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Ball und Buchstabe

Von Vorbildern für die Politik und hirnlosen Fußballfans

Marc Vits | Freitag, 16. Juli 2010 Kommentare deaktiviert für Von Vorbildern für die Politik und hirnlosen Fußballfans

Was die Kanzlerin sich ruhig vom Fußball abgucken darf und warum nicht jeder etwas mit der ausgelassenen Stimmung während der WM anfangen konnte – die Presse klärt auf

Eckart Lohse (FAS) fragt sich, was Angela Merkel von Joachim Löw lernen könne, denn die Situation der beiden ließe sich sehr gut miteinander vergleichen: „Nimmt man die Weltmeisterschaftsspiele der deutschen Fußballmannschaft als politische Vorhaben, als Reformen oder Gesetze, so sind manche erwartungsgemäß gelungen, weil die Herausforderungen nicht sehr hoch waren (Australien), andere angesichts hoher Hürden überraschend gut über die Bühne gegangen (England und Argentinien) und wieder andere mit Ach und Krach durchs Ziel gebracht worden (Ghana). Einige sind auch gescheitert, mal durch eigenes Versagen (Serbien), mal am Können der Gegner (Spanien). Alles in allem eine gute Bilanz mit Schattenseiten.“ Auch bei der Frage nach dem Mannschaftsführer sieht der Autor Parallelen zur Politik: „Löws ‚Vizekanzler‘ Philipp Lahm brach gleich noch einen Machtkampf vom Zaun, weil er die Kapitänsbinde nicht an Michael Ballack zurückgeben will. Dass Lahm auch noch bestreitet, es handele sich um einen Machtkampf, lässt die Ähnlichkeit zum Gebaren in der Politik nur noch deutlicher werden.“ Zwar habe auch „Merkels Mannschaft“ einige Erfolge vorzuweisen, doch eine Einheit bilde sie nicht: „Die Personalfragen werden entweder auf später verschoben, so macht es Löw, oder nur kurz erwähnt – das Modell Lahm. Niemand kommt auf die Idee, schlecht über die eigene Mannschaft zu reden, jedenfalls nicht öffentlich und schon gar nicht, wenn es auf dem Platz ernst wird. Da hat jeder das Gefühl: Hier steht eine Truppe zusammen, die alle Kräfte in den gemeinsamen Erfolg investiert. Noch Fragen, was Merkels Mannschaft von derjenigen Löws lernen kann?“

Schwarz-rot-goldene Jubelzombies

Nicht jeder stimmt in die allgemeine Freude über die Feierlaune der deutschen Fans während der WM ein. Peter Richter (FAS) hat seine eigene Sicht der Dinge: „Was ich sehe, wenn ich Bilder von der sogenannten Fanmeile sehe, ist in erster Linie die Tatsache, dass man die soziale Lage heute in Deutschland wieder am Zustand der Gebisse ablesen kann; in den aufgerissenen Gesichtern der ersten Reihe – grundsätzlich Steinbrüche. Jubelzombies. So wird plausibler, warum ‚Public Viewing‘ in der Sprache, die mit diesem Begriff imitiert werden soll, ‚öffentliche Leichenschau‘ bedeutet.“ Bei den Fans, „die sich schwarz-rot-goldene Streifen auf die Wangen malen, sieht es oft nach einer Gesichtsverletzung aus: wie Dreck, Blut und Eiter. Und das trifft ja wiederum ganz gut die allgemeine Stimmungslage nach dem Spanienspiel. Wobei gerade hier wieder einmal die Frage sich stellt, ob das nicht ein gewaltiger Quark ist mit der Ableitung von Nationalcharakteren aus der Art und Weise, Fußball zu spielen. Denn wer je mit spanischen Behörden zu tun hatte, dem würden Assoziationen wie Leichtigkeit, Effizienz und kurze Pässe nicht im Traum in den Sinn kommen; und wenn sich der Nationalismus der Katalanen in der spanischen Nationalmannschaft abbilden würde, wären Männer wie Xavi und Puyol gar nicht dabei, aber ‚wir‘ dafür im Finale.“ Der wiederbelebte – und für seinen Geschmack – übertriebene Patriotismus ist ihm ein Dorn im Auge: „Dauernd wird das Schwarz-Rot-Gold-Geflagge als Mittel der Integration bejubelt. Dabei ist es vermutlich eher das Gegenteil. Schwarz-Rot-Gold als Unterschichtenstigma. Und das Spannendste daran wird der Moment sein, an dem diejenigen, die bisher am heftigsten damit herumgewedelt haben, sagen: Deutschlandfahne? Ist nur was für Türken.“

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