indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Politische Eigentore

Erik Meyer | Freitag, 15. Juni 2012 2 Kommentare

Nach einer Woche EM werden erste Bilanzen gezogen, in die Geschichte geschaut und nach nationaler Identität gefragt.

Reinhard Veser (FAZ) reicht der bisherige Boykott nicht aus, denn “Besuche im Krankenhaus, Pressekonferenzen und Stellungnahmen in der Ukraine oder kleine protokollarische Affronts gegen Vertreter des Regimes finden auch in den dortigen Medien Widerhall und tun Präsident Janukowitsch, der derzeit mit Mordvorwürfen gegen die Oppositionsführerin ungerührt die nächste Repressionsrunde eröffnet, mehr weh als viele Worte in Deutschland. Um es in der Fußballsprache zu sagen: Man muss das Spiel in die Hälfte des Gegners tragen. Sollte die deutsche Mannschaft die Vorrunde überstehen, wird es dazu weitere Gelegenheiten geben.”

Jonanthan Wilson (The Independent) ist mit der Praxis, Turniere aus sportpolitischen Gründen an Ausrichter zu vergeben, die infrastrukturelle Defizite haben, unzufrieden und resümiert nach einigen Reisestrapazen: “Es ist kein Wunder, dass viele Fans zu Hause geblieben sind. Nachdem die Fans vor Ort sich oft die Tickets nicht leisten können, gibt es erstmals seit 1996 bei einer EM wieder haufenweise leere Plätze. Ist die durch die Vergabe beabsichtigte Botschaft dies wirklich wert?”

Bert Rebhandl (Der Freitag) blickt bereits in die Zukunft und versucht sich an einer Interpretation im Zeichen der Finanzkrise: “Niemand kann sagen, ob diese Euro ihr programmiertes Finale bekommen wird. Doch es wäre von kaum zu überbietender Symbolik, wenn einander am 1. Juli Deutschland und Spanien in Kiew gegenüberstehen würden: die größte Gebernation der EU gegen die größte Nehmernation, die umerzogene Musterdemokratie gegen den Modernitätsnachzügler hinter den Pyrenäen.”

Luke Harding (Guardian) relativiert die politische Isolation des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch: “Die Politik des Präsidenten war in vieler Hinsicht ein spektakuläres Eigentor. Trotzdem lief das Turnier selbst überraschend gut. In Kiew, das sich bei 27 Grad sonnt, gab es keine größeren Zwischenfälle, während der schlimmste Ärger außerhalb des Spielfelds in Warschau zwischen kämpfenden Russen und Polen stattfand. Viele Ukrainer finden daher, dass die apokalyptischen Warnungen britischer Medien vor Rassismus in ihrem Land übertrieben und unfair waren – eine ‘Provokation’ in den Worten des Sprechers des Außenministeriums, Oleg Voloshyn.”

Bella Italia

Birgit Schönau (SZ) vertieft sich in die Causa Cassano und porträtiert den italienischen Nationalspieler, der sich dieser Tage homophob äußerte, als eine Verkörperung des “Coatto”: “In seiner modernen Version ist der ‘Coatto’ ein nicht vollkommen unsympathischer, intellektuell aber eindeutig zu kurz gekommener Vorstadtrowdy, der erstaunlich geschmacklose Kleidung trägt und gern dummes Zeug daherredet.” Doch dahinter steckt etwas mehr: “Eigentlich ist der ‘Coatto’ eine moderne Maske der Commedia dell‘Arte, ein vulgärer Clown, der den anderen den Spiegel vorhält, indem er sich nicht eine Sekunde nach den Regeln des bürgerlichen Anstands benimmt.”

