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England will Helden, Markus Merk, der nette Nachbar

Oliver Fritsch | Donnerstag, 10. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für England will Helden, Markus Merk, der nette Nachbar

höchst lesenswert! „David Beckham und ich“ (Ronald Reng/FR) – England will Helden (Spiegel) – „wie kann Giovanni Trapattoni das System Milan übersehen?“ (NZZ) – Ryan Giggs wird wohl mal wieder in den Urlaub fahren (BLZ) – „Markus Merk ist der, den man gern als Nachbarn hat oder als Zahnarzt“ (FAZ) – die Geschichte des Kroaten Dado Prso hat eine seltene Wende genommen (Tsp) – Otto Rehhagel, Fußball-Weiser (SZ) u.v.m.

Höchst lesenswert! Ronald Reng (FR/Magazin 5.6.) erzählt sein Verhältnis zu (nicht mit) David Beckham: „Manchmal, wenn ich wieder einmal Freunden eine halbe Stunde lang erklärt habe, wie David Beckham wirklich ist, habe ich am Ende nicht nur sie, sondern auch mich davon überzeugt, dass ich ihn wahnsinnig gut kenne. In Wahrheit kenne ich ihn bloß besser als 99 Prozent aller Journalisten, die über ihn berichten – das heißt ich habe so eine vage Ahnung, wie er sein könnte. Ich traf ihn das erste Mal im April 1997 auf dem alten Trainingsgelände „The Cliff“ seines damaligen Klubs Manchester United. Er war 20, Posh Spice kannte er nur aus MTV und wurde von Ryan Giggs, einem etwas älteren Spieler, zum Training mitgenommen. Ich war 26 und gerade nach London gezogen. Ich wollte schon immer dort leben, weil mich die Engländer begeisterten, die Werke ihrer Schriftsteller, die Tacklings ihrer Fußballer, die Blümchenkleider ihrer Mädchen und vor allem ihr Hang zum Extremen: Sie konnten einerseits so höflich, andererseits so betrunken sein. Sie konnten stundenlang über die Bücher von Julian Barnes und Martin Amis reden und dann beim Gruppenfoto ihr Geschlecht aus der Hose hängen. Ich dachte: Zur Not jobbe ich in einem Café. Aber weil ich Journalist gelernt hatte, versuchte ich erst einmal, mein Geld als freier Sportreporter mit Berichten über englischen Fußball für deutsche Zeitungen zu verdienen. Ein Champions-League-Halbfinale zwischen Manchester United und Borussia Dortmund stand bevor, ich rief das Sekretariat von Uniteds Trainer Alex Ferguson an, um Interviewtermine auszumachen; es war damals tatsächlich noch so, dass Ferguson alles kontrollierte, selbst welcher seiner Spieler welche Interviews gab. Als Ferguson selber abnahm, stammelte ich verschreckt: „Äh, ich wollte eigentlich Ihre Sekretärin sprechen.“ Die Sekretärin hörte mir einen Moment zu, sagte: „Das können Sie Alex Ferguson doch selber fragen“ und reichte mich wieder zurück. Ferguson brummte: „Ein Deutscher … gestern ist was an meinem Mercedes kaputt gegangen, Euere Autos sind auch nicht mehr das, was sie mal waren, oder!?