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Deutsche Elf

Deutscher Schlussverkaufsfussball

Oliver Fritsch | Montag, 21. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Deutscher Schlussverkaufsfussball

„immer diese Deutschen mit ihrem Schlussverkaufsfußball“ (SZ) – „ausufernde Debatte über den Zustand der Gesellschaft am Beispiel von Fußball-Nulpen“ (SZ) – Spiegel-Interview mit Christian Ziege und Dietmar Hamann über ihr Verhältnis zu Journalisten u.v.m.

Immer diese Deutschen mit ihrem Schlussverkaufsfußball

Deutschland macht sich bei der EM keine Freunde, Ludger Schulze (SZ 21.6.): „Durch das nachfolgende Glorienspiel zwischen Tschechien und Niederlande entsteht nun die Debatte, womit eigentlich diese Deutschen ein Weiterkommen verdient hätten? Ein Weiterkommen, das eventuell durch das profunde Desinteresse der Tschechen an einem weiteren verzehrenden Kraftakt erst ermöglicht wird und die üblichen Verzweiflungsanfälle fassungsloser Oranje-Fans hervorrufen würde: Immer diese Deutschen mit ihrem Schlussverkaufsfußball, geringe Qualität, billig, aber erstklassige Rendite! Zurück bliebe in der Tat ein leicht fader Geschmack, wer mag sich schon über ein Geschenk freuen, das man nur deshalb bekommt, weil der Geber es nicht mehr braucht. Aber haben nicht diese brillanten Tschechen gegen eben diese Letten ebenfalls ein Trauerspiel abgeliefert, das sie für ein paar Tage förmlich aus dem Kreis der Favoriten hinauskatapultierte? Das sei das schwerste Stück Arbeit in dieser Gruppe gewesen, stöhnte deren Spielmacher Tomas Rosicky genervt auf, und man kann sich das synchrone Kopfnicken der Deutschen gut vorstellen. Auch den Tschechen, die gegen das weit stärkere Team der Niederländer Fußball von der Traumgrenze spielten, ist gegen die baltischen Zerstörer nicht viel mehr eingefallen. Rudi Völlers Elf entspricht haargenau den Erwartungen, sie kämpft bravourös und spielt mittel bis mäßig. In den europäischen Vereinswettbewerben der vergangenen Saison haben die deutschen Klubs in Konkurrenz mit Spaniern, Portugiesen, Italienern, Franzosen und Engländern schnell ihre Unterlegenheit erkennen müssen. Den Leistungsstand der Bundesliga – ohne deren ausländische Glanzlichter – spiegelt, Nuancen hin oder her, auch das Auswahlteam ihrer Besten. Wer sich mehr erhofft hatte, ist eigenen Wunschvorstellungen und Idealphantasien aufgesessen.“

Über die Klasse der Letten verfügen die Tschechen allemal

Peter Heß (FAZ 21.6.) ist vor dem Duell mit Tschechien skeptisch: „Das letzte Gruppenspiel ist nicht zu dem von ihm erwarteten „echten“ Endspiel geworden, sondern hat nur einen Finalteilnehmer: sein Team. Die Tschechen dagegen sind dank ihrer phänomenalen Leistung gegen Holland schon weiter. Sie können jetzt ihre Stars schonen. Unter solchen Umständen sollte der deutschen Nationalelf doch der nötige Sieg möglich sein? Vorsicht! Vor vier Jahren bei der Europameisterschaft in den Niederlanden und Belgien war die Ausgangsposition dieselbe. Portugal gab zehn Ersatzspielern die Chance zur Bewährung und gewann 3:0, Deutschland fuhr nach Hause. Damals stand mit Erich Ribbeck ein führungsschwacher Teamchef einer zerstrittenen Mannschaft vor. Heute leitet Rudi Völler eine harmonische und kampfeswillige Gemeinschaft. Aber nach den Erfahrungen dieses Turniers steht zu befürchten, daß ehrliches deutsches Bemühen auch gegen Tschechiens zweite Wahl nicht reichen könnte. Freiwillig werden die Lokvenc, Heinz und Tyce – lauter gute Bekannte aus der Bundesliga – nicht verlieren. Und über die Klasse der Letten verfügen sie allemal.“

