indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Fan-Entgleisungen statt Party-Patriotismus

Christoph Asche | Dienstag, 26. Juni 2012 Kommentare deaktiviert für Fan-Entgleisungen statt Party-Patriotismus

Neue nationale Klischees, rechte Parolen im deutschen Fanlager und Witali Klitschko als politischer Reformer der Ukraine. Die Presse am 19. EM-Tag

Für Shaun Walker (Independent) haben die englischen Fans die Ukrainer mit neuen nationalen Klischees konfrontiert: “Nachdem eine ganze Nation mit Schulbüchern groß geworden ist, in denen die Engländer als ein höflicher Haufen beschrieben werden, der durch eine Zwangsjacke von komplexen sozialen Regeln zusammengehalten wird, waren viele Ukrainer beunruhigt zu entdecken, dass die Untertanen Ihrer Majestät eher 15 Pints Lager leeren, als auf ihren 5-Uhr-Tee zu bestehen. Zwei Kellnerinnen in einer Kneipe in Donezk sahen mit großen Augen wie englische Fans sich auf Stühle stellten, ihre Hemden aufrissen, tätowierte Oberkörper offenbarten und in den mitreißenden Schlachtgesang ‚Keine Kapitulation vor der IRA‘ einstimmten. Einen deutlicheren Ausdruck von Desillusionierung habe ich noch nie gesehen.”

Rob Smyth (Guardian) zieht ein versöhnliches Fazit: “Die Engländer von Roy Hodgson zeigten trotz aller erheblichen Einschränkungen gewisse Qualitäten, was sich herablassend anhört, aber nicht so gemeint ist: Diziplin, Bescheidenheit und Bemühen. Während des gesamten Turniers war im guten wie im schlechten Sinne ihre Menschlichkeit erkennbar, und es gab nicht die ermüdende Hybris und Anspruchshaltung der Goldenen Generation. Zum ersten Mal seit mindestens einem Jahrzehnt war England bei einem großen Turnier mehr als die Summe seiner Teile.”

Deutsche Fans – ein Dokument der Entgleisungen

Markus Völker (taz) berichtet über rechtsextreme Parolen bei der EM. Ausgangspunkt ist ein im Blog Publikative veröffentlichter “Erlebnisbericht aus der Ukraine von Florian Schubert”. “Der Blogeintrag hat sich weit verbreitet. Es ist ein Dokument der Entgleisungen deutscher Fans. Beim Spiel gegen Dänemark in der Vorrunde wurde ein Banner mit der Fraktur-Aufschrift ‘Gott mit uns’ gezeigt, das im Zweiten Weltkrieg auf den Gürtelschnallen der Wehrmachtssoldaten prangte.” Inzwischen hat die Uefa den DFB für diesen Vorfall mit einer Strafe von 25.000 € belegt.

Claus Vetter und Johannes Schneider ziehen im Tagesspiegel bereits vor Turnierende Bilanz: „Dieses Turnier ist nicht nur hochklassig. Es ist auch gerecht und für den Fernsehzuschauer aufregend. Mag die Uefa auch mit ihren glattgebügelten Fernsehbildern versuchen, den Unterhaltungsfaktor keimfrei zu halten, so keimen die Überraschungsmomente rund um die Spiele. Und wie sie wuchern diesmal!“

Birgit Schönau (SZ) wendet sich der schillerndsten “Figur im lustigen Haufen der Anarchos aus Italien” zu, dem Torwart: “Wie der geschwätzige Hausmeister in einem römischen Mietshaus quatscht Buffon manchmal einfach eine Menge Blech daher. Wie vor ein paar Wochen, als er die Ermittlungen im Profi-Wettskandal mit der Bemerkung aufmischte, gegen Saisonende seien Absprachen für ein Unentschieden nichts Außergewöhnliches: ‚Besser zwei Verletzte als ein Toter.‘ Ein selten dämlicher Satz für den Kapitän einer Nationalmannschaft, die beim letzten EM-Gruppenspiel gegen Irland darum zittern musste, dass Spanien und Kroatien sich nicht auf ein hohes Remis einigten – in diesem Fall wäre der Tote nämlich die Squadra Azzurra gewesen.”

Löw – der George Clooney des Fußballs

Unterdessen lässt der amerikanische Autor Matthew Futterman (WSJ) seiner Unterstützung für das deutsche Team freien Lauf: “Da begeisterte ich mich für das letzte Tor von Mario Gomez für Deutschland, sabberte über die Art, in der Mesut Özil den deutschen Angriff aus der Mitte des Feldes mit Anmut und Ruhe wie ein Quarterback einleitete und schrie jedes Mal, wenn der eiserne Mittelfeldspieler zu einem seiner blitzartigen Angriffe auf das Tor ansetzte, in meinem Kopf “SCHWEINSTEIGER” (es gibt gerade im Sport keinen besseren Namen). Und von Deutschlands schneidigem Zen-Meister-Trainer Joachim Löw will ich gar nicht erst anfangen: Der George Clooney des internationalen Fußballs – nur besser aussehend und offenbar bescheidener sowie philosophischer.”

Acht Tage lang war Lemberg Gastgeberstadt der EM. Auf den Trubel folgt nun wieder der Alltag, schreibt Sven Goldmann (Zeit Online): „Lemberg ist immer noch eine freundliche und geschäftige Stadt. Die Hotels sind gut gebucht, aber die Gäste deutlich älter und gesetzter als noch vor einer Woche. Niemand läuft mehr mit Fahnen und in Fußballtrikots über den Rynek. Der fröhlich-anarchische Geist hat sich verflüchtigt.“

Politiker Witali Klitschko

Witali Klitschko will mit seiner Partei Udar ins ukrainische Parlament ziehen. Die NZZ erklärt die politischen Vorzüge des Boxers: „Klitschko wurde als Boxer im Westen reich, gilt als unabhängig gegenüber den Oligarchen. Er orientiert sich an der EU. Sprachkulturell ist er russisch geprägt, hat also Zugang zu konservativen Schichten, die sich am Kreml ausrichten.“

Hartmut Scherzer (FAZ.net) beschreibt die Widerstände, auf die Klitschko auf Grund seines politischen Engagements stößt. So hätte er im September gerne im Olympiastadion von Kiew seinen letzten Boxkampf gegeben, „aber der Antrag für eine Boxveranstaltung wurde vom zuständigen Ministerium abgelehnt. Trotz der Millionen-Einnahmen, die dabei für den Kiewer Stadthaushalt herausspringen würden. Der Rasen könnte Schaden nehmen, lautet die fadenscheinige Begründung. Einen derart populären ‚Wahlkampf‘ eines Gegenspielers kann der autoritäre Staatspräsident Viktor Janukowitsch offensichtlich nicht zulassen.“

Die Legende des „Todesspiels“

Jeré Longman (NY Times) schreibt über den Fußballmythos des „Todesspiels“ zwischen einer deutschen Flakelf und ukrainischen Fußballern im Jahr 1942: „Das Spiel endete 5:3 – so viel ist zumindest schon einmal sicher. Verschiedenen Berichten zufolge starben vier oder fünf ukrainische Spieler innerhalb der nächsten sechs Monate. Wurden sie umgebracht, weil sie ein Fußballspiel gewannen? Alle Beteiligten sind heute vermutlich tot. Die Wahrheit bleibt schwer zu fassen. Einer der Spieler, der die Legende vorantrieb, hat scheinbar mehr Versionen der Geschichte verbreitet als Tore in dem Spiel gefallen sind.“

freistoss des tages

Mitarbeit: Erik Meyer

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