“ Ich hielt das zunächst für eine Absage aller Interviewwünsche. Doch ein paar Tage später saß ich mit David Beckham auf einer Bank in der Eingangshalle zum Trainingskomplex. Er war damals für mich nicht mehr als einer von fünf jungen Spielern, die den Durchbruch in Uniteds Profielf geschafft hatten, ich hätte genauso gut auch Paul Scholes oder Nicky Butt interviewen können; ich brauchte einen von ihnen, hatte mir ihre Fotos angesehen und mich für Beckham entschieden, weil er am nettesten aussah. Als wir schließlich miteinander redeten, wirkte er auf mich wie jemand, der gerne Interviews gab, aber nicht wusste, was er sagen sollte. Ich wirkte vermutlich auf ihn wie jemand, der froh war, dieses Interview zu haben, aber keine Ahnung hatte, wie man es auf Englisch führte. Das Einzige, was mir unter all den netten Nichtigkeiten unseres Gesprächs in Erinnerung geblieben ist, ist Beckhams Erzählung von seinem Wundertor gegen den FC Wimbledon, als er den Ball aus 50 Metern Entfernung über den Torwart hob: „Wann immer ich seitdem die Mittellinie überquere, fangen die Zuschauer an zu schreien: Schieß! Schieß!“ Auf der Zugfahrt nach Hause dachte ich, na ja, netter Junge, aber interviewen braucht man ihn nicht mehr. Seitdem habe ich über 100 Reportagen und Berichte über David Beckham für gut 30 deutsche Zeitungen und Magazine geschrieben. Ich bin David-Beckham-Korrespondent eines japanischen Magazins geworden. Ich kletterte während der WM 2002 in Japan auf einer gottverdammten Insel ohne Schatten namens Awaji bei zirka 38 Grad auf einem kahlen Baum, um über die Trennmauer des Sportplatzes hinweg zu sehen, wie es dem „Fuß der Nation“ gehe, ob Beckham nach seinem Knochenbruch tatsächlich schon wieder voll trainieren könne – und verstauchte mir selber das Gelenk, als ich von der Sonne einen Stich bekam und beim Runterklettern schlecht landete. Ich hänge regelmäßig in irgendwelchen engen Kabinengängen auf verschwitzten, breiten Schultern von Kollegen in der dritten Reihe, um nach Spielschluss ja kein Wort von Beckham zu verpassen. Niemand ist in meinem Arbeitsleben so präsent wie er, ich könnte sagen: er ist mein wichtigster Arbeitspartner – wenn es nicht so merkwürdig klingen würde, jemanden „Arbeitspartner“ zu nennen, der meinen Namen sicher in dem Moment vergaß, als ich mich damals vor sieben Jahren in Manchester vorstellte, der sich wohl gerade an mein Gesicht erinnert und vielleicht noch vage an meine Nationalität. Ach, der mit dem Akzent, Norweger ist der. Oder doch Franzose? Für viele Engländer sind alle Ausländer erst mal Franzosen. Der Einfachheit halber. (…) Vielleicht muss man Beckham nicht lieben, aber jeder kann ihn lieben. Er ist ein netter Junge aus der Londoner Vorstadt und gleichzeitig eine avantgardistische Mode-Ikone. Er ist für die einen ein hingabevoller Familienvater und für andere ein unwiderstehliches Sexsymbol – auf ihn lassen sich alle Sehnsüchte projizieren. Und keine Marketingkampagne muss ihn überhöhen. Er ist wirklich ein großartiger Fußballer, wirklich schön, wirklich höflich und gut erzogen. Er ist authentisch bewundernswert. Wenn er eine Affäre mit seiner Sekretärin hat, glaubt es die eine Hälfte des Publikums einfach nicht und die andere kichert allenfalls anerkennend darüber. Stars, so heißt es in England, werden in den Himmel gehoben, um sie tiefer stürzen zu können. They built you up, to knock you down. Irgendwann einmal wird es vermutlich auch Beckham so ergehen. Irgendwann wird ihm