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Wutausbruch Rudi Völlers

Oliver Fritsch | Donnerstag, 25. März 2004 Kommentare deaktiviert für Wutausbruch Rudi Völlers

Selten findet ein Fußballspiel den Weg in die Leitartikel und ins Feuilleton. Den Wutausbruch Rudi Völlers indessen, gestern Thema in allen Funkhäusern, behandeln heute die Zeitungen erwartungsgemäß nach allen Regeln ihrer Deutungs-Kunst. Die NZZ lacht sich ins Fäustchen: „Wohl noch nie haben Fussballfans in Deutschland mit solcher Spannung auf die Montagsausgabe ihrer Tageszeitung gewartet.“

Nicht nur wegen erhöhter Auflage sind die Sieger des Wochenendes die Zeitungen – zumindest die seriösen: im Gegensatz zu den „Lautsprechern“ aus dem Fernsehen verpflichten sie sich Argument, Sachlichkeit und Augenmaß. Nicht zufällig hat der Teamchef die schreibende Zunft in seinem Rundumschlag ausgespart. Die taz dankt es ihm mit Zustimmung: „Vom Stil mal abgesehen: Inhaltlich hat Völler mit seiner Brandrede gegen die ARD Recht.“ Die FAZ vermutet nun eine „Zäsur in Völlers dreijähriger Amtszeit“; Völler wird sich seine Freunde jetzt besser ausgucken. „Die Heftigkeit ist bestürzend, mit der manche Sportjournalisten nun auf ihren einstigen Liebling Rudi Völler eindreschen“, urteilt die FAZ zum einen. Zum andern gibt es in der FAZ auch Gegenstimmen, die der ARD das Recht auf Kritik zuspricht: „Wer Millionen für die Fernsehübertragungsrechte zahlt und dadurch maßgeblich zum Gehalt der Trainer und Spieler beiträgt, hat das Recht, wenigstens ab und zu eine angemessene Gegenleistung anzumahnen. Wenn er nicht mehr die Nerven hat, solch schlichte Zusammenhänge zu verkraften, soll Völler gehen.“ Der Tagesspiegel bemerkt süffisant: „Völlers engagierte Rede kontrastierte auf das Heftigste mit der blutleeren Aufführung, die seine Fußballer zuvor geboten hatten.“

Die Fernsehzuschauer und Radiohörer wiederum sind auf der Seite Völlers: bis zu 98 Prozent der in Funk und Fernsehen Befragten halten seine Klage für angebracht. Auf die Reaktionen der namentlich Angesprochenen darf man nun gespannt sein. Gehendie Nörgler Lattek, Beckenbauer und Breitner in sich? Haben Netzer und Delling ein offenes Ohr für Kritik, und sei sie noch so ungeschliffen mitgeteilt? Kann Völler die TV-Berichterstattung auf den Prüfstand zwingen? Fest steht: Einen solchen Rundumschlag gegen die Stammtischbrüder durfte sich nur Rudi Völler erlauben. Wer hat sonst noch das Rückgrat, den „Kaiser“ anzugreifen – und den Rückhalt?

Wer will, kann den Meinungsaustausch zwischen Völler und den ARD-Leuten Hartmann, Delling und Netzer auf den Sportseiten sogar wörtlich nachlesen. Die Agenturen haben die Griffel gewetzt und stenographiert. Bei aller Dramatik: druckreif war Völlers Sportplatz-Jargon nicht jederzeit. Die Financial Times Deutschland mutmaßt: „So etwa muss Völler erregt gewesen sein, als ihm bei der WM 1990 der Niederländer Rijkaard seinen Speichel in die Locken pustete.“ Die Berliner Zeitung amüsiert sich über Völlers „Vorstellung in kurzen Hosen“, in dem, so die SZ, „der alte Mittelstürmer durchbrach“.

Gibt es auch Fußballkommentatoren, die zu Gesten der emotionalen Solidarität fähig sind?

Der Schriftsteller Georg Klein (SZ 8.9.) stärkt Völler den Rücken und rügt die TV-Berichterstatter. „Schon ist das große Abwehrgewäsch der schmerzhaft Getroffenen dabei, Rudi Völlers Worte unkenntlich zu machen. Völler sei „ausgerastet“, heißt es. Und damit wird das, was Rudi Völler herzerfrischend deutlich markiert hat, in den Bereich impulsiver Gefühligkeit verwiesen, in eine Sphäre, wo es nur um Affekte geht, wo es sich nicht lohnt, genau zuzuhören. Dabei ist auch das, was Völler attackiert hat, Ausdruck von Gefühl. Die Spieler unserer Nationalmannschaft werden bereits im Live-Kommentar des Fernsehens und dann in der allgemeinen Nachverwertung in einer Weise emotional angegangen, die schäbig ist. Was hier zum Ausdruck kommt, ist mit überzogenem Anspruchsdenken zu milde beschrieben. Es handelt sich um etwas Schlimmeres. Schon in der Süffisanz der Live-Kommentatoren zeigt sich so viel Freude am Herabsetzen, eine solch intensive Lust am vernichtenden Wort, dass ich bezweifle, die Sprechenden wären mit einem besseren Spiel zufriedenzustellen gewesen. Es scheint einfach zu schön, sich über das Scheitern dieser unübersehbar um den Erfolg ringenden jungen Männer aus sicherer medialer Distanz und mit gewaltigem medialem Echoraum lustig zu machen. Hier spricht ein Populismus der Niedertracht. Ist denn keine andere Art von Berichterstattung denkbar? Unsere Fußballnationalmannschaft sucht gerade nach einem spielerischen Gesicht, nach den Formen, zu denen ein Kollektiv die Fähigkeiten der Einzelnen mit Kraft und Glück zusammenschießen lässt. Wer nicht Individualist bis zum Autismus ist, weiß, dass kollektive Erfolge nur mit Rückschlägen, auch über gemeinsam durchlittene Niederlagen zu haben sind. Es gibt Fußball-Fans, die mit ihrer Mannschaft in die dritte oder vierte Liga absteigen und darauf verzichten, die Vereinsfahne abzufackeln. Gibt es auch Fußballkommentatoren, die zu Gesten der emotionalen Solidarität fähig sind?“

Wenn er nicht mehr die Nerven hat, soll Völler gehen

Peter Heß (FAZ 8.9.) kritisiert den Teamchef. „Wie groß muß die seelische Not sein, wenn sich jemand so um Kopf und Kragen redet wie Rudi Völler nach dem 0:0 gegen Island? Der Teamchef der deutschen Fußball-Nationalelf griff seine Kritiker an, die allesamt immer nur das Negative herausstellten, in dem Jargon, den er von den Fußballplätzen dieser Welt kennt. Führungskräfte anderer Branchen hätten nach so unflätigen Ausfällen gar nicht mehr zum Rücktritt aufgefordert werden müssen; nach ein paar Minuten des Abstands wäre ihnen klargeworden, daß sie untragbar geworden sind. Das Fußballvolk aber liebt seinen Rudi und zeigt Verständnis. Nur worüber regt sich Völler auf? Über berechtigte Kritik, die – anders als seine Replik – keineswegs in unpassendem Ton vorgetragen worden war. Völler offenbart sich als Teil einer verhätschelten Fußballgesellschaft, die von Teenagerzeiten an bewundert worden ist und sich mit der Wirklichkeit schwertut (…) Wer Millionen für die Fernsehübertragungsrechte zahlt und dadurch maßgeblich zum Gehalt der Trainer und Spieler beiträgt, hat das Recht, wenigstens ab und zu eine angemessene Gegenleistung anzumahnen. Wenn er nicht mehr die Nerven hat, solch schlichte Zusammenhänge zu verkraften, soll Völler gehen.“

Der Teamchef hat sich selbst und seiner Mannschaft damit keinen Gefallen getan

Christof Kneer (FTD 8.9.) beanstandet fehlende Distanz des Teamchefs zu seinen Spielern. „Nie hat man mehr gemerkt als an diesem Abend von Reykjavik, dass tief drunten im Trainer Rudi Völler noch immer der Spieler Rudi Völler steckt. Oft genug ist das schon ein Vorteil gewesen für diese Nationalmannschaft; die Spieler lieben es, wenn ihr Vorgesetzter weiß, wie der Ball springt und warum. Aber es ist spätestens dann kein Vorteil mehr, wenn der Trainer die Manieren des Spielers mit hinauf auf ein Podium nimmt, das von Dutzenden von Kameras ausgeleuchtet wird. Er spürt einerseits, dass die fordernde Öffentlichkeit seine Fußballer-Botschaften nicht mehr so einfach schlucken mag. Aber andererseits glaubt er in Treue fest an seine Sätze. Er spürt einerseits, dass sein Team nicht so gut ist, wie das die Öffentlichkeit verlangt; es ist ja kein Zeichen besonders großen Vertrauens, dass er in Island gleich sechs Spieler fürs Grobe aufbot. Aber es gelingt ihm andererseits nicht, die Öffentlichkeit über den wahren Zustand der Mannschaft in Kenntnis zu setzen, ohne die Mannschaft dabei zu verletzen. Man mag es für mutig halten, dass Völler nun den mäkelnden Medien in aller Öffentlichkeit die Stirn bietet. Aber gewiss ist auch, dass der Teamchef sich selbst und seiner Mannschaft damit keinen Gefallen getan hat.“

