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Vermischtes

Würdevoller Abschied oder makabre Inszenierung?

Frank Baade | Montag, 16. November 2009 6 Kommentare

Die Dimensionen der Trauerfeier für Robert Enke waren einmalig im deutschen Sport: 40.000 Menschen umfasste die Trauergesellschaft im Stadion, live im TV zu sehen — darf das so sein?

Noch nicht weitergehen

Einen „würdevollen Abschied“ nennt Wolfgang Hettfleisch in der FR die Trauerfeier: „Viele in der Arena schämen sich ihrer Tränen nicht, als sie gemeinsam das Vaterunser sprechen und als schließlich die Hymne aus Liverpool angestimmt wird, die uns beständig daran erinnern soll, dass der Fußball keine Insel der Seligen ist. Doch sie kündet auch von der Hoffnung. ‚You“ll never walk alone‘ – du wirst nie alleine gehen. Es ist wohl das, was die 40.000 an diesem Sonntag im Stadion von Hannover vor allem zum Ausdruck bringen wollen. Draußen vor dem Stadion, wo ein Meer von Blumen, Fotos, handgeschriebenen Notizen und Teelichtern die Anteilnahme ausdrückt, halten viele noch einmal inne. Sie werden ohne Robert Enke weitergehen müssen. Aber noch nicht jetzt. Jetzt noch nicht.“

Keine Trauer zu groß

Für Ralf Klassen (Stern.de) gibt es keine Maßstäbe, wenn es ums Trauern geht. Bereits vor der Durchführung der Feier entgegnete er der Kritik an den Ausmaßen: „Der Empörung liegen viele Irrtümer zugrunde: Es gibt eben nicht den einen, allgemein verbindlichen Kodex, wie man zu trauern hat.“ Das müsse jede Familie für sich entscheiden. Auch, welche Öffentlichkeit sie dafür wählt. Dass das Interesse in Hannover riesig war, habe sich schon beim Trauermarsch am Mittwoch Abend gezeigt. „Diesen Menschen, die Enke Woche für Woche zugejubelt hatten, nun falsche Emotionen oder gar Eventmentalität vorzuhalten, ist töricht. Für viele Menschen, auch Nicht-Fußballfans, bedeuten Robert Enke und sein Tod eben etwas Besonderes für ihr Leben. Das mag man verstehen oder nicht – aber respektieren sollte man es auf jeden Fall.“ Die besondere Biografie Enkes begründe wohl auch, dass „die Menschen mit ihrer beinahe überbordenden Anteilnahme nun beweisen [wollen], dass es eine Gesellschaft geben muss, die eben diese Schwächen verzeihen kann. In diesem Sinne kann eine Trauerfeier gar nicht groß genug sein.“

Diese Trauer nimmt anderen keine Trauer weg

Bertram Eisenhauer (FAZ) erinnert daran, warum man sich zum Trauern zusammenfindet: „Dass Menschen Trauer teilen wollen, ist nicht ungewöhnlich. Es erleichtert, zu sehen, dass man mit seinen Gefühlen nicht allein ist.“ Den Stimmen, die nach einer ähnlich großen Trauer für deutsche Gefallene fragen, und damit implizieren, dass das große Ausmaß der Trauer um Enke übertrieben sei, antwortet Eisenhauer: „Die Anteilnahme an Robert Enkes Schicksal nimmt anderen, die ebenfalls unser Mitgefühl verdienen, nichts weg. Dass die Deutschen anders zum Krieg und damit auch zu ihren Soldaten und deren Sterben stehen, hat wesentlich mit unserer Geschichte zu tun. Der Streit über den Umgang mit Enkes Tod ist letztlich zugleich eine Verständigung darüber, wie wir als Gesellschaft trauern wollen.“

Kritiker dieser positiven Bewertungen der Trauerfeier und des Umgangs mit einer nicht allein ethischen, sondern auch logistischen Herausforderung, für die keine Vorbilder existierten, gibt es reichlich.