die öffentliche Meinung, dieses widerliche Biest, seinen kindlichen Narzissmus übel nehmen, den wir heute so rührend finden. Was heute als Trend gilt – seine ständig wechselnden Frisuren, all die Diamanten im Ohr, die ganzen Tätowierungen – wird irgendwann nur noch als dekadent empfunden werden. Aber noch ist es nicht so weit; noch heißt es bei einer Affäre: Was lässt ihn seine Frau, diese Ziege, auch allein in Madrid. Armer David. (…) Dass er mein Arbeitsleben mehr füllen würde, als je eine andere Person, ahnte ich erstmals Anfang 1999. Ich bekam eine E-Mail von einem japanischen Übersetzer: Ein deutscher Kollege habe mich empfohlen, ich solle bitte für ein japanisches Magazin ein Beckham-Porträt schreiben. Ich schrieb, wie Beckham sich mit tollen Leistungen für die Rote Karte gegen Argentinien rehabilitiere. Ich erwähnte, dass Beckham zwar ein Star, vor allem aber noch ein Fan sei, der sich in seine Frau Posh Spice beim MTV schauen verliebt hatte (als sie beim Video „Say You‘ll Be There“ diesen Tigerfell-Anzug trug), das wusste in Japan sicher niemand, dachte ich zufrieden. Ich ging noch weiter in die Tiefe, erklärte wie er als 16-Jähriger allein nach Manchester gezogen war, um Fußballer zu werden und abends in seinem Zimmer oft stundenlang das Autogrammschreiben geübt hatte, und machte den Japanern klar, dass Beckham zwar eitel sei, man ihm dies aber nicht übel nehmen dürfe. Denn es sei nur die niedliche Sehnsucht eines ewigen Jungen, berühmt zu sein. Ich war zufrieden mit dem Text, bekam weitere Aufträge – und ein paar Wochen später folgende E-Mail: „Ronnie! Der Verleger von ,Soccer Digest‘ kommt nach Europa. Er will dich auch kennen lernen. Ich werde ihn begleiten. Sei bereit! Ende.“ Ich weiß nicht, ob es die japanische Art ist, E-Mails ohne Gruß, nur mit dem Wort „Ende“ zu schließen, wie es mein Übersetzer grundsätzlich tut. Mir erscheinen seine Mails deswegen jedenfalls nicht wie Anfragen, sondern eher wie brüske Anweisung – was sie ja vielleicht ja auch sind. Kurz darauf kamen sie nach London. Wir gingen in das beste japanische Restaurant der Stadt. Ich war furchtbar nervös, der Übersetzer und der Verleger bestellten als Aperitif je zwei Bier, tranken sie in einem Zug, waren fortan betrunken, weswegen der Übersetzer die Lust am Übersetzen verlor, der Verleger Papierflieger durch das Nobelrestaurant warf, und sie mir zum Abschied den Posten des David-Beckham-Korrespondenten gaben. Ich habe noch nie so viel geschrieben. Zwei Zeitungsseiten über David Beckhams Freistosstechnik, einen „Sonderbericht“, wie sie es nannten, über David Beckhams Autos, während der WM in Japan einen Monat lang jeden Tag über „David Beckham sagte gestern…“ Ich glaube, ich hätte guten Grund, David Beckham zu hassen. Die Wahrheit ist, dass ich ihn unheimlich mag. Aber jetzt muss ich Schluss machen. Ich habe zu tun. Mein japanischer Übersetzer-Sklavenantreiber hat mir eine E-Mail geschickt: „Ronnie! Premiership-Magazin bittet dich um heiße Geschichte über Beckham. Kann er England zum Sieg bei der Europameisterschaft führen? 16000 Zeichen. Schreib mild und würzig. Hast Du verstanden? Ende.““