Michael Horeni (FAZ 8.9.) hält Kritik an der DFB-Auswahl für berechtigt. „Wie Trapattoni kann der ehemalige Römer damit rechnen, daß er menschlich auf großes Verständnis stoßen wird. Da ist einem der Kragen geplatzt, und er macht seinem Ärger genau auf die Weise Luft, wie es sich auf dem Fußballplatz gehört. Völler hat in schwieriger Rolle seit rund zwei Jahren nach Spielen fast immer nur Kritik und bequeme Ratschläge von seinen alten Bekannten zu hören bekommen. Aber die Nationalspieler werden, anders als bei Trapattoni, der über seine Profis herzog, diesen Teamchef zu schätzen wissen, der sie mit flammender Rede zu schützen versteht. Selbst dann, wenn es dafür kaum mehr gute Argumente gibt. Und da fangen die Schwierigkeiten für den Teamchef an. Die Kritik, die sich Netzer Delling erlaubten, steht ihnen zweifellos zu. Sie hatten sich weder im Ton vergriffen noch in der Bewertung. Ob nun das EM-Qualifikationsspiel in Island ein neuer Tiefpunkt war (oder das Spiel auf Färöer oder das Spiel in Schottland oder das Spiel gegen Litauen oder das Heimspiel gegen Färöer) – darüber läßt sich philosophieren. Aber es läßt sich grundsätzlich nicht darüber streiten, daß die Nationalmannschaft selbst in den Spielen, in denen es darauf ankommt, einen enttäuschenden Auftritt an den nächsten reiht. Dies ist neben den menschlichen Aspekten wohl einer der tieferen Gründe für Völlers Wutausbruch: die Verzweiflung über die begrenzten Fähigkeiten der deutschen Nationalmannschaft (…) Der Teamchef fragte sich zudem, woher die Netzers, Beckenbauers und Breitners nur das Recht für ihre Ansichten hernähmen. Die Antwort ist so banal wie bekannt: Die prominenten Sprüchemacher gehören längst zum Geschäft, sie halten den Fußball im Gespräch, sichern eine Einschaltquote von 8,41 Millionen – und das ganze Brimborium, das um den Fußball gemacht wird, führt natürlich auch dazu, daß Völler als Teamchef üppig entlohnt wird und nebenbei lukrative Gagen für seine Werbespots erhält.“

Kaum sonst jemand verkörpert im deutschen Fußballgeschäft so glaubwürdig das proletarische Ethos

Stefan Reinecke (taz 8.9.). „Völler ist, als Fußballer und als Trainer, ungemein populär. Er ist wie wenige andere Kicker seiner Generation immer der Gleiche geblieben. Er ist nicht arrogant, wie Karl-Heinz Rummenigge, er hat schon gar nicht, wie der trostlose Lothar Matthäus, versucht, sich als Aufsteiger zu inszenieren. Völler, gelernter Bürokaufmann aus einer Arbeiterfamilie, wollte nicht nach ganz oben. Bundestrainer ist er eher zufällig geworden. Kaum sonst jemand verkörpert im deutschen Fußballgeschäft so glaubwürdig das proletarische Ethos, dass man seinen Job halt so gut macht, wie es geht. Sein Ausbruch war, wenn man will, der eines Facharbeiters, der mit mäßigem Material dauernd Höchstleistungen vollbringen soll und, wenn das misslingt, was zu hören bekommt. Einer, der ehrliche Arbeit abliefert, gegen die Diskurshoheit der debattierenden Klasse. Mag also sein, dass seine Alles Scheiße-Tirade manchem Bundesbürger aus dem Herzen gesprochen hat, der auch ehrliche Arbeit abgeliefert, brav seine Beiträge gezahlt hat und jetzt zusieht, wie das Gesundheits- und Rentensystem zu Schanden geht und der Standort Deutschland in Grund und Boden geredet wird. Insofern passt dieser Wutausbruch vielleicht gar nicht schlecht in die Landschaft. Gewiss gab es in Völlers Rundumschlag auch einen unguten Ton: Da sprach halb ein aufgebrachter Kleinbürger, der um sich schlägt – und halb ein Malocher, dem die ewige Besserwisserei der andern zu Recht auf die Nerven geht. Und schließlich sprach da ein Profi, der gegen die Regel rebelliert, dass Fußball als Samstagabendunterhaltung zu funktionieren hat. Genau das hat Völler mit seinem Ausraster geschafft. Das Spiel war furchtbar – aber Völler danach besser als Ballack je sein kann. Sein Auftritt hat die Unterhaltungsmaschine Fernsehen mit genau dem Rohstoff versorgt, den sie am meisten braucht: echte Gefühle.“

Gisa Funck (FAZ 8.9.) beklagt die Haltung vieler Journalisten. “Ob jemand wie Völler überhaupt noch Vorbild für eine Nationalmannschaft sein könne, bezweifelt der Fußballreporter Kai Hoffmann auf WDR 2 allen Ernstes und unterstellt dem Teamchef maßlosen Größenwahn. Eine Eigenschaft, die man umgekehrt ihm und seiner Zunft vorwerfen könnte. Denn, wenngleich Völler im ARD-Studio im Beisein von Waldemar Hartmann verbal die Sicherungen durchgegangen sind und er sich unziemlich über das ständige Tiefpunkt-Gerede von Gerhard Delling und Günter Netzer ereiferte, die seine Elf mit den üblichen Standard-Argumenten zerrupft hatten – die Unfähigkeit deutscher Fußballkritiker, mit der Kritik an ihrem eigenen Gehabe umzugehen, ist doch gleichfalls sehr bemerkenswert. Der Nationalmannschaft hatten Netzer und Delling in gewohnt strengem Gouvernantensound ins Stammbuch geschrieben, daß es an überragenden Spielern fehle (…) Will denn tatsächlich jemand bestreiten, daß Spieler wie Netzer im Vergleich zu den heutigen Kickern Standfußball gespielt haben? Daß sich die Erwartung an die Nationalmannschaft dermaßen gesteigert hat, daß freies Aufspielen, wie es Netzer Co. stereotyp fordern, kaum noch möglich ist? Und daß andere große Fußballnationen wie die Niederlande oder Italien ihre lauen Phasen haben, weil die Talente fehlen? Woran das wiederum liegt, an der Übermacht der Vereine und dem Druck des Fernsehens etwa (ARD und ZDF haben erst kürzlich für 390 Millionen Mark Rechte beim DFB gekauft), das thematisieren Delling und Netzer bei solcher Gelegenheit lieber nicht. Das wäre ja auch zu langwierig. Lieber ein schneller Paß in die Tiefe des Raumes zu einem, der dann vor dem Tor oder als Trainer angeblich alles falsch macht. Ist aber auch kein so erstklassiges Spiel.“

Die Wut gefunden, einmal er selbst zu sein

Jan Christian Müller (FR 8.9.) versteht Rudi Völler. “Am Samstagabend zur besten Fernsehzeit hat eine verblüffte Fernseh-Nation die seltene Gelegenheit gehabt, den Fußball ausnahmsweise einmal in der ganzen Reinheit seines Geistes kennen zu lernen. Völlig ohne ritualisierte Rhetorik. Rudi Völler hat in einem cholerischen Anfall die Wut gefunden, einmal er selbst zu sein, der schlichte Fußballer, der sich ungerecht behandelt fühlt, der, durchaus branchentypisch, mit Ironie nichts anzufangen weiß, sich vergisst und die Gossensprache wählt, die sonst nur in der Umkleidekabine benutzt werden darf. Einmal Prolet sein wie im Stehblock, einmal nicht Teamchef-gerecht abwägen und ätzende Kritik lahm in immer gleicher Wortwahl (Ich bin Realist, Es gibt keine Kleinen mehr) auffangen, sondern gnadenlos zurückschlagen, verletzt und verletzend zugleich sein (…) Man muss aber auch wissen, dass der Hanauer Bub zu jener Fußballergeneration gehört, die talentiert genug war, problemlos ohne Abitur auszukommen und in Männern wie Andy Brehme, Guido Buchwald, Klaus Augenthaler, Lothar Matthäus und eben Völler selbst ihre typischen Vertreter hatte. Kumpeltypen, die ihre Laster ungezügelt auslebten, Sportsmänner, keine Entertainer; die unter dem zunehmenden Medieninteresse mühevoll gezähmt werden mussten und sich, nebenbei, in jungen Jahren nicht annähernd so gewählt auszudrücken vermochten wie die belesenen Abiturienten Metzelder, Kehl, Friedrich, Rau heute. Mag sein, dass der Mythos Völler jetzt nicht mehr wie ein Heiligenschein über Fußball-Deutschland schwebt. Es war sowieso Blödsinn zu meinen, der auch als Mensch unberechenbare Mittelstürmer von einst sei der Heilsbringer des deutschen Fußballs. Wahr ist, dass er auch ohne Fußballlehrerschein kraft seiner Beliebtheit und eines hart erarbeiteten Glücksproduktes im unvergesslichen Sommer 2002 übertünchen konnte, wie es wirklich um die hier zu Lande beliebteste deutsche Sportart bestellt ist: Das 0:0 in Island ist kein Ergebnis grob falscher Taktik oder fahrlässiger Chancenverwertung, sondern Widerspiegelung der derzeitigen Kräfteverhältnisse zwischen einem Nordmeereiland und dem Dauergast in WM-Endspielen.“

