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Die Rußlandisierung des Fußballs

Oliver Fritsch | Dienstag, 5. September 2006 Kommentare deaktiviert für Die Rußlandisierung des Fußballs

Ein russischer Milliardär hat das Vermarktungsrecht an der argentinischen Nationalelf gekauft und nimmt per Vertrag Einfluß auf die Aufstellung; der Argwohn der Medien ist angesichts der wachsenden Macht russischer Oligarchen im Weltfußball geweckt

Der Spiegel hat es bereits vor zwei Wochen gemeldet: Der russische Milliardär Wiktor Wexelberg hat sich für 18 Millionen Dollar das Vermarktungsrecht (inklusive TV) an vierundzwanzig Freundschaftsspielen der argentinischen Nationalelf gesichert. Besonders ein Paragraph in dem Vertrag provoziert die Abscheu der Kritiker: Eine Namensliste schreibt dem Trainer verbindlich vor, daß von dreißig Spielern mindestens sieben in jeder Begegnung mitspielen müssen. Michael Wulzinger stellt fest: „Der Passus mit den Namen ist eine Neuheit im globalisierten Fußballgeschäft. Bislang hat noch keiner der führenden Verbände einem Vermarkter eine derart weitreichende Einmischung in sportliche Belange zugestanden.“ Jetzt also auch Nationalmannschaften!, fügt Raphael Honigstein (taz) heute an: „Die letzte Bastion des vormodernen, sprich: von lokalen und nationalen Akteuren bestimmten Fußballs ist gefallen. Internationale Geldströme bestimmen nun auch hier Gegner, Spielorte und Personal.“

Die Spiele haben immer im Ausland stattzufinden, damit läßt sich mehr Geld verdienen, was wohl bedeutet, daß Argentinien, bis auf die Qualifikationsspiele, erstmal keine Heimspiele mehr austragen wird. Honigstein hat ein solches Match gerade in London gesehen: Argentinien unterliegt Brasilien 0:3. Ökonomisch habe diese Partnerschaft ja Sinn: „Bedrohlich muß einem diese Entwicklung vorkommen, dabei ist sie nur logisch. Die Verbände leiden seit Jahren an der Macht der mit Fernseh- und Sponsorengeldern gemästeten Vereine, ihre Einkünfte stehen in keiner Relation zu den Gehältern und dem Marktwert der Stars. Mit dem Verkauf von Freundschaftsspielen· holen sie sich Millionen und damit Macht zurück.“ Doch Honigstein fremdelt es: „Eine Art virtuelles Match war das in London, irgendwie unwirklich.“

Wanderzirkus

Auch Martin Henkel (WamS) gibt zu bedenken: „Die Kommerzialisierung des internationalen Fußballs hat mit dem Einstieg der Russen eine neue Qualität erreicht“, und führt das WM-Turnier der verkauften Brasilianer als mahnendes Beispiel an: „Wie kontraproduktiv die Vermarktung von Nationalmannschaften auf die Arbeit von Trainern wirken kann, war im WM-Vorbereitungslager der Brasilianer im Wallis zu besichtigen: Drei Wochen lang wurde die Selecao Fans und Neugierigen wie ein Wanderzirkus zum Betrachten feilgeboten. Für knapp eine Million Euro hatte Kentaro der CBF die Rechte an zwei Testspielen sowie dreizehn Trainingseinheiten abgekauft. 45.000 Eintrittskarten zu 15 Euro verkauften die Schweizer binnen weniger Tage. Sie verwandelten die Ufer des Luzerner Sees in eine Mini-Copacabana – mit schwerwiegenden Folgen: Schlapp und unkonzentriert lieferte die Selecao die schlechteste Leistung ihrer WM-Geschichte.“

NZZ: Was kostet Argentinien? Russischer Wirtschaftsführer erwirbt die Rechte am argentinischen Team

Noch ein Russe also. Doch Wulzinger nennt einen Unterschied zum wichtigsten Vergleichsrussen: „Anders als Roman Abramowitsch, der in den vergangenen drei Jahren mehr als eine halbe Milliarde Euro in sein Spielzeug Chelsea gepumpt hat und sich damit von einem namenlosen Privatisierungsprofiteur aus der russischen Taiga zu einer zentralen Figur des Jet-Set emporgeschwungen hat, will Wexelberg seinen Einstieg ins Fußballgeschäft als Investition verstanden wissen.“ Und ein Sprecher Wexelbergs läßt sich im Spiegel zitieren: „Die Organisation von Fußballspielen ist ein Geschäft wie die Förderung von Erdöl oder der Gewinnung von Aluminium.“

Nastrowje, auf Wiedersehen Fußball

Blickwechsel – allesaussersport.de beäugt den überraschenden Transfer der argentinischen Stars Carlos Tevez und Javier Mascherano von Corinthians São Paolo zu West Ham United, einer Maus aus London. Den Kauf hat die Investmentfirma MSI eingefädelt, hinter der Roman Abramowitsch vermutet wird. Auch Javier Cáceres‘ (SZ) Zweifel ist geweckt: „Es ist ein in jeder Hinsicht mysteriöser, rankenreicher Deal. West Ham war bisher unverdächtig, an den begehrtesten und teuersten Talenten der Fußballwelt herumzubaggern – aus Mangel an Geld und an Flair.“ Die Beobachter vermuten nämlich, daß der teure Doppeltransfer ein erster Schritt zur Übernahme des Klubs sei. Zwei Vereine einer Liga im Besitz einer Person – das wäre natürlich im Sinne des fairen Wettbewerbs verboten. Eine Spekulation im Guardian vertieft das Mißtrauen gegen Abramowitsch: Guus Hiddink könnte von Abramowitsch in Rußland, wo Hiddink seit jüngstem Nationaltrainer ist, „geparkt“ sein, um José Mourinho irgendwann in Chelsea zu folgen.

Es ist nicht viel Empörung in Deutschland zu hören über den russischen Zugriff auf den Weltfußball; eine der wenigen Ausnahmen ist Uli Hoeneß, dessen Furor selten so angebracht schien wie in diesem Fall, als der den Kieler Nachrichten (zitiert in der Märkischen Allgemeinen) mitteilt: „Ich halte das für Wahnsinn. Das ist für mich der Anfang vom Ende des Fußballs. Wenn diese Rußlandisierung sich fortsetzt, dann werden wir in zehn Jahren sagen können: Nastrowje, auf Wiedersehen Fußball.“ Würden deutsche Zeitungen lauter Alarm schlagen, wenn die Fußball-„Heuschrecken“ aus Amerika kommen würden, das wir Deutsche so viel leichter hassen können?

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