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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Ballschrank

Weiche Wolke vs rauer Teppich – Jens Lehmann im Interview u. v. m.

Oliver Fritsch | Samstag, 1. November 2003 Kommentare deaktiviert für Weiche Wolke vs rauer Teppich – Jens Lehmann im Interview u. v. m.

Christoph Biermann ist eines vermeintlichen Mythos‘ satt, Jens Lehmann mag das englische Publikum, Playboy-Anfrage für die Frauen-Nationalmannschaft, die Kirche Maradonas

Christoph Biermann (taz 30.10.) geht ins Kino – „Das Wunder von Bern“ – und möchte lieber über Fußball reden; und nicht über Mythen: „Schon vor dem Film war ich seinem Overkill erlegen und konnte im Kino nur eine Leistungsschau des Ausstattungswesens und das Play-Station-Publikum im virtuellen Wankdorf-Stadion sehen, das billig animiert vor sich hin jubelte. Doch kein Wort mehr zu diesem Film und keines mehr zur hundertfach geschriebenen Behauptung, dass die Geschichte der Bundesrepublik angefangen hat, als das Spiel gegen die Ungarn mit 3:2 abgepfiffen war. Es mag so sein oder auch nicht. Mir ist das im Moment egal oder nur insofern wichtig, als das real gespielte Fußballspiel unter solchen Interpretationen begraben ist. Wie es wirklich war, wissen wir nicht, weil die Filmrollen verschwunden sind. Möglicherweise haben wir im nächsten Jahr eine klarere Idee, wenn lauter Stückchen aus aller Welt zusammengetragen das Mosaik vollständiger machen. Hilfreich könnte das werden, denn 54 ist die Urszene des deutschen Fußballs – als er aus dem Schlamm kroch, die Kiemen abwarf und zu laufen begann. Jede große Fußballnation hat ihre Urszene, auf die man sich zurückbeziehen kann und die ein Orientierungspunkt bleiben wird. Bei den Brasilianern war es zweifellos die WM 1958, als Pelé begann, und schöner Fußball, der siegreich war. Womit auch schon die Extreme benannt wäre: 1958 vs. 1954, Schönheit vs. ja, was eigentlich? (…) Als wahre Essenz blieb, dass eine eigentlich schlechter besetzte Mannschaft auch dann gewinnen kann, wenn sie sich nur genug reinhaut, und dass deutsche Fußballteams erst dann besiegt sind, wenn abgepfiffen ist (oder eben nicht). Diese Idee lebte über Jahrzehnte weiter und wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung (etwa 1974, als die eigentlich besseren Holländer besiegt wurden). Es galt das Primat von Kampf, Einstellung und Haltung über Schönheit und Inspiration. Der Spaß lag allein im Erfolg (außer bei der EM 1972). Inzwischen ist der Kampfvorteil längst dahin, weil sich nicht einmal mehr Brasilianer vor Regen erschrecken. Bern ist zum Trauma geworden, denn noch ist nicht in allen Köpfen angekommen, dass Fußball auch gespielt werden muss. Nur, vielleicht wurde das in Wirklichkeit getan, vielleicht war mehr Kunst im Spiel der Helden von Bern als behauptet wird, und vielleicht erfahren wir es noch. Das wäre gut, schließlich ist Geschichte dazu da, ständig neu geschrieben zu werden. Und eine andere deutsche Fußballgeschichte ist leider weiterhin dringend notwendig.“

Rezensionen, Interviews über „Das Wunder von Bern“

In England wird man auch von den gegnerischen Zuschauern begrüßt und verabschiedet

SpOn-Interview mit Jens Lehmann, Arsenal London

SpOn: Herr Lehmann, Sie stehen seit Saisonbeginn beim FC Arsenal im Tor. Was zeichnet den englischen Fußball nach Ihren bisherigen Erfahrungen aus?

JL: Im Vergleich zum Fußball in Deutschland wird in England ungeheuer schnell gespielt.

SpOn: Heißt das auch, dass die spielerische Qualität insgesamt höher ist?

JL: Ja, in der Breite. In der Bundesliga haben die meisten Aufsteiger oder Teams, die gegen den Abstieg spielen, schon große Schwierigkeiten, ein technisch wirklich gutes Spiel aufzuziehen. In England dagegen – dank des vielen Geldes – spielen alle Mannschaften in der Premier League durchgängig einen guten Fußball.

SpOn: Es gibt die Vorstellung, dass es im Mutterland des Fußballs härter zugeht als anderswo. Erleben Sie das so?

