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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ball und Buchstabe

Das sind wir

Oliver Fritsch | Montag, 3. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Das sind wir

Christian Eichler (FAS/Politik) erklärt, warum der Dopingfall Jan Ullrich im Schatten der Fußball-WM liegt: „Die Deutschen haben ihre größten Individualsportler stets bewundert, ja vergöttert, Schmeling, Becker, Graf, auch Ullrich. Doch das ist nicht vergleichbar mit der Identifikation, die seit bald hundert Jahren die Nationalelf auslöst. Bei den Einzelsportlern, den Solitären der Leistung, ist man gepackt und stolz zu sagen: einer von uns. Und doch weiß man, daß Helden kommen und gehen, daß irgendwann in jeder Sportlerkarriere der Zauber weg ist – nur der Zeitpunkt ist manchmal überraschend. Bei der Nationalelf ist es anders. Sie ist immer da, nicht immer gut, aber immer nah am Herzschlag der Nation. Wenn es ihr alle Jubeljahre gelingt, dieses Herz höher schlagen zu lassen, den Takt eines ganzen Volkes für einige Wochen zu bestimmen, so wie sie es bei dieser WM tut, dann lautet die emotionale Gleichung anders. Nicht: Er ist einer von uns. Sondern: Das sind wir.“

Wandlungsfähig und weltoffen

Daniel Bax (taz) kann sich mit den Identifikationsbekundungen von Einwanderern anfreunden: „Dieser Patriotismus bedeutet keine Relativierung der Vergangenheit, im Gegenteil: Die Erinnerung an den Holocaust und die Verantwortung, die daraus erwächst, ist unverrückbarer Bestandteil deutscher Identität geworden. Die Soziologin Viola Georgi hat in einer Studie festgestellt, dass sich auch Einwandererkinder dieser Verantwortung stellen und mit diesem Teil der deutschen Geschichte identifizieren, ja dass die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust ein wesentliches Merkmal ihrer Integration ist. Vor einem neuen Patriotismus muss man deshalb keine Angst haben. Nicht nur, weil er mit albernen Hüten und schwarzrotgelben Papiergirlanden verspielt und vergnügt, und nicht so verbissen und bierernst daherkommt wie einst unter Helmut Kohl. Sondern auch, weil er sich wandlungsfähig und weltoffen zeigt. Die Tradition des fahnenschwenkenden Autokorsos haben die Deutschen jedenfalls erst von den Türken und Italienern übernommen. Für beinharte ‚Deutschland den Deutschen‘-Nationalisten muss diese Entwicklung ein Graus sein: Jetzt nehmen ihnen die ‚Ausländer‘ auch noch die Fahne weg.“

Gefasel

Birgit Schönau (SZ) widert die deutsche Berichterstattung über Italiens Fußball an: „Unglaublich, wie ungeniert deutsche Reporter in die Klischeekiste greifen, wenn sie ein Spiel der Italiener beschreiben, obwohl doch Brasilien diesmal viel unverblümteren Catenaccio zeigte. Ungerecht, wie das 3:0 im Viertelfinale als positiver Ausrutscher gegen einen schwachen Gegner abgetan wird. Andere genießen da von vornherein eine freundlichere Behandlung. Unfassbar, dass selbst Intellektuelle wie Klaus Theweleit nach Jahrzehnten noch von homosexuellen Beziehungen und deren prüder Unterdrückung in der Weltmeisterelf von 1982 faseln, nur weil Paolo Rossi einmal einen nicht jugendfreien Witz über seine heißen Trainingslager-Nächte mit Antonio Cabrini gemacht hat. Es gibt eben Dinge, die stellt man sich in Deutschland nur allzu bereitwillig vor, wenn es um Italiener geht. Und umgekehrt.“

if: Über die Abneigung deutscher Medien gegen Italiens Fußball

Zeit: Fußball, Fernsehen, Prostitution: Die Korruptionsskandale in Italien reißen nicht ab, die Republik ist erschüttert. Doch die Justiz will jetzt aufräumen

Tiefgekühlt-selbstreferentielles Geplänkel

Benjamin Henrichs (SZ) lobt Gerhard Delling: „Fußball im Fernsehen, das ist Fußball mit Netzer und Delling. Das war immer so, das wird immer so bleiben. Keine Ahnung, wann es angefangen hat. Die älteren Kollegen jedenfalls schwärmen immer noch vom Auftritt der beiden 1954, nach dem Wunder von Bern. Am Anfang dieser WM 2006 sah Netzer ziemlich müde aus. Was umso mehr auffiel, als nebenan im ZDF der Kollege Jürgen Klopp den jugendlichen Kraftkerl gab. Doch dann war es wie beim dicken Ronaldo und beim mürben Zidane: Von Spiel zu Spiel wurde der alte Netzer besser und frischer, und dieses Wunder hat (wie alle Wunder) die Liebe getan. Dellings Liebe. Mit seinem ironischen Schabernack, mit seinem knabenhaften, niemals aber pubertären Frohsinn brachte der Zauberlehrling seinen alten Meister zurück ins Spiel.“