Ambros Waibel (taz) hat mit dem Autor Marco D’Eramo über den gesellschaftlichen Stellenwert des Fußballs in Italien gesprochen: “In Italien kaufen sich die Reichen und Neureichen wie Berlusconi, Agnelli, Moratti Fußballklubs. Und das ist eine zwar dumme, aber langfristige Investition. Denn man kann im Leben allem untreu werden, der Religion, dem Beruf, der Frau – aber nicht dem Verein. Das hat eine metaphysische Dimension.“

Historische Perspektiven

Rolf Brockschmidt lobt im Tagesspiegel die positive Entwicklung des ehemals hasserfüllten deutsch-niederländischen Verhältnisses. So seien die Zeiten von Kriegsmetaphern zwischen den Fans vorbei, zudem sind „seit der WM 2006 auch diese ewigen Beschwörungen der Todfeinde und Erzrivalen – man nannte die Daten 1974 und 1990 wie bei Weltkriegsveteranentreffen – vergessen.“ Es sei gut zu sehen, „dass heute ein Schweinsteiger  einen van Bommel tröstend umarmt. Die Zeit der Lamas ist vorbei, die Beziehungen normalisieren sich – und auch das Verhältnis zur eigenen Mannschaft und zu den eigenen nationalen Symbolen“, schreibt der Autor.

Sylvia Engels (Deutschlandfunk) geht gemeinsam mit dem Soziologen Krzystof Wojciechowski auf die Suche nach den historischen Hintergründen der Ausschreitungen zwischen Polen und Russen: „In der Geschichte waren die Polen meistens Opfer der russischen Brutalität und des Imperialismus. Aber wenn sie die Gelegenheit hatten, schlugen sie eifrig zurück. Dieses historische Verhältnis wurde nicht bereinigt und bei Gelegenheiten wie dieser kommen alle Emotionen hoch.“

Hat die Ukraine eine nationale Identität? Der ukrainische Autor Maxym Kidruk stellt sich auf The European den Fragen von Jutta Lindekugel: „Wenn man etwas über die ukrainische Identität wissen möchte, darf man niemanden über 40 fragen, denn die haben keine. Man fragt besser die Generation, die in der unabhängigen Ukraine aufgewachsen ist. Die werden nie so einen Unsinn von sich geben, wie ‘es gibt keine einheitliche Konzeption im Projekt Ukraine’. Da bin ich sicher. Diese Frage wird von meiner Generation als Angriff empfunden.“

Medienkritik

Antje Hildebrandt kommentiert auf Welt Online die Erklärung des ZDF, weshalb es sein EM-Lager auf Usedom aufgeschlagen hat („Weil die Grenze zu Polen so nah ist, es ist eine gemeinsame Insel – polnisch und deutsch.“): „Eine haarsträubende Erklärung. Wäre es dem Sender tatsächlich darum gegangen, ein Zeichen für die Völkerverständigung zu setzen, hätte er sein Ufo wenn nicht direkt in Danzig, Warschau oder in Breslau, dann doch wenigstens auf der polnischen Seite der Insel landen müssen, in Swinoujscie. Im Zweiten Weltkrieg wurde das einst so prächtige Ostsee-Bad beinahe von der Weltkarte radiert.“

Über einen neuen Anlass zur Kritik an der TV-Übertragung berichtet Katharina Miklis (stern.de). Es geht um die Szene, in der Jogi Löw einem Balljungen den Ball wegschnippt. Die Uefa hat nun auf Nachfrage bestätigt, dass dies nicht zum Zeitpunkt der Übertragung des Spiels gegen die Niederlande stattfand, sondern Bilder vom Aufwärmen waren. ”Auf andere Szenen des Spiels wurde jedenfalls verzichtet. Etwa auf die Aufnahmen von den zwei Grünen-Abgeordneten Rebecca Harms und Werner Schulz, die während des Deutschland-Spiels mit einem Plakat gegen die Menschenrechtsverletzungen im Gastgeberland Ukraine protestierten. Diese Bilder wurden nicht im Fernsehen gezeigt.”

freistoss des tages

Mitarbeit: Christoph Asche

Kommentare

2 Kommentare zu “Politische Eigentore”

  1. HUKL
    Freitag, 15. Juni 2012 um 16:03

    Diese oben stehenden Themenkomplexe sind ganz vorsichtig zu bewerten. Die schlimmen geschichtlichen Ereignisse dürfen nicht von Randalierern der Gegenwart zum Vorwand genommen werden! Sie haben mit dem Fußballsport nichts zu tun. Eigentlich sollte es wirklich nur Angelegenheit der jeweils dort wohnenden Menschen sein, die die wohl unzufriedenen Arbeits- und Lebensbedingungen mit entsprechenden Wahlentscheidungen selbst steuern können.

