußball kehrt zu seinen Wurzeln zurück. Überall in Deutschland kann man in diesen Tagen in den Schlager einstimmen.“

Heimstatt der guten Laune

Jörg Schindler (FR) erkennt Berlin nicht wieder: „Es gab Zeiten, da konnte man in Berlin keinen Fleischerladen betreten, ohne mindestens einmal mit einem herrlichen ‚Ham wa nich‘ abgebürstet zu werden. Zeiten, in denen einen Autofahrer ungerührt über den Haufen fuhren, wenn man einen Meter neben dem Zebrastreifen die Fahrbahn betrat. Harte Zeiten. Aber auch ehrliche. Vielleicht lohnt es sich, jetzt, da die WM in ihr zweites Drittel einbiegt, noch einmal daran zu erinnern. Denn wie es aussieht, kommen sie so schnell nicht wieder. Es ist Merkwürdiges geschehen mit dieser Stadt, seit sich ein gewisser Philipp Lahm darin gefiel, einen weißen Ball mit aufgedruckten Slipeinlagen in ein von Costa Rica gehütetes Tor zu zwirbeln. Das war keck geplant und präzise ausgeführt und widerlegte streng genommen auch das gastfreundliche Motto dieser WM. Aber doch trat danach etwas ein, was ansonsten nur in den Pausen eines Blockbusters passiert: Die Werbewelt wurde Wirklichkeit. Deutschland ist in diesem Sommer 2006 zu einem Land des Lächelns geworden – und Berlin, ausgerechnet Berlin, zur Heimstatt der guten Laune. Es ist beinahe zum Fürchten. (…) Eine Art chronische Love-Parade ist über die Stadt gekommen und viele fragen sich inzwischen besorgt, wie das eigentlich werden soll, wenn der Fußball am 10. Juli mit einem gewaltigen Abstoß wieder aus der Hauptstadt verschwindet. “

FAS: Patriotismus-Debatte: Pro und Contra

Telepolis: Fußballfernsehübertragungen mit gefaketen Zuschauern im Iran

SZ: Ausgerechnet während der Weltmeisterschaft stirbt Bussunda, Brasiliens beliebter Ronaldo-Imitator

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

110 queries. 0,456 seconds.