Jetzt werden die trotzigen Patriotismuspakete in die Auslagen gelegt

Wird „Cool Britannia“ wieder weinen? Matthias Matussek (Spiegel 7.6.): “Diesmal geht es um alles, wie im Übrigen immer in den vergangenen Jahrzehnten. Mittlerweile ist es ein Trauma, denn immer scheitern sie, wenn es darauf ankommt. Bisweilen tun sie es durchaus heldenhaft, wie damals, 1990, als sie wieder einmal gegen Deutschland untergingen. Gazza weinte, und die Szene wurde mit Pavarottis „Nessun dorma“ unterlegt, schön irgendwie und wesentlich ergreifender als der lustlose Abschied bei der vorigen WM, aber es läuft aufs Gleiche hinaus: Seitdem ihnen der russische Linienrichter 1966 im Finale von Wembley den Sieg schenkte, haben die englischen Löwen nichts mehr gerissen. Papiertiger – das ist die resignative Grundvibration unter den Sportreportern im Land. Man vernimmt sie an allen Kiosken, die langsam zuwachsen mit Sondernummern. Die Stimmung ist ohnehin schlecht. Jeder wartet darauf, dass der Immobilienmarkt zusammenbricht wie ein Pyramidenspiel, und das kollektive Selbstwertgefühl ist angeknackst. Es gibt nur noch Umfrage-Katastrophen: Rund 80 Prozent der Briten glauben inzwischen, dass durch das missglückte Irak-Abenteuer das Ansehen der Insel im Ausland im Keller ist. Keiner liebt uns! Es geht in diesem Turnier also um mehr als nur Fußball. Es geht um die nationale Respektabilität. Jetzt werden die trotzigen Patriotismuspakete in die Auslagen gelegt. Und die noch trotzigeren Autoaufkleber: „Stolz. Leidenschaft. Glaube“. In dieser Reihenfolge. Mittlerweile hat man Spin und Glamour satt, will endlich und einfach wieder mal gewinnen. Deshalb hat sich Beckham die Haare geschoren. Ein ideologischer Taktwechsel bereitet sich in diesen Tagen vor. Nichts gegen Britpop. Er ist ironisch und passt in gute Zeiten. Er hat die Nation berührt, und heraus kam Cool Britannia. Er hat die Politik berührt, und heraus kam New Labour. Er hat den Fußball berührt, und heraus kam Beckham. Doch jetzt geht das allen auf den Keks. Jetzt gilt es, Glamour in patriotischen Mehrwert zu verwandeln. Die Tagesparole heißt Tradition. Das Spielfeld wird konservativ. Es geht um die Nation. Den Jungs dort im Stadion ist klar: Wenn sie es schaffen, den nationalen Versagerbann zu brechen, dann wird es mehr geben als die paar zusätzlichen Millionen, die heutzutage jedem Wasserträger im hinteren Tabellenfeld hinterhergeschmissen werden. Dann winken Achtung und die historische Heldenrolle. (…) Einen Sieg braucht dieses Land. Der Titel muss her, egal wie. Eine Plakatwand, Werbetafel eines Schokoriegel-Herstellers in Stadionnähe, hat auch gleich einen humorvollen Vorschlag parat. Er besteht aus zwei Worten: „Russische Linienrichter“.“

Wie kann Trapattoni das System Milan übersehen?

Peter Hartmann (NZZ 10.6.) wittert Streitpotenzial in Italiens Nationalelf: „ Italiens Commissario tecnico plagen keine Zweifel mehr. Giovanni Trapattoni hat seine Startformation zum ersten EM-Spiel gegen Dänemark bekannt gegeben, und er baut auf das gleiche System und die gleichen Schlüsselspieler, mit denen er vor zwei Jahren an der WM Schiffbruch erlitten hat: Vieri, Totti und Del Piero. Trotz dieser frühzeitigen Festlegung – oder gerade deswegen – sind alle Polemiken an ihm abgeprallt. Die Squadra Azzurra und ihr Maestro erleben in Lissabon derzeit die ungewohnte Leichtigkeit der Normalität, und zur Zuversicht trägt auch der Sieg der „Baby“-Mannschaft im U-21-Wettbewerb bei. (…)Diese offensive Aufstellung – mit der Trapattoni sich selber und alle Klischees vom quasi genetisch bedingten Catenaccio der Italiener zu widerlegen versucht – zwingt die beiden zentralen Mittelfeldkämpfer Zanetti und Cossato zu sehr viel Zerstörungs- und Laufarbeit. Trapattoni fand diese Besetzung im April 2003 in Genf gegen die Schweiz, nachdem ihm Milan, Juventus und Inter ihre Spitzenleute wegen der Belastung durch die Champions League verweigert hatten – und er hat seit jenem erfolgreichen Experiment an der Verlegenheitszange Zanetti-Cossato festgehalten. Darüber empört sich der Wadenbeisser Gennaro Gattuso, der sich übergangen fühlt, und Trapattoni hat auch keinen Platz für Andrea Pirlo, den genialischen Ballverteiler, der sich in der Milan- Meistermannschaft mit Gattuso hervorragend ergänzt. Gattuso, ein Liebling seines Präsidenten Silvio Berlusconi, hat mit dieser prominenten Rückendeckung den Commissario öffentlich attackiert: „Wie kann er das System Milan übersehen, das so gut funktioniert hat?“ Unvergessen bleibt, wie der Über-Trainer Berlusconi vor vier Jahren den damaligen Nationalcoach Dino Zoff nach dem verlorenen EM-Final gegen Frankreich zum Rücktritt veranlasste: „Ein unfähiger Mann. Weshalb setzte er nicht unsern Gattuso als Manndecker auf Zidane an?““