Deplatzierter Text

Lars Wallrodt (Welt) fühlt sich nicht nur wegen der vor dem Stadion eingespielten Musik an Szenen bei Lady Dis Trauerfeier erinnert: „Es mag kalt klingen, doch die Perfektion [des Ablaufs] wirkt im Stadion seltsam, als seien die Zuschauer mehr Kulisse als Teilnehmer. (…) Und Robert Enke? Ihm wäre diese Art von Heldenverehrung vermutlich ein Graus gewesen. Man hätte dem hochsensiblen und bescheidenen Spieler einen etwas weniger grellen Abgang gewünscht.“ Dass später „You‘ll never walk alone“ angestimmt wird, findet Wallrodt „deplatziert. Robert Enke hatte keine Hoffnung mehr. Er ging allein dem Zug entgegen.“

Populistische Instinkte

Hart urteilt Jürgen Kalwa in seiner American Arena. Anders als der DFB hätte er die Partie am vergangenen Samstag gegen Chile nicht abgesagt, sondern Fußball spielen lassen: „Stattdessen ließ man sich treiben und surfte auf der hochwabernden Grundstimmung und wurde dafür auch noch belohnt. Am Wochenende wurde dem Verband in einem Teil der Öffentlichkeit tatsächlich bescheinigt, er habe an sozialer Kompetenz gewonnen.“ Dabei sei diese Angelegenheit ganz anders zu bewerten: „Der Verband hat, angetrieben von populistischen Instinkten und in Ermangelung einer angemessenen Vorstellung von seinem Rangplatz in der Gesellschaft, schlichtweg versagt.“ Für Kalwa ist Theo Zwanziger der Schuldige an diesem Wellenreiten. Ein anderer Präsident hätte den Spielern „auf einfühlsame Weise erklärt, dass man einen Freund und Kollegen eher dadurch ehrt, indem man nicht einfach inne hält mit dem Spiel, das einen miteinander verbunden hat, sondern indem man es spielt.“ Doch die Führung des deutschen Fußballs habe andere Ziele verfolgt: „Sie wollte wohl auf eine unterschwellige Weise mal wieder klar machen, dass ihr Deutschlands liebste Puppenbühne gehört, auf der tausende von Profis und Millionen von Amateuren tanzen.“

Empfindungen pubertierender Mädchen

„Der Trauerfuror, der über das Land hereinbrach und den die Medien – dabei nicht nur der Boulevard – durch immer ausführlichere Berichte anheizten, ist abstoßend.“ Richard Wagner (FAZ) widerspricht in einer Gegenüberstellung der beiden Beiträge seinem Kollegen Eisenhauer (siehe oben). „Unangemessen“ und „maßlos“ nennt Wagner das „Spektakel“, wobei er Vergleiche mit Kirchentags-Gemeinschaftsempfindungen oder den Gefühlen pubertierender Mädchen bei Auflösung einer Boy-Group bemüht, um die Reaktionen auf Enkes Tod zu beschreiben. Zudem nennt er dessen Entscheidung, trotz des Wissens um seine Erkrankung ein Kind zu adoptieren, verantwortungslos. Was die Frage der Aufmerksamkeit für Gefallene angeht, erfährt man auch gleich, wie man stilsicher zu trauern habe. In England würden aus Afghanistan tot zurückkehrende Soldaten im stummen Spalier verabschiedet, zwar mit vielen Tränen, aber seltenem Klatschen. „Wenn der Leichenzug durchgefahren ist, gehen alle ihrer Wege.“

Thomas Schmid (Welt) sieht im Suizid keinen Professor: „Robert Enke war ein populärer, charismatischer und wenig eitler Fußballspieler. Und er litt an einer schweren Krankheit, die tödlichen Verlauf nahm.“ Das sei die Todesursache gewesen, nicht Leistungsdruck noch das Fußballbusiness. „Sein Tod lehrt nichts.“ Deshalb hätten die Bilder aus Hannover Maß vermissen lassen. „Man kann Gesten der Trauer so überdehnen, dass sie das Ungehörige streifen.“ Es sei falsch gewesen, ihn „wie einen König aufzubahren“.

Makabre Inszenierung

Matti Lieske ist ebenfalls nicht einverstanden mit dem Ablauf in Hannover (Berliner Zeitung). Schließlich ginge es beim Abschied von einem Menschen um eine gänzlich andere Form des Verlusts als bei einer Niederlage in einem Spiel, wie sie sonst auf Fußballplätzen betrauert würden. „Für existenzielle Trauer, für Einkehr und Besinnung, ist das Stadion ein ungeeigneter Ort, wie sich schnell erweist, sobald man das Innere betritt. Der Sarg Robert Enkes wirkt winzig auf dem weiten Rasengeviert. Die Szenerie wirkt gespenstisch, die Atmosphäre beklemmend, die Menschen im Stadion wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, also klatschen sie. Wohl noch nie gab es bei einer Trauerfeier derart viel Beifall.“ Auch Lieske empfindet die Absage des Chile-Spiels als unglücklich. „Angemessener als die makaber anmutende Inszenierung in Hannover wäre es wohl gewesen, einen leidenschaftlichen Fußballspieler mit einem Fußballspiel zu ehren.“ Und Zwanzigers vorgetragene Anliegen, mehr Menschlichkeit zu zeigen, seien „gewiss ehrlich“ gemeint. Doch leider auch den eigenen Zielen konträr: Man wolle mit den neuen Konzepten im Jugendfußball nun mal nichts anderes, als Siegertypen auszubilden, die vor Durchsetzungsvermögen strotzten.