Philipp Selldorf (SZ 8.9.) erinnert sich an andere Dünnhäutigkeiten. „Irgendwie glaubt er sich durch Einsprüche und Vorbehalte einiger Experten verfolgt – eine typische Berufskrankheit im Nationaltrainerstand, an der all seine Vorgänger litten. Irrationale Reaktionen bleiben unvermeidlich. So beschimpfte Franz Beckenbauer Schiedsrichter als „gemeingefährlich“, Berti Vogts sah dunkle Mächte am Werk, und Völler gab während der WM eine Ahnung seines Potenzials, als er Südkoreas Bum Kun Cha für „bekloppt“ und aspiringedopt erklärte.“

So standfest hat sich vor einem wild keifenden Trainer selten ein TV-Journalist gehalten

Christopher Keil (SZ 8.9.) gratuliert Waldemar Hartmann zu seinen Defensivqualitäten. „Es hat lichte Momente gegeben im deutschen Fußball-Fernsehen. Beispielsweise den in Madrid vor einem Champions-League-Viertelfinale, als ein Tor umfiel und Marcel Reif und Günther Jauch grimmepreismäßig drauflosquatschten, dass es eine Freude war. Oder den in Gijon, als der inzwischen verstorbene Kommentator Eberhard Stanjek irgendwann schwieg, weil er nicht mehr über den Nichtangriffskick der Deutschen gegen die Österreicher reden mochte, der vom Rest der WM-Teilnehmer 1982 als Wettbewerbsbetrug begriffen wurde. Und vielleicht waren die ungefähr sieben Minuten, die Waldemar Hartmann mit Rudi Völler am Samstagabend verbrachte, auch so ein lichter Moment. Wie hätte Jauch reagiert, der bekannt ist als einer, der mit Ungemach in so genannten live-Situationen umgehen kann? Der bislang brave und beliebte Rudi Völler verlor die Kontrolle, beleidigte das Experten-Duo Netzer-Delling und weckte den Eindruck, mit einem Stammtischplauderer über den deutschen Fußball diskutieren zu müssen. Waldemar Hartmann also, der sich vor langer Zeit zur Aufgabe gemacht hat, jeden zu duzen, blieb in höflicher Bierruhe sitzen, bot eine Dopingprobe an („Ich bin bei Null“), belehrte, dass es auf Island keinen Weizen gebe und ließ sich den Eindruck nicht ausschreien, einen schlechten Auftritt der deutschen Elf gesehen zu haben. Man kann über den CSU-nahen, „Waldi“ gerufenen BR-Mann Hartmann vieles behaupten, aber so standfest hat sich vor einem wild keifenden Trainer selten ein TV-Journalist gehalten.“

Matti Lieske (taz 8.9.) zeigt Verständnis für den Inhalt Völlers Tirade – aber nicht für den Tonfall. “Einen derartigen Grad an Cholerik hatte zuletzt Franz Beckenbauer bei sporadischen Eruptionen in seinen seligen Zeiten als Vorsteher der Nationalmannschaft an den Tag gelegt. In welcher Welt lebt ihr denn alle?, herrschte er die versammelten Fernsehnasen an und schreckte auch vor keiner Gürtellinie zurück. Bierernst und beleidigt die Replik des emsigen Fernsehrechte-Maklers und obersten Fußball-Mäklers. Damals hätte man auch mal schlecht gespielt, räumte Günter Netzer ein, aber dann seien zehn hervorragende Spiele gefolgt. Das müsse wohl vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein, konterte Völler ungerührt. So schlecht hat Netzer jedenfalls nicht mehr ausgesehen, seit er 1974 gegen die DDR eingewechselt wurde. Völlers Rage bezog sich keineswegs auf Kritik an der Leistung der deutschen Fußballer, die auch seiner Meinung nach ein sehr schlechtes Spiel geliefert hatten und mit dem 0:0 noch überaus gut bedient waren. Völler wehrte sich vielmehr gegen ein hartnäckiges Bild vom deutschen Fußball, das für ihn der tiefen Vergangenheit angehört. Das Bild vom besten Fußball der Welt, den es nur umzusetzen gälte. Als eingeschworener Realist zieht er gegen solche Illusionen zu Felde, seit er den Posten des Teamchefs aufgeschwatzt bekam. Häufig sah man ihm dabei an, wie er seinen Zorn hinunterschluckte, wenn wieder einmal die Rede davon war, dass eine deutsche Mannschaft vermeintlich kleinere Gegner beherrschen und sicher schlagen müsse. Beharrlich versuchte er, sein Team, das er übernommen hatte, als es nach der EM 2000 komplett am Boden lag, dort einzuordnen, wo es hingehört: irgendwo in der zweiten europäischen Reihe, mit dem Potenzial, einiges zu erreichen, wenn die Bedingungen gut sind, aber auch mit jeder Menge Raum für Abstürze selbst gegen Kontrahenten wie die Färöer Inseln.“

Christoph Albrecht-Heider (FR 8.9.) klagt über das Machtgefälle zwischen Fußballern und Journalisten. „Was am Samstagabend als Neuauflauge eines belanglosen Plausches zwischen Waldi und Rudi geplant war, lief völlig aus dem Ruder. Und so wie ARD-Moderator Waldemar Hartmann sich über die Runden retten musste, weder das Interview abbrach, noch seinerseits den Ton verschärfte, sondern fast verzweifelt Völler zurückholen wollte auf die Kumpelebene, auf der seine TV-Karriere basiert, zeigte sich auch sehr schön das verschwiemelte Verhältnis zwischen Rechtekäufer und Rechteverkäufer. ARD und DFB sind Geschäftspartner, ein Fußballländerspiel ist eine teure Ware und die Gesamtdarstellung der Partie immer auch ein ökonomischer und nicht immer ein journalistischer Vorgang. Völler stellte in seinem Furor unter Beweis, dass Ironie, wie sie ein Gerhard Delling anklingen lässt, von einem Fußballer schnell als Beleidigung verstanden wird. Man erinnere sich nur daran, wie einst Franz Beckenbauer über Marcel Reif und Michael Palme, diese Zauberer vom ZDF, her zog. Viele Fußball-Profis erwarten, dass sie von Journalisten rücksichtsvoll behandelt werden in der irrigen Annahme, man verfolge doch die gleichen Ziele, zum Beispiel einen Sieg in einem Länderspiel. Sie werden in ihrem falschen Glauben bestärkt von Duz-Brüdern wie Hartmann, der die drei Weizenbiere (Völler) zwar humorig unter Kollateralschaden abbuchte, aber im Grunde der einzige war, der in der denkwürdigen Sendung bloß gestellt wurde – und das ausgerechnet von seinem Freund Rudi.“

Vermutlich hat Völler vielen Trainern aus der Seele gesprochen, glaubt Philipp Selldorf (SZ 8.9.). „Die von den ebenso einflussreichen wie launenhaften Experten verbreiteten Anspruchserwartungen an die Nationalelf passen nicht zu Völlers nüchternem Bild vom Leistungsvermögen seiner Spieler. Deshalb begnügte er sich auch nicht mit der Abwehr der üblichen Entrüstungskommentare, dass die stolze deutsche Fußballnation nicht mal mehr mit Island fertig werde – für ihn Ausdruck fehlenden Respekts vor dem Gegner. Der Teamchef, vor drei Jahren von einem Notfallgremium als Aushilfscoach ohne Diplom ins Amt gesetzt, argumentierte vielmehr wie der Generalanwalt des Trainerstandes: „Es geht gar nicht nur um die Nationalmannschaft. In der Bundesliga ist es doch seit Jahren genauso“, sagte er: „Nur weil irgendwelche Gurus Kommentare abgeben, müssen die Trainer irgendwelche Alibi-Aktionen starten während der Woche. Nur um die ganze Plattform wieder zu beruhigen, damit es heißt: Der Trainer hat was gemacht.“ Der Dank der Bundesligatrainer, die in ihren Städten von jeweils anderen lokalen Gurus gepiesackt werden, dürfte ihm gewiss sein. Ottmar Hitzfeld etwa spricht verächtlich von „bezahlten Kritikern“, wenn er Männer wie Lattek meint, der seine Bayern-Analysen gerne beginnt mit: „Mein Freund Ottmar…“ Beckenbauer, neuerdings als Nationalelfbegleiter der Netzer des ZDF, lässt sich ebenfalls bezahlen, dagegen hat Völler nichts.“

