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Endlich wieder ein Jahrhundertspiel

Oliver Fritsch | Samstag, 12. April 2008 Kommentare deaktiviert für Endlich wieder ein Jahrhundertspiel

Begeisterung, Erklärungsversuche, Fassungslosigkeit nach dem 3:3-Sieg der Bayern in Getafe / Oliver Kahn im Taumel

Klaus Hoeltzenbein (SZ) kann das 3:3 zwischen Getafe und München nicht rationalisieren: „Ein Fußballspiel als Ereignis, so irre, so surreal, wie man es in Madrid sonst nur im Museum findet – an der Wand, als Gemälde von Dalí.“ Elisabeth Schlammerl (FAZ) stößt eine Fanfare aus: „Die Zeit war reif beim FC Bayern für ein neues Jahrhundertspiel, denn die Erinnerungen an das letzte verblassen schon langsam.“

Andererseits pocht sie auf die Schwächen im Bayern-Spiel: „Fünf Minuten haben nicht nur den Einzug ins Halbfinale gebracht und die Hoffnung auf das ‚Triple’ am Leben erhalten, sondern vorerst das Projekt ‚dicke Brieftasche’ gerettet. Nach den Investitionen von 80 Millionen Euro in kickendes Personal wären die Münchner mit Häme und Spott überzogen worden, wenn sie in Überzahl an einem Vorortklub gescheitert wären. Und die Frage wäre unwillkürlich aufgekommen: Wenn diese aufgemotzte Mannschaft schon im ‚Fiat-Punto-Clio-Cup’ mit Motorschaden ausscheidet, wie will sie eine Klasse weiter oben bei den Ferraris in der Formel 1 des Fußballs hinterherkommen? Das ist der Anspruch: in Europa wieder oben mitzumischen, und das nicht zufällig, sondern als stetes Mitglied eines ganz elitären Kreises in der Champions League. Die Bayern sind in Getafe lange den Beweis schuldig geblieben, auf dem Weg zu einer großen Mannschaft zu sein.“

Ronald Reng (FR) ringt nach Luft: „Der Fußball hat alles, was er hat, und von allem ein bisschen zu viel, in dieses Viertelfinale gepackt. Diese Partie lieferte so viele Momente und Volten, dass man sehr lange kein Fußball mehr schauen müsste: Man hat genug Stoff, um davon zu zehren. Auf der winzigen Ehrentribüne saß der spanische König Juan Carlos. Die große Welt traf die Madrider Vorstadt, die 17.000 Zuschauer waren in Jahrmarktsstimmung, und Getafes Elf, erst im vierten Jahr in Spaniens Erster Liga, lief zur Form einer Spitzenelf auf. All diese Gegensätze vereint, erschufen eine betörende Anmut.“

Dabei betont Reng die Unterlegenheit der Bayern in wesentlichen Teilen des Fußballs: „Mit welcher Systematik und Dynamik Celestini und Casquero im Mittelfeld die Bayern unterdrückten, wie sauber und schnell Getafe nach vorne passte, offenbarte die ganze Münchner Unordnung, entblößte zum Beispiel Mark van Bommel als Fußballer ohne Sinn und Tempo.“ In der Textfassung der Berliner Zeitung fragt er: „Wie konnten die Bayern als Sieger vom Platz gehen?“

Das Wunder von Getafe – MyVideo

Das Dusel klappt nur in München

Jörg Schallenberg (Spiegel Online) führt den Erfolg auf die Klasse Luca Tonis zurück: „Man kann durchaus behaupten, dass es einzig und allein der Elf-Millionen-Einkauf aus Florenz war, dem der FC Bayern den Einzug ins Halbfinale verdankt. Gerade im Vergleich mit schwächer besetzten, aber sehr gut organisierten Mannschaften wie dem FC Getafe wird deutlich, wie wenig eingespielt das in diesem Jahr neu formierte Team der Bayern ist. Um in Europa ganz oben mitzuspielen, wird der FC Bayern wohl noch mehr Einkäufe in der Güteklasse von Ribéry und Toni tätigen müssen. Vor allem in der Abwehr und im Mittelfeld. Ganz abgesehen davon, dass man einen derart begnadeten Last-Minute-Stürmer wie Oliver Kahn wohl nie wieder finden wird.“

Dusel? Hoeltzenbein kann es nicht klären: „Beim finalen Glück handelt es sich vermutlich um eine Art Gen, welches nur den Bayern implantiert ist, weshalb sich nach dem Tor Szenen abspielten, von denen man glauben konnte, man hätte sie so ähnlich schon einmal anderswo gesehen. Jener Kahn von Getafe im April 2008, der völlig entrückt über den Platz stürmte, wirr das Blondhaar, feucht die Augen, rudernd der Arm, erinnerte an den Kahn vom Mai 2001. Damals trafen die Münchner in Hamburg in den Nachspielsekunden ins Tor und ließen die fernab bereits feiernden Schalker zum trauernden Meister der Herzen werden. ‚Weiter, weiter, immer weiter. Du musst immer weitermachen’, verriet Kahn damals die Formel zu diesem besonderen Gen. Eine Kopie wird seitdem überall versucht, das Dusel-Original aber bleibt zumindest in Deutschland unerreicht. Woran es gelegen habe, dass aus dem 1:3 das 3:3 werden konnte, wurde Luca Toni zum Abschied gefragt. ‚Sempre avanti!’ Immer weiter. Es klappt nur in München. Aber dort klappt es in allen Sprachen.“

Und so sieht es einer aus der Bayern-Sekte.

Oliver Kahn hat sich in den Stunden nach dem Spiel auf allen Kanälen sein Glück von der Seele geredet. Über die Szene vor dem 3:3 sagt er: „Ich bin einfach nur gesprungen. Manche sagen Foul, andere nicht, ich kann es nicht beurteilen. Ich habe ja keine Erfahrung in solchen Situationen.“

Vorausblickend ordnet er die historische Bedeutung des Spiels ein: „Wir werden uns in zehn Jahren nicht über Barcelona und die Niederlage gegen Manchester United im Champions-League-Finale 1999 unterhalten, sondern über Getafe.“ Und wem das alles zu verdanken sei? „Der liebe Gott wollte es nicht, dass wir ausscheiden.“

Herrlich beleidigt flucht die spanische Zeitung As: „Diese Bayern sind die Alliierten der dunklen Seite des Fußballs.“

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