Auszug einer Kritik am öffentlich-rechtlichen Fernsehen von Michael Hanfeld (FAZ): „Der ‚Scheibenwischer‘ vom vergangenen Donnerstag war ein Tiefpunkt des Fernsehjahrs, hatten die Kollegen sich doch offenbar fest vorgenommen, den Leuten die Stimmung zu vermiesen. Trauriger Höhepunkt war der erste Auftritt von Richard Rogler anstelle von Georg Schramm. Wer an solchen Tagen fordert, die Bundeswehr abzuschaffen, und sich an Angela Merkels ‚Sanierungsfall‘ Deutschland abarbeitet, hat nicht nur einen schweren Stand, sondern steht verdientermaßen auf verlorenem Posten. Ob die überhaupt begreifen, was in diesem Land gerade passiert? Wahrscheinlich nicht, genausowenig wie die beiden trüben Tassen Gerhard Delling und Günter Netzer in ihrem weltabgewandten WDR-Studio. Wir warten gespannt, wann Netzer seine Drohung wahr und dem tiefgekühlt-selbstreferentiellen Geplänkel ein Ende macht. Wobei wir dem ZDF fürs nächste Mal schon anraten möchten, auf den Schiedsrichter im großkarierten Hemd doch besser zu verzichten. Denn Urs Meier zeichnet mit einer solchen Begeisterung noch jedes kleine Karo seiner pfeifenden Kollegen nach, daß wir erwarten durften, er hätte auch noch die zwölfte gelbe und dritte gelb-rote Karte im Spiel Holland gegen Portugal ganz großartig gefunden.“

of: Mir ist zudem Meiers schlimme Auslegung des passiven Abseits beim Spiel Schweiz gegen Togo aufgefallen, die hoffentlich Meiers Schweiz-Brille geschuldet ist. Denn es wäre bedenklich, wenn einer der renommiertesten Schiedsrichter der jüngeren Fußballgeschichte nicht passiv von aktiv unterscheiden kann. Allerdings wäre es für einen TV-Experten ein Armutszeugnis, wenn er nicht nur seine Kollegen, die Schiedsrichter, verteidigen und bevorzugen würde, was ihm alle vorhalten, sondern auch noch seine Landesauswahl. Doppelte Parteilichkeit.

Einst war er ein Gott, jetzt singt er bei Kerner

Benjamin Henrichs (SZ) goutiert Béla Réthys Kommentierung des Brasilien-Spiels und äußert Mitleid mit Pelé: „Es war eine Wohltat, ja fast eine Wonne, Réthy als Kommentator von Brasiliens Desaster zu erleben. Réthy will vermutlich nicht unsterblich werden, nicht der neue Herbert Zimmermann, er will nicht genial sein, sondern nur gut. Er ist kein Talk- und Showmaster wie die alten Jünglinge Beckmann und Kerner, sondern tatsächlich ein Fußballkritiker, der sich nicht so schnell besoffen machen lässt. Der nicht den Schlachtenbummler spielt, nicht den röhrenden Fan – und der deshalb als wohl erster Fernsehmensch ins allgemeine Glücksgelalle hinein die ernüchternde Wahrheit sprach: dass diese WM 2006 zwar eine gigantische Kirmes ist, aber kaum ein Fest der Fußballkunst. Zidane zauberte, Ronaldo verschwand, Brasilien ging unter. Réthy, Liebhaber des brasilianischen Fußballs, fing aber nun nicht etwa zu heulen und zu schnulzen an, sondern sprach grimmig das Schlusswort: ‚Wir sahen heute den Beamtenfußball der vermeintlichen Genies.‘ Aber das brasilianische Elend begann ja nicht erst im Stadion, sondern bereits vor dem Spiel, in der so genannten ZDF-Arena. Pelé (den Johannes B. Kerner wieder einmal mehrfach kratzfüßig als ‚größten Fußballer aller Zeiten‘ begrüßte), debütierte als Schlagersänger. Es war ein peinigender Auftritt, wie gemacht für die Seniorenheime dieser Welt, zwischen Berlin, Mainz und Rio de Janeiro. Es war grauenvoll, auch wenn der Moderator alles natürlich wieder ‚großartig‘ fand. Pelé. Einst war er ein Gott, jetzt singt er bei Kerner. Das Ende ist nahe.“

Jörg Thadeusz (BLZ): ARD und ZDF setzen auf die Alten

NZZ: Um das Kulturprogramm der WM ist es sehr ruhig geworden

taz: Deutschland wird cool – Nationen funktionieren heute wie Marken, die Deutschen haben ihr Image erfolgreich renoviert

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