Martin Hägele (NZZ 8.9.) hält die Zeitungsjournalisten für die Sieger des Streits. „Von seiner Wut über die ewigen Besserwisser des Fussballs nahm er ausdrücklich den grössten Teil der Printmedien aus, doch auch der für die Berichterstattung über die Nationalelf zuständige Mann von Bild (gewiss kein Experte, dafür aber ein Stimmungsmacher) bekam von Völler sein Fett ab: „Auch du und dein kaiserlicher Freund (gemeint war Kolumnist Franz Beckenbauer) sind an diesem Ärger nicht schuldlos.“ Er wolle sich jedenfalls keine Magengeschwüre holen, indem er die ständig steigende Kurve an Häme und Kritik durch hoch bezahlte Kritiker wie Lattek, Breitner, Beckenbauer und Netzer weiter widerspruchslos hinnehme. In einigen Dingen hat Völler mit seinem Vorwurf der simplen Schwarzweissmalerei ja Recht. Generell aber muss er sich schon die Frage gefallen lassen, warum seine Mannschaft in den vergangenen drei Jahren kaum einen Schritt nach vorne machte – mit Ausnahme jener sechs Wochen in Asien, als sich ein technisch beschränktes deutsches Team mit grosser Moral, taktischem Geschick und ein klein bisschen Glück an der WM in den Final spielte. Wahrscheinlich leidet Völler am meisten darunter, dass die negative Entwicklung der letzten Monate auf Island angehalten hat (…) Auch für das populäre „Volksidol“ Völler gilt: Einen zweiten Auftritt dieser Art vor einem Millionenpublikum kann er sich nicht mehr leisten. Er hat seinem Amt schon Schaden zugefügt. Und zwar nicht nur deshalb, weil er einen Fussball-Grande wie Netzer und den Vorzeige-Sportreporter der ARD beleidigt hat – diese Anstalt zahlt immerhin 380 Millionen Euro dafür, bis ins Jahr 2006 Länderspiele der DFB-Auswahl übertragen zu dürfen. Völler hat auch ein Stück Kredit an der Basis verloren. Dort, wo man schon weiss, dass die internationale Konkurrenz im Fussball zusammengerückt ist und es keine drei Klassen mehr gibt wie früher. Aber man durchaus erwarten darf, dass die besten Fussballspieler von 80 Millionen Deutschen entsprechend Courage und Willen zeigen, um im Rahmen einer Euro-Qualifikation die Blamage gegen ein Volk mit 280000 Einwohnern zu vermeiden.“

Völler neigt zu Wutausbrüchen

Jan Christian Müller (FR 8.9.) ist nicht überrascht über Völlers Zorn. „Vulgär, aufbrausend, verletzend: Einen solchen Rudi Völler haben sie freilich bei seinem Arbeitgeber, dem Deutschen Fußball-Bund, schon öfter erlebt. Für die wenigen, die ihn besser kennen, war ein Ausbruch, wie er am Samstagabend live in der ersten Reihe zu verfolgen war, überfällig. Das Publikum, das den vor drei Jahren als Retter der Fußballnation angetretenen Sohn eines Drehers aus Hanau nur als TV-Abbild erlebt hat, weiß nun, wie der 43-Jährige sein kann, wenn er sich nicht mediengerecht verstellt. Den fortwährend netten Rudi, der so freundlich mit dem linken Auge zwinkert, versucht er für die Öffentlichkeit zu mimen. Dafür muss der einstige Mittelstürmer hart an sich arbeiten. Denn Völler, eine Fußballernatur mit Fußballerfrisur, liebevoll Tante Käthe gerufen, neigt zu Wutausbrüchen, beherrscht Brachialvokabular, kann launisch sein und nicht selten sogar ungenießbar. Erst im vergangenen Sommer bei der Weltmeisterschaft, als er seine 22 Auserwählten zu einer erfolgreichen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißte, die sich erst im Regen von Yokohama im Finale den Brasilianern 0:2 geschlagen geben musste und in der Heimat für ungeahnten Überschwang sorgte, hat man auch den anderen Völler kennen gelernt. Den, der unausgeschlafen morgens um 7 Uhr vor ebenso unausgeschlafenen Berichterstattern genervt immer neue Varianten des Immergleichen verbreitete. Der dabei ständig Mühe hatte, die Contenance zu bewahren.“

Ich habe volles Verständnis für Rudi Völler (FAZ-Interview mit Berti Vogts)

FAZ: Rudi Völler ist nach dem Spiel in Island im deutschen Fernsehen aus der Haut gefahren und hat besonders die Fernsehkritiker beschimpft. Können Sie seine Reaktion nachvollziehen?

BV: Ich habe volles Verständnis für Rudi Völler. Ich kenne das Gefühl, wenn man öffentlich als Depp hingestellt wird. Als ich Bundestrainer war, wurden wir EM-Zweiter, und das wurde als Desaster dargestellt. Wir standen zweimal im WM-Viertelfinale und wurden nur kritisiert. BV: Ich verstehe es voll und ganz, wenn man als deutscher Trainer aus der Haut fährt.

FAZ: Völler sagte aber auch, Sie und Ihr Nachfolger Erich Ribbeck hätten eben das nie getan und stillgehalten.

BV: Auch ich bin explodiert, aber intern. Ich bin damals unter anderem deshalb weggegangen, weil ich vom Deutschen Fußball-Bund nicht genug Geld für die Jugendförderung bekam. Da fehlten gerade mal fünf Millionen Mark, hieß es. Damals bin ich öfter aus der Haut gefahren, aber hinter verschlossenen Türen.

FAZ: Glauben Sie, Völlers Ausbruch wird Folgen haben?

BV: Ich hoffe, daß man den Rudi in aller Ruhe für die WM 2006 weiterarbeiten läßt. Man muß in Deutschland endlich kapieren, daß die Zeiten endgültig vorbei sind, wo man einfach nach Island fährt und 3:0 oder 4:0 gewinnt. Island, das sind nicht nur Geysire und Ponys, die haben eine richtig gute Mannschaft mit Spielern, die in ganz Europa Profis sind.

FAZ: Hat man in Deutschland nach dem zweiten WM-Platz 2002 zu hohe Erwartungen an die Nationalmannschaft?

BV: Vor einem Jahr wurde alles gefeiert, heute wird alles verdammt. Beides ist falsch. Die deutsche Mannschaft ist im Umbruch. Man soll sie in Ruhe lassen. Wir kennen doch heute die Spieler, die bei der WM 2006 im eigenen Land für uns den Titel holen sollen – dann soll man sie jetzt auch in Ruhe reifen lassen. Über Jugendarbeit braucht man sich jetzt keine Gedanken mehr zu machen. Die bringt nichts mehr für 2006. Die Jugendförderung haben wir in Deutschland schon vor zehn Jahren verschlafen.

Michael Horeni (FAZ 8.9.) schreibt einen Spielbericht. “Auch wenn Rudi Völler die dritte Halbzeit zur wichtigsten gemacht hat – die ersten beiden sollten darüber nicht vergessen werden. Schon im ersten Teil, den der Teamchef noch gnädig mit einem ausreichend benotete, war die Armut des deutschen Spiels mehr als ausreichend zu besichtigen. Die Mängelliste reichte von der Abwehr über das Mittelfeld und den Angriff bis zur taktischen Ausrichtung – es gab nichts, was dem Anspruch einer ambitionierten Mannschaft genügt hätte. Wir haben den Deutschen in den ersten Zweikämpfen gezeigt, daß sie viel arbeiten müssen, wenn sie hier gewinnen wollen, sagte Torjäger Eidur Gudjohnsen. Und er merkte bald: Sie wollten nicht arbeiten. Trainer Asgeir Sigurvinsson faßte seinen Eindruck über einen einst stolzen WM-Zweiten knapp zusammen: Die Deutschen hatten Angst. Die Hasenfüßigkeit auf dem Platz, die mit dem Anpfiff wieder einmal die Großmäuligkeit im Vorfeld ablöste, deutete sich schon in der Aufstellung an. Eine Viererkette und dazu mit Carsten Ramelow und Sebastian Kehl noch eine doppelte Absicherung im Mittelfeld – die Deutschen hatten gegen die paar isländischen Offensivspieler mehr Defensivkräfte auf dem Platz als im WM-Finale gegen Brasilien. Allein um Gudjohnsen kümmerten sich zwei bis drei Deutsche. Wo zu Völlers Zeiten ein Kohler genügt hätte, mußten jetzt gleich ein paar Baumänner des deutschen Fußballs her. Da auch der knorrige Thomas Linke seine Karriere beendet hat, aber für Notfälle zur Verfügung stehen wollte (wann ist eigentlich ein Notfall?) und Christoph Metzelder noch verletzt ist, sah sich Völler gezwungen, eine Abwehrreihe mit Christian Rahn, Frank Baumann, Arne Friedrich und Christian Wörns aufzubieten, die mitunter nicht einmal einen Gegner braucht, um sich in Schwierigkeiten zu bringen.“

FR-Spielbericht Schottland – Färöer (3:1)

NZZ-Spielbericht Irland – Russland (1:1)

Michael Horeni (FAS 7.9.) widmet sich der Torwartfrage. “Was dem ehemaligen Dortmunder die Situation auf der Ersatzbank noch zusätzlich erschwert, ist das Wissen um eine fehlende Lobby. Er habe etwa in Dortmund nie ein weiches Nest gehabt, keinen Trainer oder Präsidenten, der sich für ihn in der Nationalmannschaft stark gemacht hätte. Und bei Arsenal London, so vermutet Lehmann, dürfte dies kaum anders werden. Boß Kahn kann indes neben seiner außergewöhnlichen Qualität, seiner Erfolgsbilanz in der Nationalmannschaft auch ganz nebenbei auf das Gewicht des FC Bayern in der Personaldiskussion vertrauen – falls sich die Lage tatsächlich mal zuspitzen sollte. Was meine Lobby angeht: Da werde ich nicht viel Chancen haben, sagt Lehmann realistisch.“