    Den Begriff eines Oligarchen kennt man eigentlich nur aus der Geschichte. Umso überraschender ist es, dass bei diesen Europameisterschaften der Fernsehzuschauer dieses Wort immer wieder zu hören bekommt, besonders dann, wenn es um den einen Gastgeber, die Ukraine, geht. Bekanntlich drückt man als neutraler Zuschauer solch einem Land auch besonders die Daumen, weil es für die weitere Stimmung fördernd ist.

    So war es auch bei mir und freute mich besonders über den ersten umjubelten Sieg der Einheimischen aus der Ukraine. Allerdings kurz danach, am späten öffentlich rechtlichen Fernsehabend wurden zwei völlig gegensätzlicher Betrachtungsweisen in diesem Land, über eben diese Oligarchen, die Herrscher über Volk, Wirtschaft und Arenen sind und über jene, die mit vorrangig schwerer Arbeit z.B. in Erzgruben für diese das Geld erarbeiten. Man sollte wirklich etwas nachdenklicher sein, um die Randerscheinungen des Fußballs auch richtig bewerten zu können!

    Der eine Beitrag zeigte die erdrückende Macht einer Mehrzahl richtiger Oligarchen der Gegenwart, die aus normal arbeitenden Leuten durch die Auflösung der Sowjetunion in den 90-iger Jahren plötzlich mit nicht nachzuvollziehenden und wohl auch unrechtmäßigen Handlungen zu übermäßig einflussreichen Geschäftsleuten wurden, die dadurch zusätzlich eine hohe politische Macht erhielten. Im Fall der Ukraine sind einige ab dem Zeitraum von 2004, nach dem Beispiel des Russen Abramowitsch mit dem Kauf von Chelsea London vorher oder die bekannten steinreichen Italiener Besitzer von Arenen, Flughäfen und kompletten Vereinen geworden, in denen vorwiegend nur hochbezahlte Ausländer spielen.
    Diese Machtleute, allen voran der einflussreiche ukrainische Verbandspräsident Surkis, der diese EM in sein Land holte, haben natürlich auch beste Beziehungen zu dem UEFA-Chef Platini….

    Die besonders jetzt immer wieder genannte inhaftierte J. Timoschenko war als „Gasprinzessin“ vor ihrer Zeit als Landesmutter mit ihrer umgestalteten Zopfhaarpracht, die sie um fast 20 Jahre äußerlich jünger machte, auch eine millionenschwere Oligarchin! Undurchsichtige Geschäfte und schwerer Amtsmissbrauch zum Nachteil ihres Landes brachten sie nach ihrer politischen Abwahl für sieben Jahre in das Gefängnis. Dazu muss sie fast 150 Millionen Schadenersatz zurückzahlen! Nun strebt sie ein erneutes Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof an. Das sollte man wissen, aber ihr trotzdem ein faires Verfahren wünschen, da dort die Justiz eher etwas einseitig zu handeln scheint.

    Zurück zum Sport:
    Kritisch betrachtet, waren die Siege der Deutschen eher die Ursache der relativ schwachen Gegner (bei Portugal trifft das allerdings nicht ganz zu) bzw. an den erfolgreichen Einzelleistungen des ballkontaktarmen, sich, lt. Feststellung eines bekannten „Experten“, „wund gestandenen“ Gomez bei seinen drei Torschüssen. Wie fast immer kam das Glück dazu, weil er das erste spielentscheidende Tor zu dem Zeitpunkt erzielte, als sein Nachfolger Klose sich an der Seitenlinie auch schon längst wund gelaufen hatte, doch vom „Seitenschiedsrichter“ noch keine Starterlaubnis erhielt. So ist aus einem (Fast-) Versager noch ein Held geworden, der das zweite Spiel eigentlich allein entschied!

    Fast schon nervlich sind allerdings die immer wieder gezeigten Fernsehaufnahmen, die die Ruhe und Abgeklärtheit unseres Nationaltrainers dokumentieren sollen, als er einem Balljungen vor dem Spiel von hinten das Spielgerät aus den Händen schnippte.

  2. thorfabrik
    Sonntag, 17. Juni 2012 um 19:52

    Der „Cavaliere“ war früher Inter-Fan..

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