Nicht leicht für die Nachfolger, Enkes Platz einzunehmen

Am Mittwoch tritt die Nationalmannschaft in Gelsenkirchen gegen die Elfenbeinküste an. Keiner der 20 Spieler habe sich geäußert, dass er diese Partie lieber nicht austragen wolle. Natürlich wird noch einmal an Robert Enke erinnert werden, aus Löws Kader wird niemand die Rückennummer 1 tragen, zudem werde man auf Stimmungsmusik und Tor-Jingles verzichten. Oliver Bierhoff möchte den Anstoß als Versuch eines Schritts zurück zur Normalität sehen. Ob der Versuch gelingt?

In welcher Form es für die Spieler weitergeht, das müsse individuell entschieden werden dürfen, befindet Thomas Kilchenstein (FR): „Es wird für Spieler, Trainer und Funktionäre ein Spagat ohne Beispiel. Es wird nicht leicht, gerade auch für jene, die jetzt den Platz von Robert Enke einnehmen (müssen) bei Hannover 96 und in der Nationalmannschaft. Wolfgang Niersbach hat sicher Recht, wenn er sagt, dass es kein Patentrezept gebe für den Neuanfang. Die Balance zwischen persönlicher Betroffenheit und der Notwendigkeit, sich den neuen Aufgaben zu stellen, muss jeder für sich finden.“ Dass es grundsätzlich weitergehen werde, daran gebe es keine Zweifel, wie die Binsenweisheit sage: Zeit heilt alle Wunden.

Kommentare

6 Kommentare zu “Würdevoller Abschied oder makabre Inszenierung?”

  1. Manfred
    Montag, 16. November 2009 um 17:12

    Ich denke, Lars Wallrodt brachte es auf den Punkt. Was für eine überflüssige, maßlose, überkandidelte und peinliche Kacke.

  2. Karateschnitzl
    Montag, 16. November 2009 um 20:32

    In zwei Wochen, wenn auch die letzte Schweigeminute vorbei ist, wird der Liga-Alltag wieder eingekehrt sein und außerhalb von Hannover wird das Thema Robert Enke schon sehr bald kein Thema mehr sein.

  3. Peun
    Dienstag, 17. November 2009 um 10:02

    [ ] würdevoller Abschied
    [x] makabre Inszenierung

    Dass Enke bald gar kein Thema sein wird, glaube ich nicht. Der im Mai verstorbene Eishockeyspieler Robert Müller ist zumindest in Fankreisen dieser Sportart immer wieder gegenwärtig.

    Mich schauderts aber vor allem wenn ich daran denke, wie Jauch, Kerner & Co für ihre unverzichtbaren Jahresrückblicke demnächst versuchen werden, Teresa Enke exklusiv in ihre Sendungen einzuladen und das alles noch mal aufrollen werden.

  4. Heffer
    Dienstag, 17. November 2009 um 12:29

    @Peun

    an das habe ich noch gar nicht gedacht.
    Nicht, dass die Jahresrückblicke nicht sonst schon schlimm genung wären…

  5. Jünter
    Dienstag, 17. November 2009 um 16:12

    Man mag ja über die Trauerfeier denken was man will – ich stimme jedoch mit Thomas Schmid überein – es wird sich nichts ändern, muss es auch nicht.

  6. owenmeany
    Mittwoch, 18. November 2009 um 13:09

    Auf der nach obenen offenen Peinlichkeitsskala sind wir Deutschen an Betroffenheit nicht zu überbieten. Da schmeisst sich ein Nationaltorwart vor einen Zug, anschließend wird alles im Zusammenhang mit ihm glorifiziert und alle sind schrecklich nachdenklich. Wo ist da die Verhältnismäßigkeit? Eine Beerdigung mit über 50.000 Menschen, fehlte nur noch Horst Köhler. Ich schlage einen eigenen Enke-Sender vor mit Michael Steinbrecher und Kerner als Betroffenheitsmoderatoren. Da kann da analysiert und geheuchelt werden, bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.

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