Markus Merk ist der einzige Deutsche bei der Fußball-EM mit realistischer Finalchance

Christian Eichler (FAZ 9.6.) bewundert Schiedsrichter Markus Merk: „Zahnarzt, Athlet, Abenteurer, Familienvater, Gründer dreier Kinderdörfer in Indien. Und: der einzige Deutsche bei der Fußball-EM mit realistischer Finalchance. Neben dem Italiener Collina ist er der profilierteste Schiedsrichter der Welt. Collina ist markant in Erscheinung und Mimik. Er könnte eine Rolle in „Shrek II“ spielen. So, denkt man, muß einer aussehen, um sich 22 geblähten Fußball-Egos auszusetzen und Tausenden Fans und dem Streß heikler Entscheidungen, die ihm den Zorn ganzer Nationen einbringen können. Markus Merk ist nicht markant; kein Mensch mit großer Geste. Eher zurückhaltend, von sanfter Zuversicht. Er ist der, den man gern als Nachbarn hat. Oder als Zahnarzt. Vielleicht sogar als Schiedsrichter. Am schweren Holztisch in der Bauernstube in Otterbach, fünf Kilometer von Kaiserslautern, erzählt er vom Leben als, nein, nicht Schiedsrichter, sondern: „Fußballer, Spezialdisziplin Schiedsrichter“. Von seinen vielen Leben. „Gegensätzliche Welten vereinbaren und daraus Kraft schöpfen“, diese Übung mußte er lernen. Nach einem der ersten Male, da er aus Südindien zurückkam, wo er mit Frau und fünfjährigem Sohn mindestens zweimal pro Jahr selber Hand anlegt, um Not und Elend zu lindern, „konnte ich einen Tag später Jungmillionäre, die sich an der Mittellinie um einen Einwurf streiten, nicht ernst nehmen“. Heute passiert ihm das nicht mehr. Er bekommt beide Welten zusammen: „Ich kann den Hebel umlegen.“ Markus Merk, Großmeister einer seltenen Kunst: schnell entscheiden, spontan, sofort. (…) Das Gefühl für ein Spiel zu finden: die schwierigste Aufgabe des Schiedsrichters. Der wird öffentlich „immer nach Sekundenbruchteilen“ bewertet. Dabei besteht die wirkliche Arbeit in dem, was Merk das „Management eines Spiels“ nennt. „Spiele in die Bahnen lenken, daß sie gut laufen, alles rauskitzeln, um Spielfluß zu schaffen“, die Kunst des Tuns und Lassens im Spielraum des Regelwerks. Das ist mitunter „ein gefährlich schmaler Grat“. Verfehlt er ihn, bekommt der Schiedsrichter die Schelte. Trifft er ihn, bekommen die Spieler das Lob. Merk muß die stille Genugtuung reichen: „Ich kann kein schlechtes Spiel gut machen. Aber ein gutes Spiel ist immer auch mein Verdienst. Ich habe keine Nummer zehn auf dem Rücken. Aber ich bin ein Spielmacher.““

