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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Das Spanien-Double und der neue Ballack

Daniel Drepper | Dienstag, 6. Juli 2010 2 Kommentare

Vor dem Halbfinale gegen Europameister Spanien fragt sich die Presse, wie die deutsche Mannschaft die Sperre von Thomas Müller verkraften soll und ob Michael Ballack die Kapitänsbinde vielleicht für immer verloren hat; die deutsche Elf sieht sie als das neue Spanien

Wie ersetzt Joachim Löw nur Thomas Müller? Vermutlich wird es Piotr Trochowski, über dessen Qualitäten Christof Kneer (SZ) geteilter Meinung ist: „Trochowski weiß, dass er kein Müller ist, er spielt völlig anders. Ihm fehlt Müllers Drang zum Tor und sein wildes Ungestüm, er spielt spanischer. Er ist ein Mittelfeldspieler, der den kleinen Haken ebenso im Repertoire hat wie den klaren Pass und den kernigen Distanzschuss, aber er hat auch das Talent zur falschen Entscheidung. Manchmal schießt er, wenn er passen sollte. Manchmal kreiselt er, wenn dem Spiel ein Pass gut täte.“

Für Michael Rosentritt (Tagesspiegel) legt Müller die Seele des deutschen Spiels frei: „Thomas Müller ist für diese Mannschaft mehr als nur ein talentierter Spieler, der einen Lauf erwischt hat und ein Tor ans andere reiht. Es sind andere Szenen, die über Müllers Wert Auskunft geben. Wie jene gegen Mitte der zweiten Halbzeit, als er in der schwierigsten Spielphase für die Deutschen den entscheidenden Pass auf Podolski gab, der wiederum Klose das 2:0 in den Fuß legte. Halb im Sitzen, halb im Liegen verlieh Müller dem Ball den nötigen Dreh.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Müller seine gelbe Karte bereits bekommen. Nicht wenige Spieler hätten sich in solch ein Schicksal ergeben, schreibt Rosentritt. „Müller aber spielte weiter, als hätte es diese Gelbe Karte nie gegeben. Im Gegenteil. Nicht er, sondern die Mannschaft spielte für ein paar Minuten wie benebelt, ja geradezu so, als wäre sie gesperrt fürs Halbfinale. Müller aber spielte sein Spiel weiter, und riss dabei die anderen mit.“

Löw als Fußball-Versteher mit Autorität

Nach den deutschen Erfolgen ist der „größte deutschen Fußball-Versteher“ Joachim Löw für Michael Horeni (FAZ) so stark geworden, wie außer Franz Beckenbauer kein Bundestrainer vor ihm. „Wenn Joachim Löw auf der Pressekonferenz sagen würde, Deutschland wird Weltmeister, dann würde in Berlin schon jetzt die Fanmeile für den Empfang mit dem Weltpokal vorbereitet. Denn an seinen Worten wird in Deutschland in diesen Tagen nicht mehr gezweifelt.“ Die DFB-Funktionäre um Zwanziger, so Horeni, würden immer älter, unwichtiger und ferner erscheinen, je besser und unwiderstehlicher Löws Mannschaft auftrete. Der Bundestrainer habe dank der neuen Spielweise viel mehr Autorität als noch vor zwei Jahren, was Horeni auch mit den Konflikten um Kuranyi, Frings und Ballack verknüpft: „Löw denkt seine Entscheidungen vom Ende her, vom spielerischen Ende. Kuranyi konnte er ersetzen, Frings auch. Die Alternativen hat Löw mit den jungen Spielern, die er nominierte, viel früher erkannt als wohl alle anderen. Man kann sagen, dass sie seine Möglichkeiten entscheidend erweitert haben, so zu entscheiden, wie es sein Fußball-Verstand schon immer sagte, aber das Personal lange nicht hergab.“

Die Mäuse tanzen auf dem Tisch

Lars Wallrodt und Lars Gartenschläger (Berliner Morgenpost) sehen in Philip Lahms Bekenntnis zur Kapitänsbinde einige Brisanz, „denn Lahm ist nicht Kapitän der deutschen Mannschaft. Er ist Ersatzkapitän für Michael Ballack, den verletzten ‚Capitano‘. Es wird das Selbstverständnis des 33-jährigen Neu-Leverkuseners sein, das er nach seiner Genesung in die Eliteauswahl des Deutschen Fußball-Bundes zurückkehren will. Und er wird dies nicht als Mitläufer tun, sondern als Mannschaftsführer.“ Es möge Zufall sein, so Wallrodt und Gartenschläger, dass Ballack ausgerechnet zu der Zeit unvermittelt aus dem Mannschaftsquartier abreiste, aber es passe ins Bild: Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.

