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Fußball lebt von den Torhütern, die bei den Haltbaren wach sind

Oliver Fritsch | Samstag, 8. März 2008 Kommentare deaktiviert für Fußball lebt von den Torhütern, die bei den Haltbaren wach sind

Tim Wiese greift in Glasgow daneben, der Spott gehört ihm, dem Gernegroß / Bayern siegen elegant in Anderlecht / Leverkusen und Hamburg begegnen sich mit Vorsicht

Frank Hellmann (FR) lässt beim 0:2 in Glasgow Bremens Torhüter nichts durchgehen: „Wiese-Geschichte wiederholt sich: Fast auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem ihm im Champions-League-Achtelfinale bei Juventus Turin der Ball aus den Händen geglitten war, leistete sich der Schlussmann mit dem Hang zum Exhibitionismus gleich zwei Patzer, die einem Mix aus Überheblichkeit und Unkonzentriertheit geschuldet sind. Damals war es eine überflüssige Hechtrolle, diesmal ging zunächst ein an sich harmloser Fangversuch daneben. Dass der Tormann, der sich für gut genug hält, auch im Nationalteam die Bälle festzuhalten, zwei Minuten nach der Halbzeit im Stile eines Volleyballers einen weiteren Schuss von Cousin nach vorne boxte, Steven Davis die Kugel über die Linie grätschte, verschlimmerte das Unheil noch.“

Das Internet verliert nichts

Welche Folgen haben Wieses Fehler auf Joachim Löws Wertschätzung? Keine, meint Oskar Beck (Stuttgarter Zeitung): „Wieses Begabung wurde nie bezweifelt – dieses begnadete Reflexwunder auf der Torlinie. Als nicht ganz so gut gilt seine Beherrschung des Balls und des Strafraums – und seine Beherrschung im Allgemeinen. Löw gilt als einer, der eher die stilleren Torhüter mag, die beständigen, die konzentrierten, die verlässlichen – also kurz gesagt solche, die nicht nur unhaltbare Bälle halten, sondern notfalls auch noch die Klappe. (…) Seit Donnerstag verdichten sich die Gerüchte, dass da eines der größten Talente zwar die unhaltbarsten Geschosse und Elfmeter entschärft, aber die entscheidenden Spiele verliert.“

Christian Eichler (FAZ) bringt Struktur und Verstand in die Torwartdebatte: „Nie war es so leicht wie heute, als Torwart schlecht auszusehen. Spiele sind schneller geworden, Bälle flatterhafter, Trainer eher bereit, glücklose Keeper auszutauschen. Und seit der für ihn nervenschonende Job des Liberos abgeschafft wurde und er dessen Rolle mitübernahm, lebt der Torwart stets in der Gefahr, sich beim Herauslaufen gegen steile Bälle um einen Bruchteil zu verschätzen. Ein undankbarer Job. Außer an solchen Glückstagen, wie ihn Neuer in Porto erlebte. Dabei wird oft vergessen, dass die größte Anforderung an Top-Torhüter des 21. Jahrhunderts nicht die Fähigkeit ist, tolle Paraden zu zeigen oder gar ‚mal einen Unhaltbaren zu halten’, wie das im Jargon heißt; sondern die, auch nach stundenlanger Untätigkeit in der einen überraschenden Sekunde voll da zu sein. Denn Fußball feiert die, die die Unhaltbaren halten. Aber er lebt von denen, die bei den Haltbaren wach sind.“

Schaulaufen

Über den 5:0-Sieg der Bayern in Anderlecht verweist Eichler auf die günstigen Begleitumstände: „Dafür, dass ein Großer sich durch eigenes Versagen in der letzten Saison in den Uefa-Cup verirrt hat, müssen nun die Kleinen büßen. Selbst die Glücksgöttin war auf Goliaths Seite, sie bescherte den Bayern den perfekten Spielverlauf. Erst ein Glücksschuss von Hamit Altintop aus dreißig Metern, dann ein belgischer Pfostentreffer; eine dumme Gelb-Rote Karte für den Abwehrspieler Wasilewski, ein Torwartfehler von Zitka – mit Pausenpfiff war der Abend gelaufen. Doch weil der Fußball so grausam ist, auch jene, die schon nach 45 Minuten alle Viere von sich strecken, noch einmal ebenso lange zu quälen, stand Anderlecht eine schlimme zweite Halbzeit bevor. Für die Bayern wurde das Spiel ein Schaulaufen der Rekordmeister.“

Jeder Klub hat seinen Jarolim

Vorsicht ist diesmal oberstes Prinzip zwischen Leverkusen und Hamburg gewesen – Stefan Hermanns (Tagesspiegel): „Erst vor gut einem Monat standen sich beide Mannschaften im vielleicht besten Spiel (1:1) dieser Bundesligasaison gegenüber. Es gab Offensivszenen en masse und wunderbare Spielzüge von beiden Seiten. Dass es nicht wieder so schön werden würde, lag in der Natur der Sache. Die Hamburger waren in erster Linie darauf bedacht, sich eine hoffnungsvolle Ausgangsposition für das Rückspiel zu verschaffen. Leverkusen schaffte es nicht, die wohl disziplinierteste Defensive im deutschen Fußball in Verlegenheit zu bringen. Verglichen mit den mürben Darbietungen in der ersten Halbzeit erlebten die Zuschauer nach Wiederanpfiff allerdings den Ausbruch der Anarchie.“

Eine Randnotiz von Philipp Selldorf (SZ): „Neulich feierte David Jarolim ein tolles Jubiläum, vom Hamburger SV gab es dafür Blumen. Allerdings ergab es sich dann, dass eine symbolische Mullbinde samt einer Tube Schmerzsalbe das passendere Geschenk gewesen wäre. Geehrt hat man wegen seines 200. Bundesligaeinsatzes, doch die größere Wegmarke erreichte er erst im Lauf der Begegnung: Nach Buchführung des TV-Senders Premiere wurde Jarolim zum 1000. Mal gefoult. Außer David Jarolim wird kaum jemand diese Statistik für wahr halten. Die Hamletfrage ‚Foul oder nicht Foul’ hat die Schiedsrichter durch all die 200 Partien des HSV-Spielers begleitet. Oft haben sich die Spielleiter getäuscht – und auf Foul erkannt. Deshalb kam Rudi Völler kürzlich der Name Jarolim in den Sinn, als er eine kulturkritische Betrachtung über die Liga anstellte und dabei die Theatralik und das Falschspiel der Profis beklagte. Sein Fazit: ‚Aber wir müssen ehrlich sein: Jeder Klub hat seinen Jarolim.’“

leverkusen 1-0 hambourg.GekasHochgeladen von lebordeauxlais

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