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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2008

Gesamtkunstwerk

Oliver Fritsch | Dienstag, 1. Juli 2008 Kommentare deaktiviert für Gesamtkunstwerk

Weitere Liebeserklärungen an Spanien / Luis Aragonés, Pädagoge mit Kick / Spanien, ein Land strebt nach Oben

Roland Zorn (FAZ) gönnt Spanien den Titel: „Die Spanier bewiesen in den neunzig Minuten der Entscheidung wie in den Minuten danach, wie man mit kultivierten Umgangsformen am Ball und gegenüber dem Gegner Sympathien scheffeln kann, ohne sich dabei gönnerhaft aufzuplustern. Nach zehn Minuten der Eingewöhnung beherrschten sie das Geschehen auf dem Platz mit ihrem ausgeklügelten Kurzpassspiel, das gelegentlich noch angereichert wurde durch lange Bälle in die Tiefe des Raumes. So entstand auch das 1:0, als der diesmal besonders zauberhafte Taktgeber Xavi seinen Kollegen Torres auf Touren gebracht hatte. Das waren dann die Formel-1-Elemente des Fußballs in einem Gesamtkunstwerk, in dem die Schönheit nicht zu kurz kam, aber der Zweck dieses Spiels nie vergessen wurde. Eigentlich hätten die Spanier sogar viel deutlicher gewinnen müssen, doch wollten sie den zusehends gröber agierenden Deutschen am Ende zu oft zeigen, wer denn die Technik des Fußballs perfekt beherrsche und wer noch nicht.“

Ronald Reng (taz) erklärt, was daran so besonders ist, dass Spaniens Ersatztorhüter im Trikot von Luis Arconada zur Siegerehrung erschienen ist: „Andrés Palop war der einzige Vertreter des alten Spaniens. Er ist fast 35, fünf Jahre älter als jeder andere im Team außer dem eingebürgerten Brasilianer Marcos Senna; Palop ist der einzige, der sich noch bewusst an das letzte Mal erinnert, als Spanien in einem EM-Finale stand – seine Generation hatte sich noch abgearbeitet an der Verdammnis der Geschichte, dass Spanien, das Land der großen Klubs, mit der Nationalelf seit dem einzigen EM-Triumph 1964 nie mehr etwas gewann. Seine Mitspieler jedoch, geboren allesamt in den Achtzigern, bilden die erste spanische Generation, die nicht antrat, um historische Rechnungen zu begleichen oder Arconada zu rächen. Diese junge Mannschaft, angeführt von Spielmacher Xavi und Torwart Iker Casillas, schirmte sich ab von den Besessenheiten des gestrigen Spaniens. Sie sind einfache, höfliche Sportler, und nichts anderes wollen sie sein. Auch deshalb wurden sie eine einzigartige, höfliche Elf. (…) Etwas Kurioses ist passiert: Während die Politik und die Medien in Spanien sich immer mehr wie Stämme aufführen, die sich in archaischen Konflikten suhlen, rechts gegen links, Katalanen gegen Spanier gegen Basken, liefert der Fußball, der lange für die modernen Stammeskriege stand, mit der Nationalelf nun das schönste Beispiel für einen souveränen, selbstverständlichen Umgang mit den spanischen Unterschieden.“

Platini erwischt den großen Arconada in einem falschen Moment …

… und wir ihn jetzt auch.

Minderwertigkeitsgefühle abstreifen

Paul Ingendaay (FAZ) würdigt die Leistung Luis Aragonés’: „Das Bild, das der strahlende Sieger dieser EM auf dem Feld hinterlassen hat, erlaubt eine erstaunliche Deutung: dass es bei den Spaniern ausnahmsweise keine Leitfigur, sondern eine geschlossene Ensembleleistung zu bestaunen gibt, dazu einen hohen Sinn für Taktik, Disziplin und das nötige Quentchen Glück. Fernando Torres, der Sturmstar, ging fast ohne Murren vom Platz, wenn Luis Aragonés ihn zur Auswechselbank rief. Cesc Fàbregas, der katalanische Mittelfeldlenker, begnügte sich ebenso mit der Rolle des Jokers wie Güiza, der spanische Torschützenkönig. Aus diesem Team kann man keinen herausheben, man darf aber auch keinen vergessen, von Marchena bis Villa, von Senna bis Cazorla, und irgendwie muss das die Leistung des Trainers sein. Vielleicht werden wir nie erfahren, wie Aragonés es angestellt hat, seine Leute zu einer ebenso schön wie effizient spielenden Erfolgseinheit zusammenzuschweißen. Das Turnier ist vorbei, der alte Mann geht und nimmt sein Geheimnis mit.“

Leo Wieland (FAZ/Seite 1) wertet den Fußballsieg als Ausdruck des Aufstrebens in ganz Spanien: „Dass das Land der ‚guten Europäer’, das dem vereinten Europa so viel verdankt, nun 44 Jahre nach einem Sieg über die Sowjetunion wieder an die kontinentale Fußballspitze gelangte, war Balsam für die Seele. Zugleich war es ein Zeichen dafür, dass das Spanien einer neuen Generation dabei ist, alte Minderwertigkeitsgefühle abzustreifen und den Respekt zu verlangen, den seine Leistung verdient. Die neuen Europameister sind nicht nur stolz darauf, ihre italienische Nemesis im Viertelfinale besiegt, sondern auch den mediterranen Nachbarn inzwischen beim Bruttoinlandsprodukt ‚überholt’ zu haben. Ausdruck gestärkten Selbstbewusstseins ist ferner das Begehren, doch lieber heute als morgen zu den ‚großen acht’ der führenden Wirtschaftsnationen gezählt zu werden. Im Sport haben neben den Kickern noch andere Spanien auf die Weltkarte gesetzt: der Basketballspieler Pau Gasol (Katalane), der Tennisspieler Rafael Nadal (Mallorquiner) oder der Rennfahrer Fernando Alonso (Asturier). Sie wurden dabei zu Sinnbildern für nicht gerade als typisch spanisch geltende Eigenschaften wie kämpferischen Einsatz, Durchsetzungsvermögen, Siegeswillen und unbändige Zuversicht. Alles zusammen demonstrierte eine Elf, die sich diesmal nicht von der Erinnerung an frühere Fehlschläge verhexen ließ, auf beispielhafte Weise.“

Das Warten und Leiden hat ein Ende.

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