Ryan Giggs wird wohl mal wieder in den Urlaub fahren

Ronald Reng (BLZ 9.6.) würde Ryan Giggs gerne eine Wildcard für die EM schenken: “Ryan Wilson gibt es nicht mehr. Mit 16 Jahren hat er sich selbst abgeschafft. Er war damals Kapitän der englischen Fußball-Jugendnationalelf, der begabteste englische Linksaußen in 30 Jahren. Doch dann benannte sich Ryan Wilson in Ryan Giggs um und entschied, fortan Waliser statt Engländer zu sein. Er tat es für seine Mutter. Sein Vater, der Engländer Danny Wilson, trank mehr Bier als ihm gut tat, oft schlug er zu Hause um sich. Als er schließlich auszog, trug ihm Ryan noch die Koffer zum Bahnhof und beschloss, nicht nur den Nachnamen seiner Mutter Lynne Giggs anzunehmen, sondern auch für ihre Heimat Wales zu spielen. „Das war meine Art zu demonstrieren: Ich gehöre zu meiner Mutter“, sagt Ryan Giggs. 14 Jahre ist das her. Er hat in einer wundervollen Karriere mit Manchester United ein ganzes Kabinett voll der wichtigsten Trophäen gewonnen. Die Frage, die er „die nervigste“ nennt, bekommt er jedoch unverdrossen weiter zu hören: Bereuen Sie es, nicht mehr für England zu spielen? „Nein, natürlich nicht“, antwortet Ryan Giggs dann, und man kann natürlich denken: Er lügt. Denn während England nun bei der EM höheren Sphären entgegenstrebt, wird Giggs als Waliser im Sommer wohl wieder mal in Urlaub fahren: Sechsmal versuchte er bereits vergeblich, sich mit seinem Nationalteam für eine Welt- oder Europameisterschaft zu qualifizieren. „So mies habe ich mich im Trikot von Wales noch nie gefühlt“, sagte er, als sie im November gegen Russland auch in der Ausscheidung zu dieser EM gescheitert waren. „Ich bin nicht enttäuscht“, sagte Giggs, „ich bin verzweifelt.“ Turnier der Besten, Treffen der Stars, heißt es bei solchen Großturnieren immer, und zwei der allerbesten Fußballer der Gegenwart haben es besonders verdient, dass man vor dieser EM noch einmal an sie erinnert. Weil sie nie dabei sind. Die ewigen Abwesenden Ryan Giggs, 30, und der ukrainische Stürmer Andrej Schewtschenko, 27, vom AC Mailand haben alles, bloß keine Landsleute, die wenigstens halbwegs so gut spielen könnten wie sie.“

Mathias Klappenbach (Tsp 9.6.) porträtiert Dado Prso, kroatischer Stürmer: „Der kroatische Stürmer galt als junger Mann in seiner Heimat nicht nur als übergewichtig und unbeweglich, das vernichtende Urteil der Trainer lautete zudem: untalentiert. Der kantige, oft finster dreinblickende Mann mit dem Pferdeschwanz wanderte aus und suchte sein Glück in Frankreich. Hier wurde ihm zwar durchaus Talent zum Toreschießen bescheinigt. Aber das war nicht groß genug, um gegen die Folgen der vielen Zigaretten und täglichen Barbesuche anzuspielen. Prso kickte sich von der zweiten in die vierte Liga und arbeitete nebenbei als Automechaniker. Und dann nahm die Geschichte des Dado Prso eine seltene Wende. Er lernte seine jetzige Ehefrau kennen, trank und rauchte nicht mehr. Beidfüßig schießen konnte er schon immer, aber der 1,87 große Prso wurde nun auch athletisch und ein guter Kopfballspieler. Selbst ruhiger geworden, war er plötzlich auch Anspielstation. Liga um Liga kämpfte er sich trotz einiger Knieoperationen nach oben und spielte schließlich in der ersten Mannschaft des AS Monaco. International bekannt wurde er im vergangenen November durch seine vier Tore beim 8:3-Rekordsieg der Monegassen in der Champions League gegen Deportivo La Coruña. Das war an seinem 29. Geburtstag. Auch heute ist Prsos umständlich wirkende Spielweise noch die eines nicht mit dem Ball am Fuß geborenen und eigentlich zu langsamen Stürmers. Aber sie ist effektiv. Im selben Monat erzielte er die einzigen beiden Treffer der Kroaten in der EM-Relegation gegen Slowenien. Am Ende seiner ersten großen Saison ist er Kroatiens Fußballer des Jahres.“