JL: Generell gilt das nicht, aber aus meiner Sicht als Torwart muss ich sagen, dass im Strafraum, wenn es darauf ankommt, sehr, sehr körperbetont und hart gespielt wird. Da wird man geblockt, wird geschubst und gestoßen, bekommt Schläge ab.

SpOn: Lassen die Schiedsrichter auf der Insel mehr durchgehen?

JL: Als wir neulich in Liverpool mit 2:1 gewannen, gab es in der Schlussphase eine Situation, in der ich raus wollte und sich mir als erstes ein Liverpooler in den Weg stellte. Als ich beim zweiten Versuch hochspringen wollte, sprang mir einer halb in den Rücken und stieß mich weg. Schließlich konnte einer unserer Verteidiger noch auf der Linie klären. In Deutschland wäre, wenn nicht schon beim ersten, spätestens beim zweiten Mal gepfiffen worden. In Deutschland sitzt man als Torwart auf einer weichen Wolke, in England auf einem rauen Teppich.

SpOn: Wie unterscheidet sich die Atmosphäre in den Stadien?

JL: Ich finde die Atmosphäre in Deutschland auch sehr gut, aber in England ist sie noch einen Tick besser. Die Zuschauer hier sind freundlicher und freuen sich, wenn guter Fußball gezeigt wird. In Deutschland haben wir das Paradox, dass – sagen wir – der 1. FC Köln aufsteigt und die Fans sich irrsinnig freuen, wieder gegen die Top-Teams der Bundesliga zu spielen, aber dann wünschen sie denen nur das Übelste und beleidigen sie permanent. In England wird man dagegen auch von den gegnerischen Zuschauern fair begrüßt und verabschiedet.

SpOn: Wird bei Arsenal auch anders trainiert als bei den Clubs, für die Sie in Deutschland gespielt haben?

JL: Ich hatte in Deutschland bei Schalke mit Huub Stevens einen ausländischen Trainer, der sehr gutes technisches und taktisches Training machte, von dem alle Spieler unheimlich profitiert haben. Die meisten deutschen Trainer, die ich hatte, legen viel mehr wert auf körperliche Fitness. Für Arsène Wenger ist Taktisches viel wichtiger, ebenso wie etwa Alberto Zaccheroni früher beim AC Milan. Es gibt Angenehmeres, aber man lernt sehr viel über Fußball dabei.

Ilja Kaenzig (NZZ 30.10.) berichtet „Glasnost“ im russischen Vereinsfußball und den Titelgewinn ZSKA Moskaus: „Zum ersten Mal seit 1991 heisst der russische Fussballmeister wieder ZSKA Moskau. Es ist jedoch nicht der Erfolg der sportlich stärksten Mannschaft der Saison 2003, sondern des finanzkräftigsten Vereins. Schon vor Beginn des Championats war den Experten klar, dass es nur den Sieger ZSKA geben kann. Leider waren zahlreiche Spiele des ehemaligen Armeeklubs von diskutablen Schiedsrichterleistungen überschattet – an mehr als zehn Partien wurden schwerste Fehler der Unparteiischen registriert, die jeweils ZSKA-Siege begünstigten. Woher nimmt ZSKA die Mittel, um die Landesmeisterschaft dermassen zu beherrschen? Wer hinter dem Klub steht, ist unbekannt. Der offizielle Besitzer des Mehrheitspakets der Aktien ist die englische Firma Blue Castle, die wiederum zu einer holländischen Investment Holding gehört. Doch dieses Firmenkonstrukt dient nur der Verschleierung. Es wird spekuliert, dass der wahre Eigentümer des Vereins der Chelsea-Mäzen Roman Abramowitsch ist, obwohl er dies bisher nicht bestätigt hat (…) Bei den Transferausgaben gehört der russische Fussball mittlerweile zu den führenden Europas: Jaroschik kam für 3,7 Millionen Dollar von Sparta Prag zu ZSKA, ein Transferrekord in Russland. Daraufhin verpflichtete der ukrainische Klub Schachtjor Donezk für 4,27 Millionen Dollar einen Nationalspieler von Serbien und Montenegro, Zvonimir Vukic; kurz darauf erwarb ZSKA den Stürmer Ivica Olic von Dinamo Zagreb für 4,8 Millionen Dollar. Auch im Trainerbereich sind Einflüsse aus Westeuropa feststellbar. Schon seit langem war offenkundig, dass es Russland an moderner Trainingslehre mangelt. Der erste ausländische Spezialist, der den Weg nach Osten wählte, war der Tscheche Vlastimil Petrzhela, der Zenit St.Petersburg übernahm und eine neue Mentalität in den russischen Fussball brachte. Sein korrekter Umgang mit der Presse, seine Kultur und das Auftreten waren den russischen Kollegen bisher unbekannt. Und Petrzhela war erfolgreich: Zenit beendete die Saison als Meisterschaftszweiter, das beste Ergebnis seit 1983. Im Championat 2004 werden daher weitere ausländische Ausbildner in Russland tätig sein. ZSKA, Rostow und Spartak wollen mit einem Trainer aus dem Ausland in die neue Saison gehen. Spartak führte bereits Vertragsgespräche mit Luis van Gaal und Nevio Scala, ZSKA steht in Kontakt mit dem ehemaligen Schweizer Nationaltrainer Arthur Jorge und Vincente Del Bosque, Rostow mit Dusan Uhrin und Miroslav Blazevic.“