Christian Eichler (FAS 7.9.). „Hallo Deutschland, für Paul Lambert ist es die Woche des Wiedersehens: am Mittwoch in Dortmund in der EM-Qualifikation gegen Deutschland, sieben Tage später in München in der Champions League gegen den FC Bayern. Die Begegnungen mit den beiden Vorzeigeteams des deutschen Fußballs liefern eine schöne Zugabe für die Spätkarriere des aktuellen Vorzeigeschotten. Als Dortmunder erlebte der heute Vierunddreißigjährige seinen größten Erfolg, als er 1997 mit der Borussia die Champions League gewann – in München. Das öffnete ihm mit 27 Jahren die Tür ins Nationalteam und ins Spitzenteam von Celtic Glasgow, mit dem er nun in der Champions League spielt, anders als der BVB. Die nicht einmal eineinhalb Jahre in Deutschland waren für Lambert eine Art Promotion. Bis heute ist er dankbar dafür: Wäre ich nicht zufällig von Dortmund entdeckt worden, ich wäre wohl in Motherwell versauert. Dankbar ist er seinem Entdecker Ottmar Hitzfeld, den er als Trainer in München wiedertreffen wird. Der europäische Spielplan dieser Wochen liest sich für Paul Lambert wie ein Drehbuch für Das ist Ihr Leben (…) Vor einem Jahr, beim 2:2 gegen denselben Gegner in Toftir, hatte Lambert das vorzeitige Scheitern der Vogts-Mission abgewendet – beim blamablen 0:2-Pausenstand war er es, nicht der Trainer, der in der Kabine das Wortgewitter auf die Mannschaft losließ, die sich davon zu einer Schadensbegrenzung anstacheln ließ. Kein Wunder, daß Vogts an dem Mann hängt. Lambert ist ihm gegenüber, wie zu jedem Trainer zuvor, völlig loyal, sagt: Er war großartig zu mir, lobt ihn vorbehaltlos, nennt die Kritik an Vogts überzogen. Oft hört er sich geradezu wie eine Kopie des Chefs an, etwa wenn er von Umbruchphase, Neuanfang, Verjüngung redet – all jene Formeln, die langfristige Planung betonen, wenn kurzfristige Erfolge fehlen. Sollte Vogts‘ Konzept, ausgerichtet auf die WM 2006, aufgehen, wird Lambert nicht mehr dabeisein – und doch dazu beigetragen haben.“

Inzaghi tre, Wales zero

Aus Italien meldet Birgit Schönau (SZ 8.9.) Erfolg. „Inzaghi tre, Wales zero, durch San Siro wogte La Ola, die rund 8000 Fans aus Wales rangelten in ihrem Frust mit der Polizei. Zuletzt hatte Paolo Rossi für die Squadra drei Treffer in einem Spiel geschafft, 1982 gegen Brasilien. „Es ist mir egal, wie wir aussehen, nur das Ergebnis zählt“, hatte Trapattoni vor dem Match gepredigt, von dem sein Job abhing. Die EM-Qualifikation ist das Minimalziel für den Trainer, der die großen Erwartungen mit einem Desaster bei der WM in Asien enttäuscht hatte. Und nun so ein Spektakel. „Nein zum Fußball-Business“, hatten die Tifosi auf ein riesiges Spruchband geschrieben, das erst nach dem Abpfiff von der Tribüne geräumt wurde. Der italienische Fußball durchlebt seine schwerste Krise, die Funktionäre haben das Vertrauen von Spielern und Tifosi verloren und hängen am Tropf der Regierung. Die Zweite Liga streikt seit drei Wochen, weil aus offensichtlich politischen Gründen drei Absteiger begnadigt wurden und der AC Florenz gar ohne sportliche Meriten eine Klasse höher steigen durfte. Rund 300 Tifosi verschiedener Erst- und Zweitligaklubs hatten sich vor dem Meazza-Stadion auf den Asphalt gelegt und so für Minuten den Bus der Nationalelf blockiert. Die Nazionale der Fußball-Legende Trapattoni – mit Inter Mailand und Juventus Turin war er einer der erfolgreichsten Vereinstrainer – erscheint da vielen Fans als letzte, vermeintlich unantastbare Insel ihres Lieblingssports, der sonst vor aller Augen zum Spielball politischer und kommerzieller Interessen degeneriert. Mit lustvoller Erleichterung hatte die fußballbegeisterte Nation vor dem Spiel endlich mal wieder heiße Debatten um taktische Fragen führen Können.“

Das Streiflicht (SZ 8.9.) zum Abschluss. „Gesetzt den Fall, eine deutsche, die deutsche Nationalmannschaft befände sich in einer grausamen Lage. Nur mal angenommen, sie müsse sogar um die Teilnahme an der nächsten Europameisterschaft bangen, obwohl sie eine besonders leichte Qualifikationsgruppe erwischt hat. Und, um das Unvorstellbare auf die Spitze zu treiben, von Pech könne dabei nicht die Rede sein, auch nicht von heimatlichen Dolchstößen in den Rücken der Spieler und Trainer, nicht von brutalen Tretern aus den einschlägig bekannten Berserker-Nationen, nein, nur von schlichtem Unvermögen, von mangelnder Fertigkeit im Umgang mit dem Spielgerät. Wenn nun in einer solchen Lage einzelne Spieler dem Volk mit einer generösen Geste mitteilten, sie würden jedenfalls für die folgende Weltmeisterschaft zur Verfügung stehen, was wäre die Folge? Ein Gelächter würde die Republik schütteln, so vehement, dass sich noch die Korallen in fernen Atollen verbögen. Weil dem nicht so ist, sind auch keine Parallelen zur Bundesregierung zu ziehen. Vollends unvergleichbar wäre schon die Ausgangslage: Ungerührt spielt das rot-grüne Kabinett seinen Stiefel herunter, auf die Kapitäne ist letztlich Verlass. So hat das Volk mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass sie beisammen bleiben wollen über das Jahr 2006 hinaus, zwei Männer, die nicht voneinander lassen können. Schröder und Fischer, Fischer und Schröder, die Scheidung hätte das Volk verstört.“

(6.9.)

Maier betreut gleich zwei Spieler von Weltklasse

Die Torhüterfrage sei keineswegs symptomatisch für die Personallage der DFB-Auswahl, schreibt Michael Horeni (FAZ 6.9.). “Die Torhüter würdigen sich keines Blickes, wenn sich ihre Wege kreuzen. Auch in der Vergangenheit haben Kahn und Lehmann vornehmlich nebeneinander trainiert, nicht miteinander. Das ist bei Torhütern eben so. Auch während des Trainings in Island werden im deutschen Strafraum keine großen Worte gemacht. Es wird geschwiegen und gearbeitet. Die Konkurrenten konzentrieren sich auf die intensiven Einheiten mit Sepp Maier. Aber nun wird es aufmerksam registriert, weil Lehmann den Alleinvertretungsanspruch von Kahn im deutschen Tor in Frage gestellt hat. Die Schlagzeilen waren entsprechend. Der BTT, also der Bundestorwarttrainer, der es täglich mit den schärfsten Rivalen im Team zu tun hat, befindet sich dennoch in der privilegiertesten Lage im gesamten deutschen Trainerwesen. Denn während Teamchef Rudi Völler vor der Begegnung in Reykjavik wie eh und je verzweifelt nach erstklassigen Kräften auf dem Feld fahndet, betreut Maier im deutschen Tor gleich zwei Spieler von Weltklasse. So ungerecht kann Fußball sein. Lehmann hadert auf höchstem Niveau mit seinem Einzelschicksal, der deutsche Fußball indes wäre schon glücklich, eine tragfähige Basis zu besitzen, um sich gegen internationales Mittelmaß wie gegen Island an diesem Samstag und am Mittwoch gegen Schottland direkt für die Europameisterschaftsendrunde in Portugal zu qualifizieren (…) Vor allem ein Blick auf das deutsche Viererkettchen genügt, um die Sorgen des Bayern-Mittelfeldspielers zu teilen. Vermutlich wird der Teamchef neben dem erfahrenen Christian Wörns auch notgedrungen auf den Berliner Arne Friedrich, den Bremer Frank Baumann und den Hamburger Christian Rahn vertrauen. Zusammen kommen die immer wieder unsicheren Mitglieder dieses zusammengewürfelten Defensivtrios auf nicht einmal 30 Länderspiele. Ein verläßlicher deutscher Stabilitätspakt für den Kampf auf der stürmischen Insel im Nordatlantik sieht jedenfalls anders aus – auch wenn sich dahinter die Weltklasse drängelt.“

Philipp Selldorf (SZ 6.9.) friert. „Auf Island wohnt die deutsche Nationalmannschaft in einer Vorstadtgegend, in der Traktoren und andere Landmaschinen verkauft werden. Wenn die Spieler aus dem Fenster ihres Hotels schauen, sehen sie Reykjavik, den Videyjarsund und gleich vor ihrer Tür hinter der vierspurigen Schnellstraße das Stadion, in dem sie am Samstag das EM-Qualifikationsspiel gegen Island austragen werden. Es heißt Laugardadsvöllur und würde dem FC Emmendingen 03 sicherlich genügen, aber für Kickers Offenbach wäre es viel zu klein. 7056 Zuschauer passen hinein, und wenn sie nicht unterm Tribünendach sitzen, sind sie den Gewalten schutzlos ausgeliefert. Das bedeutet einiges. Denn nicht immer erkennen die Spieler beim Blick aus dem Fenster die Stadt, den Sund und das Stadion. Dann sehen sie, wie am Tag ihrer Ankunft und am Morgen darauf, nichts als graue Wolken, die von einem – obendrein scheußlich heulenden – Wind durch die Landschaft gejagt werden. Selbst die Isländer sprechen von schlechtem Wetter.“