Auch Philipp Selldorf und Christof Kneer (SZ) befassen sich mit der Bedeutung von Ballacks Abreise: „In Wahrheit deutete sich am Montagabend nichts weniger als das Ende einer Ära an – das Ende der Ausnahmestellung Michael Ballacks bei der Nationalmannschaft. Mindestens.“ Eine Staatsaffäre sei aus Ballacks Heimreise spätestens in jenem Moment geworden, in dem Philipp Lahms Anspruch auf die Kapitänsrolle in einer Interviewrunde öffentlich wurde. „Lahms Offensive ist aus einer Entwicklung entstanden – und aus der Eigendynamik eines erfolgreichen Turniers. Ballack hat sich vermutlich keinen Gefallen damit getan, dass er am vergangenen Donnerstag nach Kapstadt gereist ist, um die Mannschaft zu besuchen. Er fand keinen Zugang zu seinem alten Team, das in den sechs Wochen ohne ihn einen eigenen Geist entwickelt und eine neue Gemeinschaft gebildet hat.“

Deutschland gegen sich selbst

Das Spanienspiel sieht Christof Kneer (SZ) als ein Spiel der deutschen Mannschaft gegen sich selbst. „Beziehungsweise: Deutschland spielt gegen eine Mannschaft, die sie selbst gerne wäre, und vielleicht, am Ende einer Entwicklung, auch mal sein könnte. (…) Wer Löw zwei Tage vor dem WM-Halbfinale zuhörte, begriff deutlich wie selten den großen Plan dieses Bundestrainers: Er will das große Deutschland in ein kleines Spanien umbauen, Stück für Stück, bis am Ende vielleicht wieder ein großes Deutschland herausgekommen ist.“

Boris Herrmann (Berliner Zeitung) sieht den Ursprung der heutigen deutschen Mannschaft im verlorenen EM-Finale vor zwei Jahren: „Am Anfang stand die Erkenntnis. Dann wurde daraus ein Leitbild. Dann setzte Löw wie angekündigt die Feile an und schuf nach und nach ein Kunstplagiat. Und jetzt trifft diese deutsche Mannschaft, die als Kopie der Spanier von 2008 angelegt ist, im WM-Halbfinale auf das Original.“ Mittlerweile, so Herrmann, würden die Deutschen weltweit sogar für die besseren Spanier gehalten. „Während das Team von Vicente del Bosque noch nach seiner Alpenform sucht, haben die Deutschen mal eben 13 Tore geschossen und die ganze Welt verzückt. Sie sind schnell, hungrig und ballsicher. Es ist erstaunlich, wie dieses Team der spanischen EM-Auswahl gleicht. Und es ist noch viel erstaunlicher, dass Löw dafür nur zwei Jahre gebraucht hat.“

In Erwartung des Duells am Mittwoch nimmt Javier Cáceres (SZ) Spaniens Innenverteidiger Gerard Piqué unter die Lupe. „In Spanien wird Piqué schon länger ‚Piquenbauer‘ genannt – weil er mit imperialer Erhabenheit über den Platz schreitet. Freilich hat sein Offensivspiel eine größere Dynamik als einst das von Beckenbauer.“ Piqué habe großen Anteil am starken Abwehrverhalten der Spanier und somit auch an den spanischen Titelchancen. „In der Innenverteidigung bilden Carles Puyol und Piqué ein überaus eingespieltes Duo; sie haben bei dieser WM bereits ihr 75. gemeinsames Spiel als Verteidiger-Pärchen bestritten, beide spielen bekanntermaßen beim FC Barcelona.“

Kommentare

2 Kommentare zu “Das Spanien-Double und der neue Ballack”

  1. BProbe
    Dienstag, 6. Juli 2010 um 20:11

    Trochowski ist das Ende de Laufs. Hoffen wir auf Kroos.
    Und Ballack? Der hat logischerweise genauso zu verschwinden wie vor ihm Frings, aus alters- und spielstil-Gründen. Das weiß Lahm, das ahnt Ballack. Die Claims werden neu eingesteckt, hoffentlich ohne den Mittelfeld-Ballack(st).

  2. Peter Glock
    Mittwoch, 7. Juli 2010 um 12:16

    Ich weiß auch nicht, ob Trochowski die richtige Lösung wäre. Ob Kroos Müller adäquat ersetzen kann?

    Wir werden es in acht Stunden und 16 Minuten sehen…

    Von Ballack kann man noch nichts sagen. Wenn er sich in diese Mannschaft einfügen kann, dann ist es in Ordnung. Wenn nicht… siehe Frings

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