Matthias Kittmann (FR 30.10.) beschreibt Zuversicht im Frauenfußball: „Macht Erfolg sexy? Zumindest ist der Playboy dieser Meinung und bat die deutschen Weltmeisterinnen zum Fototermin. Doch der DFB lehnte unabhängig vom finanziellen Angebot dankend ab. Nach Rücksprache mit der Mannschaft übrigens, was auch den gewachsenen Respekt vor dem Team innerhalb des Verbandes belegt. Früher wären die Frauen erst gar nicht gefragt worden. Bei einem anderen Angebot zögerte der DFB jedoch nicht. Denn die neu gewonnene Popularität veranlasste die ARD, die Live-Übertragung der Partie zur samstäglichen Prime Time (18 Uhr) ins Programm zu heben. Ein so genannter Double-Header, wie es im Englischen heißt, denn im Anschluss daran wird das Männerspiel zwischen Deutschland und Frankreich in Gelsenkirchen angepfiffen. In der Partie gegen Portugal geht es nicht nur um Punkte und Tore, sondern auch um eine wirksame Außendarstellung. Für die WM-Heldinnen gilt es, den durch den Titelgewinn entstandenen Boom im Alltag zu nutzen und fortzusetzen. Der Frauenfußball hat in den Köpfen der Marketing-Experten in Deutschland Einzug gehalten, glaubt Heike Ullrich, Frauenfußball-Referentin im DFB. So wollen Sponsoren eigens mit den Frauenteam zusammenarbeiten, Adidas entwirft ein spezielles Trikot, auf dem sich auch optisch der WM-Titel widerspiegeln soll.“

Diego unser, der du bist in Kuba

Matthias Matussek (SpOn) deutet die neue Liturgie in Argentinien: „Wenn Fußball eine Religion ist, dann ist Diego Maradona ihr höchster Ausdruck, befand Hernan Amez vergangenes Jahr. Der Fan aus Buenos Aires gründete im erzkatholischen Stadtteil Rosario seine Maradona-Kirche. Zur Mitternachtsmesse vom 29. auf den 30. Oktober versammelten sich damals 400 Maradona-Gläubige, um den 42. Geburtstag ihres abwesenden Gottes zu feiern. Der Zulauf ist ungebrochen – selbst in Spanien gibt es mittlerweile 9000 Maradonianer, die sich über die Homepage der Kirche zum ihrem Glauben bekannt haben. Am Mittwochabend wird im Szenelokal Pizzeria Banana in Buenos Aires dem Heiland gehuldigt. Man kann sich im Namen Diegos – die Hand auf dem Fußball – trauen lassen, wobei der jeweilige Maradonna-Priester ein schwungvolles D über die Brautleute in die Luft segnet. Man kann sich aber auch einfach mit einem Trikot der unsterblichen Nummer 10 begnügen, bei der die Zahl in das Wort Gott buchstäblich eingebaut ist: D10S. Und keiner wird je seinen ominösen, entscheidenden Treffer bei der WM 1986 vergessen, für das Maradona augenzwinkernd die Hand Gottes verantwortlich machte. England verlor das Viertelfinalspiel mit 1:2, Argentinien wurde Weltmeister. Natürlich schrammt der Maradona-Kult am Rand der Blasphemie, doch bisher hat die Amtskirche in Argentinien den Rummel souverän ignoriert. Das wirtschaftlich gebeutelte Land, in dem weit über die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht ist, braucht Legenden als Mittel zur Flucht aus einem tristen Alltag. Die Maradona-Jünger, katholisch geschult, haben die zehn Gebote umgedichtet. Liebe den Fußball über alles andere. Oder: Verbreite Diegos Wundertaten rund um den Erdball. Selbst das Vater unser blieb nicht verschont: Für die Maradona-Verrückten beginnt es mit den Worten: Diego unser, der du bist in Kuba …“

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