SpOn-Interviewmit Christian Rahn

Christof Kneer (BLZ 6.9.). “Die Frage ist oft gestellt worden, und man hat inzwischen erschöpfend Antwort erhalten. Nein, so lautet die offizielle isländische Sprachregelung vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Deutschland am Sonnabend, wir sind zwar Erster in unserer Gruppe, aber wir wollen nicht unbedingt Erster werden. Platz zwei reicht uns, hinter Deutschland, dem Favoriten, so heißt es artig, und man wird schon ein bisschen misstrauisch bei so viel Einigkeit. Wahrscheinlich ehrt es den Isländer ja, dass er sich noch ein bisschen Respekt bewahrt hat vor den Fußballern aus Deutschland. Aber sie sind höfliche Menschen da droben im Norden, man muss ihnen deshalb nicht alles glauben. In Island würden sie zum Beispiel nie sagen, dass sie einen Trainer entlassen haben. In Island sagen sie höchstens, der Trainer kommt heute übrigens nicht mehr oder sie sagen, der Trainer ist gegangen und hat seinen Vertrag mitgenommen. Wenn Deutschland sie lässt, würden sie schon gern Erster werden, bis auf den Trainer Asgeir Sigurvinsson vielleicht, aber das muss nichts heißen. Sigurvinsson will vermutlich lieber Erschder werden. Islands Nationaltrainer ist ein ernster Mann und ein lustiger Mann ist er auch. Er spricht so Deutsch wie viele Nordeuropäer Deutsch sprechen. Hart im Anschlag und ein bisschen abgehakt, aber manchmal mischt er noch ein weiches Stuttgarter Schwäbisch hinein.“

Island mag klein sein, aber auf keinen Fall schwach

FR-Interview mit dem Isländer Eyjölfur Sverisson (ehemals VfB Stuttgart und Hertha Berlin)

FR: Herr Sverisson, Deutschlands Teamchef Rudi Völler sagt gerne: Es gibt keine Kleinen mehr.

ES: Natürlich gibt es immer noch klein und groß, aber es gibt nicht mehr die ganz schwachen Nationen.

FR: Darf man Island noch zu den Fußballzwergen zählen

ES: Nein. Island mag klein sein, aber auf keinen Fall schwach. Viele unserer Nationalspieler spielen in europäischen Ligen, vor allem in Norwegen und England. Unsere Mannschaft kann sich mit dem deutschen Team durchaus messen. Die einzelnen Spieler mögen schwächer sein, aber die Mannschaft kann das kompensieren.

FR: Man sagt, der isländische Fußball ähnele dem britischen.

ES: Das kann man so sehen, denn auch in Island herrscht kämpferisches, körperbetontes Spiel vor. Das kommt wahrscheinlich daher, dass der englische Fußball in Island schon immer sehr beliebt war. Es gibt hier zahlreiche Fanclubs für englische Mannschaften.

FR: Sie sind in Ihrer Profikarriere oft mit Blessuren vom Platz marschiert. Ist der isländische Fußball ein Jolly-Sverssion-Fußball?

ES: Kann man eigentlich so sagen. Aber momentan haben wir eine gute Mischung in der Mannschaft. Da spielen auch technisch starke Spieler, zum Beispiel der Mittelstürmer Eidur Gudjohnsen vom FC Chelsea. Das ist ein überragender Mann. Aber wir sind eben ein kleines Land mit nur 300 000 Einwohnern, und wir müssen immer hoffen, dass ein paar Spieler in jedem Jahrgang hochkommen, die ihre Qualitäten haben.

Zur Lage der russischen Nationalelf NZZ

(5.9.)

Mit zwei Spielern befassen sich die Fußball-Kommentatoren in der Vorberichterstattung über das EM-Qualifikationsspiel der deutschen Nationalmannschaft in Island: Michael Ballack und Sebastian Deisler. Die beiden Stars aus den Reihen des FC Bayern München vereint zwar die Tatsache, dass sie innerhalb der letzten zwölf Monate selten (Ballack) oder gar nicht (Deisler) das DFB-Trikot trugen; entsprechend dürftig waren die Leistung der DFB-Auswahl. Dennoch verbinden die Experten unterschiedliche Erwartungen mit den Comebacks.

So gegensätzlich können die Kurven der Karriere und des Rufs verlaufen: Während Ballack, vor zwei Jahren ein vermeintlicher Schönspieler, derzeit alle Hoffnungen der Fußball-Nation mühelos schultert, scheint der zarte Deisler, vor zwei Jahren einziger Lichtblick unter „Rumpelfüßlern“, am rauen Münchner Profialltag zu zerbrechen. Der FC Bayern stellt an seine Mitarbeiter hohe Ansprüche; auch was das Verhalten neben dem Platz betrifft. Manager Uli Hoeneß fordert von Deisler immerfort große Töne. In den Augen vieler Beobachter ist Hoeneß für Deisler daher ein schlechter Umgang: „Bei den Bayern, wo Redseligkeit eine Tugend ist, hat der aus Eigensinn schweigsame Deisler keinen vorteilhaften Ruf“, fühlt die SZ mit dem schüchternen Sorgenkind. Dahingegen schätzt die Financial Times Deutschland den Münchner Einfluss auf Michael Ballack: „Man kann es fast nicht mehr glauben, dass dieser Ballack vor nicht allzu langer Zeit einmal für Bayer Leverkusen Sport getrieben haben soll; für eine Mannschaft, die dadurch berühmt wurde, dass sie alles konnte, außer Erster werden. Heute wirkt Ballack, als sei er seit schätzungsweise 100 Jahren beim FC Bayern angestellt. Schneller als man das erwarten konnte, hat er sich mit dieser selbstverständlichen Siegermentalität angesteckt, und längst hat er seinen Mut zur Meinung kultiviert.“

Positive Außendarstellung

Jan Christian Müller (FR 5.9.) ist begeistert von der Spielerpersönlichkeit Ballack. “Als er in seinem ersten Profijahr in der Bundesliga unter Otto Rehhagel mit dem 1. FC Kaiserslautern gleich Meister wurde, drohte der steilen Karriere ein Knick. Ballack betrieb in seinen letzten Monaten unter Rehhagel eine allzu offenkundige Art der Arbeitsverweigerung. Rehhagel, der Fußball- und Lebens-Lehrer, schurigelte den bockigen Beau entgegen seiner Art sogar öffentlich. Danach in Leverkusen als Kopf der Immer-wieder-Zweiten und dann bei der WM, als, wiewohl anfangs schwer angeschlagen, bester Feldspieler des Vize-Weltmeisters, legte Ballack das Image des blasierten Besserverdienenden endgültig ab. Obwohl er noch immer mit durchgedrücktem Kreuz zum Sprint ansetzt und dabei viel langsamer aussieht, als er tatsächlich ist, bezeichnet ihn heute kein Mensch mehr als phlegmatisch. Früher wurde das oft getan, und Ballack hat auf diese Kritik recht dünnhäutig reagiert. Mittlerweile hat der Kontaktlinsenträger den Durchblick. Anders, als der nicht minder hoch talentierte Kollege beim FC Bayern, Sebastian Deisler, nimmt der Fußballer des Jahres auch die Öffentlichkeitsarbeit offensiv in Angriff. Mit dem Ergebnis, dass inzwischen jeder halbwegs zurechnungsfähige fünfjährige Deutsche beim Kicken im Park im Tor Kahn und auf dem Feld Ballack sein will, am liebsten im Trikot mit der Nummer 13 auf dem Rücken. Beim deutschen Fußball-Bund haben sie längst begriffen, dass sich Ballack für eine positive Außendarstellung der zuletzt etwas gebeutelten Nationalmannschaft geradezu aufdrängt.“

Kahn ist Deutschlands Bauch, Ballack ist Deutschlands Kopf

Christof Kneer (FTD 5.9.) erläutert die neue Chefrolle Ballacks. “Seine Karriere-Sprünge vollziehen sich leiser als beispielsweise die des Kollegen Oliver Kahn, und so hat sich in aller Stille eine geheime Allianz formiert. Zwar gelten Oliver Kahn und Michael Ballack nicht unbedingt als Freunde fürs Leben, aber längst haben sie sich im Dienste der gemeinsamen Sache verbündet. Es ist jetzt nicht mehr nur der Kahn, der dem Land die unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht sagt. Als die Deutschen Anfang Juni mit einem mageren 1:1 aus Schottland heimkehrten, war es Ballack, der öffentlichkeitswirksam übel nahm. Die Mitspieler dürften nicht immer nur auf ihn schauen, teilte er forsch mit, „jeder einzelne“ müsse „mehr bringen“. Aufgeregt meldeten die Zeitungen das Kollegen-Bashing in die Heimat, und selbst heute spielt Ballack sein Erstaunen noch gut. „Das war doch ein ganz normaler Satz“, sagt er unschuldig, „für die Reaktion der Medien kann ich ja nichts.“ Man kann das dem Schelm glauben oder nicht, aber gewiss ist, dass der Torsteher Kahn längst ein Freund dieser Arbeitsteilung geworden ist. Endlich müsse nicht immer nur er sich unbeliebt machen, soll er ein paar Vertrauten in Leipzig beim Trainingslager des FC Bayern vor Saisonbeginn über den neuen verbalen Doppelpass vorgeschwärmt haben. Während Kahn mit krachenden Formulierungen die Emotion bedient wie jüngst vor dem Italien-Spiel, als er den Kollegen markig das Schwänzen von Freundschaftsspielen vorhielt, hat sich Ballack auf die nüchterne Ansprache spezialisiert. Es ist eine Doppelspitze mit klar verteilten Rollen: Kahn motiviert, Ballack moderiert. Kahn ist Deutschlands Bauch, Ballack ist Deutschlands Kopf. Man kann es fast nicht mehr glauben, dass dieser Ballack vor nicht allzu langer Zeit einmal für Bayer Leverkusen Sport getrieben haben soll; für eine Mannschaft, die dadurch berühmt wurde, dass sie alles konnte, außer Erster werden. Heute wirkt Ballack, als sei er seit schätzungsweise 100 Jahren beim FC Bayern angestellt. Schneller als man das erwarten konnte, hat er sich mit dieser selbstverständlichen Siegermentalität angesteckt, und längst hat er seinen Mut zur Meinung kultiviert.“

