indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

In Donezk fährt man in die Grube, nicht an den See

Frank Baade | Samstag, 12. Dezember 2009 5 Kommentare

Die UEFA ringt sich zur mutigen Entscheidung durch, allen vier ukrainischen Austragungsorten grünes Licht für die Teilnahme an der Euro 2012 zu geben; weiterhin fehle es dort an Infrastruktur

Stefan Hermanns (Tagesspiegel) kommentiert, der Fußball neige zur Hybris. Das „sieht man daran, dass der Fußball die Probleme des wahren Lebens einfach ausblendet. Wäre es anders, hätte der europäische Fußballverband Uefa gestern der Ukraine die Europameisterschaft 2012 entzogen. Denn nüchtern betrachtet ist das Land mit der Ausrichtung der EM, der drittgrößten Sportveranstaltung der Welt, schlichtweg überfordert. (…) Eine EM ist keine Kirmesveranstaltung: Stadien, Transport, Sicherheit – in allen Punkten verlangt die Uefa höchste Standards. Standards, die die Polen vermutlich mit größter Mühe hinbekommen, die ihr Partner Ukraine aber weder logistisch noch finanziell zu erfüllen vermag.“

In der Berliner Zeitung erläutert Martin Henkel: „Als die Uefa im Mai das Ausrichterland besuchte, traute sie ihren Augen nicht. Sie studierte Stadienzustand, Transport sowie Unterbringung und beurteilte, wie hoch das Risiko wohl sei, dass die ukrainischen Bemühungen kollabieren, so: Kiew mittelhoch, Charkow sehr hoch, Lemberg sehr hoch, Donezk sehr hoch. Damals erklärten die Inspekteure, so ginge es nicht und setzten damit in der Ukraine einen Aktionismus in Gang, der im September in die Freisetzung von knapp einer Milliarde Euro für die Restaurierung und Modernisierung der Flughäfen, Straßen und Schienen mündete. Auch die offenen Investitionsfragen beim Bau oder der Renovierung der Stadien in Kiew und Lemberg wurden gelöst. Folglich liest sich das Urteil jetzt so: Kiew mittleres Risiko, Charkow mittleres Risiko, Lemberg hohes Risiko, Donezk sehr hohes Risiko. (…) In Donezk hat der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, mit der Donbass-Arena eines der modernsten Stadien der Welt in die Landschaft gesetzt. Aber es ist das Drumherum, das die düstere Einschätzung erklärt. Die Bergbau-Stadt steht sinnbildlich für die Schwierigkeiten, mit denen die ehemalige Sowjetrepublik zu kämpfen hat. Autobahnen? Gibt es nicht, nur Überlandstraßen. Schienennetze? Sind so alt, dass Züge vom Typ ICE aus den Gleisen springen würden. Busse? Sind weder in ausreichender Zahl vorhanden, noch halten sie den Ansprüchen westlicher Besucher stand. Flughäfen? Gibt es einen, aber er würde im jetzigen Zustand keinen Flieger über 80 Passagiere empfangen können, die Landebahnen sind zu kurz. Hotels der Kategorien eins, zwei, drei, vielleicht noch vier? Gibt es ein paar, aber in Donezk fährt man in die Grube und nicht an den See, weshalb die Kapazitäten nicht ausreichen.“

Knut Krohn hält am Ende seines Beitrags im Tagesspiegel Grund zur Hoffnung bereit: „Den Zorn der Uefa erregte auch, dass die Ukrainer trotz dieses Bergs von Problemen immer sehr selbstbewusst auftraten. So überraschte es, dass sich Grigori Surkis, der Chef des ukrainischen Fußballverbandes, im letzten Moment plötzlich in Demut übte.“ Man habe die Größe der Aufgabe wohl unterschätzt. „Allerdings werde Ko-Gastgeber Polen durch massive Zuschüsse von der Europäischen Union unterstützt, erklärte Surkis, die Ukraine nicht. Entscheidend für die erfolgreiche Vorbereitung auf die EM 2012 wird sein, ob das politische Chaos in der Ukraine bald ein Ende hat. Seit Monaten legen Juschtschenko und Timoschenko mit einem erbittert ausgetragenen Streit das gesamte Land lahm. Zuletzt weigerte sich der Staatschef beharrlich, dringend benötigte Gelder für den Bau von Straßen und Stadien zu bewilligen. Einziger Lichtblick: Mitte Januar wird in der Ukraine ein neuer Präsident gewählt. Die Uefa wird beobachten, ob sich danach die politische Blockade auflöst.“

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Kommentare

5 Kommentare zu “In Donezk fährt man in die Grube, nicht an den See”

  1. Glock Peter
    Sonntag, 13. Dezember 2009 um 16:04

    UEFA-Standards?
    Was soll das? Darf eine EM nur in Ländern stattfinden in denen es nur Busse mit frühestem Baujahr 2005 gibt?
    Als ob ausgeblendet werden solle, dass Fussball auch da gespielt wird, wo kein Geld da ist. Unverständlich mit welcher Arroganz Ländern gegenüber aufgetreten wird, nur weil sie keine U und S-Bahn haben, keinen Bus und keine Tram, die alle die gleiche Haltestelle bedienen.
    Wo ist da die angeblich völkerverbindende Idee des reinen Spiels.

    Wer so etwas verlangt, verkennt, dass Westeuropa nicht der Standard, sondern dass Ziel ist.

  2. Rundes Leder Browserdienst 50/09 | «Zum Runden Leder»
    Montag, 14. Dezember 2009 um 13:08

    […] Europameisterschaft. Das überkritische Portal “indirekter Freistoss” sieht schwarz. Schwarz wie in einer Grube, könnte man […]

  3. Heffer
    Montag, 14. Dezember 2009 um 14:13

    @Glock Peter: Ist es denn nicht erstrebenswert, eine gutes, öffentliches Netz aus Bahn, Bus etc. zu haben?

    Hast du schonmal daran gedacht, dass ein fehlendes Solches auch Sicherheitsrisken mit sich bringt?

  4. Glock Peter
    Donnerstag, 17. Dezember 2009 um 14:38

    @ Heffer: Natürlich ist es erstrebenswert, ein angenehmes öffentliches Nahverkehrssystem zu haben. Aber es geht auch ohne perfektes System.

    Was das mit Sicherheit zu tun hat verstehe ich aber nicht.

  5. Heffer
    Donnerstag, 17. Dezember 2009 um 18:54

    Klar geht das auch ohne perfektes System, aber wenn man sehr weit von Perfektion entfernt ist, gehts vielleicht nicht mehr gut.

    Wenn der Personentransport nicht funktioniert und man Zigtausende Leute hat, dann fängt irgendwann das Gerangel an, die Leute versuchen anderweitig durchzukommen, gehen zu Fuß, legen da den Verkehr lahm, treffen auch Fans der gegnerischen Mannschaft etc pp.

    das lässt sich bestimmt noch ewig weiter spinnen.
    Wenn in der Allianz Arena in München ein Spiel ist, dann gehts da auch drunter und drüber, trotz einer gut Funktionierenden Ubahn und teilweise großen Mengen an Ordnern, warum sollte das denn nicht schlechter werden, wenn die Umstände weniger gut sind.

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