Otto Rehhagel redet, Holger Gertz (SZ 9.6.) bekommt wunde Finger: „In der Sporthochschule Köln hat Rehhagel neulich einen Vortrag halten dürfen, über Fußball, über Talente. So stand es auf den Plakaten. Natürlich war es in Wirklichkeit allein ein Vortrag über sich selbst und über die Griechen, ein bisschen auch über die Griechen. Rehhagel, Nationaltrainer der Ethniki seit 2001, hat das erste Spiel mit den Griechen in Finnland 1:5 verloren, die Zeitungen schrieben bald: „Auf Wiedersehen, du Supertrainer.“ Aber dann hat er die EM-Qualifikation geschafft, und die Zeitungen schrieben von Rehhagel, dem besten Mann im ganzen Land. So sind sie, die Reporter, beweglich wie Knetmännchen. Wie er das alles geschafft hat, erzählt Rehhagel nicht. Er erzählt gern Anekdoten und alte Sinnsprüche, in der Art von Herberger, „der Ball ist rund“, solche Sachen. Herberger war ein demokratischer Diktator, Rehhagel hatte in Bremen das System der Ottokratie eingeführt. Es gibt also offenbar Ähnlichkeiten in der Arbeitsweise dieser beiden Trainer. Bei Herberger durften die Spieler rauchen, aber auf dem Platz mussten sie funktionieren, sonst flogen sie raus, die Raucher zuerst. Bei Rehhagels Griechen gibt es unter den jungen Spielern welche, die sind mit den schönsten Frauen zusammen, sagt er, „und zum Training kommen sie immer mit so zerrissenen Hosen, Jeans mit Löchern, nicht wahr“. Da sagt er dann, meine Herren, Sie können anziehen, was Sie wollen, aber auf dem Platz hängen Sie sich vernünftig rein, bitteschön. Das übersetzt ein Übersetzer, denn griechisch gelernt hat Rehhagel nicht – nur drei, vier Worte. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass die Spieler nicht alles mitkriegen, was er sagt: „Das Leben währt, wenn es hochkommt, achtzig Jahre.“ Solche Sachen. Was soll man, als junger Grieche, damit anfangen? Otto Rehhagel sagt, Fußball ist ein einfaches Spiel, und was gesagt werden muss, ist in wenigen Worten gesagt. „Männer, denkt an euer Land“, sagt er vor einem Länderspiel. Manchmal muss vor einem Länderspiel allerdings auch gesungen werden. Es gab am Anfang ziemlich viel Gemurre, der Trainer sei zu selten da, er identifiziere sich nicht mit dem Land, aber das hat Rehhagel alles weggesungen und fortgebrummt. Er sagte: „Ich mag eure Hymne so gerne. Ich habe mir eine CD gekauft und höre sie immer wieder an. Ich will sie singen lernen.“ So geschah es, und weil inzwischen die Mikrophone bei einem Fußballspiel überall verschraubt sind, wird man bei der EM hören, wie Otto Rehhagel sich an einem fremden Lied versucht. Die Hymne wurde übrigens geschrieben von Dionyssios Solomos, im Mai 1823 auf seiner Geburtsinsel Zakynthos, sie besteht aus 158 Strophen, aber alle kann Otto noch nicht. Die griechische Nationalmannschaft wurde bisher beeinflusst aus 158 Richtungen. Jener Verein wollte diesen Stürmer im Team haben, dieser Journalist jenen Verteidiger, aber damit hat Otto Rehhagel Schluss gemacht. Rehhagel hat es nicht besonders mit Panathinaikos, nicht mit Olympiakos, nicht mit AEK Athen. Er scheint objektiv, er nimmt die Besten. Den Madrilenen Nikolaidis, der schon zurückgetreten war. Den Bremer Charisteas, obwohl der bei Werder nur auf der Bank sitzt. Er baut sich sein Team, sein eigenes, und was die Vereinsfürsten sagen, versteht er eh nicht. Und würde er es verstehen, es wäre ihm egal. So ein Solitär zu sein, kann auch seine Vorzüge haben.“

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