Ich bin sicherlich nicht der Heilsbringer der Nationalmannschaft

Philipp Selldorf (SZ 5.9.) fügt hinzu. „Michael Ballack kann es nicht leiden, mit Stefan Effenberg verglichen zu werden, was weiß Gott gut zu verstehen ist. Dennoch ist der Vergleich gelegentlich schwer zu vermeiden. Dieser Tage im Lager der Nationalmannschaft fühlt man sich wieder erinnert an vergangene Zeiten beim FC Bayern, als Anwesenheit oder Abwesenheit des Mittelfeldherrschers über den Gemütszustand der ganzen Mannschaft bestimmten. In Effenbergs Glanzzeiten sehnte man ihn und seine Kraft herbei, in den Ausläufern seiner Ära waren alle froh, wenn er nicht mitspielen konnte. Über Ballack lässt sich sagen, dass alle seine Mitspieler im Nationalteam froh und glücklich sind, ihn in den EM-Qualifikationsspielen auf Island und in Dortmund gegen Schottland wieder bei sich zu haben, nachdem er im Länderspiel gegen Italien wegen einer Wadenmuskelverletzung hatte fehlen müssen. Ballack ist, im Gegensatz zu Effenberg, keine kontroverse Figur, ihm fehlt die Selbstherrlichkeit. Unter den Kollegen ist seine Anerkenntnis allerdings schon so weit entwickelt, dass er manchmal Dinge sagen muss, die kein vernünftiger Mensch von sich geben würde. Am Abend vor der Abreise nach Reykjavik erklärte er zum Beispiel im Frankfurter Teamhotel: „Ich bin sicherlich nicht der Heilsbringer der Nationalmannschaft.“ Für manche Mitspieler mag diese Enthüllung eine echte Enttäuschung sein.“

Ich bin ein Spieler von vielen

FAZ-Interview mit Michael Ballack

FAZ: Ostalgie-Shows sind im Fernsehen der Renner. Sind Sie auch DDR-Retro-Fan?

MB: Ich kenne das doch alles noch von früher. Solche Sendungen sieht man, ob man nun aus dem Osten oder Westen kommt, unter ganz anderen Voraussetzungen. Jetzt können manche ehemaligen Ostler vielleicht darüber schmunzeln – dabei war das früher alles andere als spaßig. Für viele Menschen war das bitterer Ernst. Ich bin auch zu einer solchen Sendung eingeladen worden. Ich habe aber abgesagt, weil ich damals noch zu jung war, um wirklich mitreden zu können.

FAZ: Wieviel DDR ist jetzt noch in Ihnen?

MB: Die Fußballausbildung in jedem Fall. Ich glaube aber, daß es für die Erziehung durch die Eltern keinen Unterschied macht, ob man im Osten oder Westen groß geworden ist.

FAZ: Aber manche denken sich vielleicht noch: Der Ballack ist zwar ein Star auf dem Feld, aber der denkt immer noch im Kollektiv.

MB: Ich glaube, das hat nichts damit zu tun, wie wir Fußball damals gelernt haben. Es ist das Wort Kollektiv, das so wirkt. Man mußte sich einordnen, man konnte sich als Persönlichkeit entfalten – wenn auch nicht so stark entwickeln, wie das heute der Fall ist.

FAZ: Ich bin nicht der Fixpunkt der Mannschaft. Das haben Sie noch im vergangenen Jahr gesagt – sprechen Sie jetzt anders über sich und Ihre Rolle im Kollektiv Nationalmannschaft?

MB: Ich habe mich weiterentwickelt und bin wichtiger für die Mannschaft geworden – aber trotz der größeren Verantwortung bleibe ich auch heute noch bei meiner Einschätzung: Ich bin ein Spieler von vielen.

FAZ: Ihre Aussagen sind stets bedacht und abgewogen, die taugen nicht für Schlagzeilen. Das gilt in den Medien als langweilig.

MB: Die Ausschläge in den Medien sind extrem. So was verkauft sich besser. Aber ich weiß nicht, ob man Normalität und Glaubwürdigkeit als langweilig ansehen sollte. So sind doch die meisten Leute. Aber wenn mir etwas nicht paßt oder Dinge in die falsche Richtung laufen, dann mache ich den Mund auf. Auch wenn andere stärker provozieren – ich bin in den letzten Jahren mehr aus mir herausgegangen. Früher war ich noch ruhiger.

FAZ: Nach dem 1:1 in Schottland haben Sie sich – völlig berechtigt – erstmals öffentlich Ihre Kollegen ein bißchen zur Brust genommen.

MB: Ich denke, meine Meinung ist gefragt. Und wenn ich Dinge sehe, die wir verbessern müssen, dann muß ich das auch ansprechen. Das kann nicht immer nur Oliver Kahn machen oder der Trainer – gerade in der Nationalmannschaft. Hier sind die Strukturen und das Leistungsgefälle anders als beim FC Bayern. Von den erfahrenen Spielern muß in der Nationalmannschaft mehr kommen.

Das Roman Empire des reichen Russen verströmt ein Gladiatorenklima

Christian Eichler (FAZ 5.9.) schreibt über Islands Star auf Chelseas Ersatzbank. „Die Isländer, das sind zehn Namenlose und ein Name: Eidur Smari Gudjohnsen. Der hat mit siebzehn neben Ronaldo gespielt und schießt seitdem fast alle Tore des Knattspyrnusamband, des Fußballbundes der Isländer; allein sechs in den sechs EM-Qualifikationsspielen. Nur gerade jetzt, da Deutschland kommt, hat Gudjohnsen ein Problem: einen Klubpräsidenten mit zuviel Geld. Die deutsche Abwehr muß das freuen. Als Gudjohnsen sich in den Sommer verabschiedete, hatte er im Gepäck eine Vertragsverlängerung beim FC Chelsea und gute Vorsätze: drei Kilo runter, Torquote wieder rauf, so wie vorletzte Saison, als er und Partner Jimmy-Floyd Hasselbaink mit über fünfzig Treffern den besten Sturm der englischen Premier League gestellt hatten. Als aber die Ferien vorbei waren, besaß der Klub einen neuen Chef, den Russen Roman Abramowitsch. Und dem gefiel es, von seinen Ölmilliarden rund 160 Millionen Euro in neue Namen für sein neues Spielzeug zu investieren. So war aus dem alten Sturmduo ruckzuck eine Zweitbesetzung geworden. Hinter den eingekauften Stars Crespo und Mutu hat der neureichste Klub der Welt derzeit nur noch Nebenrollen zu bieten (…) Die Erwartungen sind schier unermeßlich geworden in London.Beim Liga-Auftakt in Liverpool stand Gudjohnsen in Chelseas Startelf, dann vergab er in 37. Minute eine Chance, wurde in der Pause ausgewechselt; seitdem hat er noch drei Minuten gespielt. Letztes Wochenende saß er nicht mal auf der Bank. Einmal versagt, Daumen runter? Das Roman Empire des reichen Russen verströmt ein Gladiatorenklima.“

Das ist das größte Ereignis der isländischen Fußballgeschichte

(FTD-Interview mit Thordur Gudjonsson)

FTD: Was bedeutet Fußball für Island?

TG: Fußball ist die Nummer eins. Fast 30 000 Menschen spielen im Verein. Dabei haben wir nur 290 000 Einwohner.

FTD: Und die sind jetzt ganz aufgeregt?

TG: Das ist das größte Ereignis der isländischen Fußballgeschichte. 7000 Karten waren in zwei Stunden weg. Die Insel ist verrückt nach dem Spiel.

FTD: Das spüren Sie sogar in Bochum?

TG: Viele rufen mich an und fragen, ob ich Karten besorgen kann.

FTD: Und, können Sie?

TG: Leider nicht. Wir haben eine große Familie und ich habe nur zehn Karten bekommen. Zum Glück sind wir mit meinen Brüdern Bjarni und Johannes drei Brüder in der Nationalmannschaft und haben deshalb ein paar Tickets mehr.

FTD: Wie wird die Stimmung sein?

TG: Das Stadion in Reykjavik hat eine Laufbahn, deshalb ist die Stimmung nicht so toll. Vor der müssen die Deutschen keine Angst haben.

FTD: Keine fanatischen Fans?

TG: Die geben ihr bestes, aber es kommt nicht so viel rüber. In dem kleinen Stadion hört man alles, was sich die Spieler so zurufen.

FTD: Wo bleibt da der Heimvorteil?

TG: Vielleicht beim Wetter.

FTD: Wie ist das im September?

TG: Windig. Vielleicht auch sonnig. Das weiß man nie genau.

(4.9.)

Spielfreude, Dynamik, Einsatzwille, Schnelligkeit, Übersicht und Schußstärke

Peter Heß (FAZ 4.9.) hofft auf Sebastian Deisler. „Auf Deisler zu warten, erscheint jedem lohnenswert, der sich ein wenig im Fußball auskennt. Der Lörracher ist nicht mehr und nicht weniger als das größte Talent seiner Generation. Schon nach seinen ersten Bundesligaauftritten als Teenager für Borussia Mönchengladbach wurde ihm quasi die Führungsrolle für die Nationalelf bei der WM 2006 übertragen. Spielfreude, Dynamik, Einsatzwille, Schnelligkeit, Übersicht und Schußstärke verbanden sich bei Deisler zu einer Einheit, die man eigentlich nur von unter brasilianischem Himmel geborenen Fußballprofis kennt. Verbanden? Vergangenheitsform? Ja, denn der Deisler des Jahres 2003 erinnert nur noch in einigen Szenen an das Naturereignis früherer Jahre. Zu seinen Berliner Zeiten monierte Trainer Jürgen Röber, Deisler müsse lernen, nicht jeden Ball zu fordern, müsse lernen, seine Kräfte einzuteilen, anstatt sie zu verpulvern. In diesem Sommer ermahnte Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld seinen Mittelfeldspieler, er müsse endlich mehr tun, mehr wagen. Liegt Deislers Zurückhaltung nur in der erworbenen Reife oder in den Verletzungen begründet? Glaubt man dem Profi, dann sind seine Knieverletzungen völlig überwunden. Aber man muß Zweifel haben. Seine Körpersprache auf dem Spielfeld dokumentiert etwas anderes als seine Worte. Dennoch: Auch ein leicht gehemmter Deisler stellt eine Verstärkung für die Nationalelf dar. Seine Fähigkeiten am Ball übertreffen den Durchschnitt deutscher Balltreter bei weitem, seine Freistöße bedeuten Gefahr für das gegnerische Tor und seine Pässe erreichen den Adressaten häufiger als die der meisten Kollegen.“

Wo Redseligkeit eine Tugend ist, hat der schweigsame Deisler keinen vorteilhaften Ruf

Philipp Selldorf (SZ 4.9.) sorgt sich über den schlechten Umgang Deislers. „Im kürzlich neu erschienen Jahrbuch des FC Bayern steht es schwarz auf weiß geschrieben. Für „in“ erklärt Sebastian Deisler seine Freundin (sie heißt Eunice), ferner die wichtigsten Vereinssponsoren (das freut Uli Hoeneß) und schließlich die Natur (das freut Jürgen Trittin). Noch beeindruckender allerdings ist Deislers „Out“-Liste. Er nennt dort: „Andere Frauen, Schicki-Micki, Statussymbole, Machtgehabe, Schein.“ Mancher mag jetzt glauben, Deisler spiele damit auf seinen Münchner Kollegen Oliver Kahn an, doch das lässt sich ausschließen, denn Kahn hat erst neulich von seiner Läuterung berichtet („Habe genug von dem Disco-Blödsinn“) und hält seinerseits „tolerante Menschen“ für besonders in. Toleranz wiederum ist ein Wert, für den Deisler sein ganzes kurzes Leben schon Werbung macht – er glaubt nämlich, sie werde ihm vorenthalten in seinem Dasein als berühmter Fußballer. Es scheint daher eher darauf hinauszulaufen, dass Sebastian Deisler, 23, gleich unsere ganze moderne Welt für „out“ erklären möchte, wenn er Oberflächlichkeit und Falschheit anprangert. Trotzdem spielt er Fußball beim FC Bayern und neuerdings auch wieder für die Nationalmannschaft, was einen gewissen Widerspruch bedeutet, denn auf dem Niveau dieser Institutionen erzeugt Fußball besonders viel Gehabe und Gehampel. Zum Beispiel musste erst gestern der deutsche Ersatztorwart Jens Lehmann eine gewaltige Schein-Aufregung bekämpfen, weil er – in einem auf englisch geführten Interview – angeblich Forderungen gestellt habe, Stammkeeper Kahn ablösen zu dürfen. Nein, hat er nicht, wird er auch nicht, und das musste er nun, auf weißen Socken in der Lobby des Frankfurter Teamquartiers stehend, einigen Reportern auseinandersetzen (…) Bei den Bayern, wo Redseligkeit eine Tugend ist, hat der aus Eigensinn schweigsame Deisler keinen vorteilhaften Ruf. Noch gestern konzedierte er „einen Interessenkonflikt“ mit seinem auf Publicity bedachten Arbeitgeber, stellte aber furchtlos fest: „Ich bin nicht der, der ständig irgendwo draußen rumtanzt.“ Am Montag musste auch Deislers Berater Jörg Neubauer kapitulieren. Das Geschäftsverhältnis wurde mangels Fruchtbarkeit gekündigt, und Neubauer merkte beleidigt wie resigniert an: „Ein Spieler, der beraten werden will, muss sich auch beraten lassen.“ Na und?, konterte Deisler jetzt: „Viele Leute haben mir gesagt: So und so musst Du’s im Fußballgeschäft machen. Aber mich interessiert das nicht.“ Rudi Völler kommt besser mit ihm zurecht als jene Leute, von denen Sebastian Deisler Bevormundung und Manipulation befürchtet.“

Jan Christian Müller (FR 4.9.) ergänzt. “Damals, als er noch ein feingliedriger Teenager war und bei Borussia Mönchengladbach mit Siebenmeilenstiefeln den Bökelberg eroberte, konnten Reporter seine Privatnummer noch im amtlichen Telefonbuch finden. Club und Berater Norbert Pflippen machten sich fortan daran, den schüchternen Hochbegabten vor allzu vielen öffentlichen Auftritten zu schützen, ehe er sich erst von der Borussia und bald auch von Pflippen löste und 1999 zu Hertha BSC Berlin sowie etwas später zu Jörg Neubauer wechselte. Die Hertha hat Deisler bereits seit mehr als einem Jahr wieder verlassen, Neubauer nun vor ein paar Tagen. Deisler gibt sich auf Nachfrage gewohnt einsilbig: Wir hatten unterschiedliche Ansichten und unterschiedliche Interessen, mehr möchte ich nicht dazu sagen. Neubauer ließ immerhin durchblicken, man habe sich zwar friedlich getrennt, er berate aber nur Spieler, die sich auch beraten lassen. Ähnliche Erfahrungen hatte seinerzeit schon Hertha-Manager Dieter Hoeneß gemacht und Deisler im Zuge des Wechsels zu den Bayern und damit verbundener Missfallenskundgebungen der Hertha-Fans als beratungs-resistent bezeichnet. Deisler selbst erweckt durchaus den Eindruck, als nehme er die Kritik zur Kenntnis, allein: Sie ficht ihn nicht an. Man sollte mich so akzeptieren, wie ich bin. Das tue ich auch bei anderen, sagte er gestern. Beide Hoeneß-Brüder und Ex-Berater Neubauer sind der Meinung, dass ein Spieler mit derart weit überdurchschnittlichen Fähigkeiten auf dem Platz auch abseits des Spielfeldes mehr Leistung zu erbringen hat. Deisler sieht das anders und klingt dabei fast trotzig: Ich habe schon viele Leute kennen gelernt, die gesagt haben: So und so ist das Fußballgeschäft, das und das musst du tun. Wenn andere sagen, das muss man als Fußballstar machen, dann können die das so sehen. Ich habe da meine eigenen Ansichten. Seine viel besuchte Homepage im Internet hat er bis auf weiteres geschlossen.“

Leerstelle auf links

Christoph Kneer (BLZ 4.9.) schildert die Kummerfalten auf Rudi Völlers Strin. “Man möchte nicht Teamchef sein in diesen Tagen. Wer Deutschland aufstellen muss, bekommt vermutlich eine ordentliche Zehn zusammen – aber eine Elf? Es gibt Ecken auf dem Spielfeld, da hat Völler die Qual der Wahl; auf rechts zum Beispiel, wo sich die defensiven Friedrich, Hinkel und Rehmer ebenso bewerben wie die offensiven Schneider oder Deisler. Auf der gegenüberliegenden Seite aber hat Völler höchstens die Wahl der Qual. Auf der linken Seite hat Deutschland ein rechtes Problem – gerade dort, wo das Land in seinen großen Jahren bestens besetzt war. Beim WM-Sieg 1974 preschte linksseitig der junge Breitner entlang, beim EM-Erfolg 1980 hielt dort der treue Dietz die Stellung, bei den WM-Turnieren 1982 und 1986 prallten die Gegner auf links auf den robusten Briegel, und 1990 war es nicht zufällig der Linksverteidiger Brehme, der im WM-Endspiel das einzige Tor verantwortete. Da sieht man mal, wie wichtig die linke Seite ist, sagt Hans-Peter Briegel, zurzeit Nationaltrainer Albani

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