Andreas Lesch (BLZ 21.6.) kann sich nicht mal zum Optimismus zwingen: „Das ist nicht freundlich gewesen von Karel Brückner, den Gegner so zu erschrecken. Er werde seine Edelkicker schonen in der abschließenden Vorrundenpartie, hat Tschechiens Trainer gesagt – die Ersatzleute seien schließlich auch nicht schlecht. Prompt geisterte das böse Wort wieder durch die Welt: B-Team. Ein B-Team, lehrt das Alphabet, ist schlechter als ein A-Team. Es ist aber im Zweifelsfall gut genug, um das D-Team zu besiegen: Deutschland. Portugal hat das bewiesen, mit dem 3:0 bei der Euro 2000. Drei Mal traf damals Sérgio Conceição gegen ein willenloses deutsches Team – ein Mann, den vorher niemand kannte. Jener Abend von Rotterdam darf als der unerfreulichste gelten in der jüngeren deutschen Länderspielgeschichte. Er markiert den Tiefpunkt einer erschreckenden Bilanz, die mit dem 0:0 gegen Lettland ihre Fortsetzung gefunden hat: Seit acht Jahren, seit dem 2:1-Erfolg im EM-Finale 1996 gegen Tschechien, haben die besten Kicker der Republik bei einem großen Turnier kein europäisches Team mehr bezwungen.“

Rudi vor, noch ein Tor! Nina Klöckner (FTD 21.6.): „Rudi Völler kann es irgendwie immer noch nicht lassen. Er trägt eine kurze schwarze Fußballhose, die Strümpfe ballen sich um seine Knöchel. Er hält den Ball ein paar Mal hoch, dann rennt er los, die Kugel immer eng am Fuß, nur einige Meter, bevor er abzieht. Wumms. „Wenn ihr wüsstet, wie viel ich dafür geben würde, noch einmal mitmachen zu können“, raunt er den Journalisten am Rande des Trainingsplatzes in Loule atemlos zu. „Und wir erst“, sagt einer aus dem Pulk leise, aber noch laut genug, dass es Rudi Völler hört. Der Teamchef der deutschen Nationalmannschaft lacht. Dabei ist die Sache ziemlich ernst. Ein Tor hat die deutsche Elf bei dieser EM bisher erzielt – durch einen Freistoß von Torsten Frings, doch selbst der war gar nicht als Torschuss geplant, sondern als Flanke. Und so ist es kein Wunder, dass sich die Leute nach den Zeiten zurücksehnen, in denen Völler noch über den Rasen pflügte.“

Ein Dietmar Hamann reicht nicht, um Gegner wie Lettland in ernsthafte Verlegenheit zu bringen

Jan Christian Müller (FR 21.6.) gibt zu bedenken: „An der Torflaute sind die international auf höchstem Niveau nicht konkurrenzfähigen deutschen Angreifer nicht alleine Schuld. Zum modernen Offensivfußball gehören Mittelfeldspieler, die mit dem Ball am Fuß oder durch ihr Passspiel Tempo machen können. Dietmar Hamann, das Herz des deutschen Aufbauspiels aus der Tiefe heraus, vermag das nicht. Hamann kann defensiv ein herausragender Stratege sein, wie er beim Auftaktspiel gegen die Niederlande bewiesen hat. Er kann das Spiel beruhigen und verliert auch in unübersichtlichen Situationen selten die Kontrolle. Aber das reicht nicht, um Gegner wie Lettland in ernsthafte Verlegenheit zu bringen. Zumal dann nicht, wenn die beiden neben Ballack stärksten Offensivspieler der vergangenen Weltmeisterschaft, Bernd Schneider und Torsten Frings, im Formtief stecken und trotz sichtlicher Mühen nicht herausfinden. Ohne deren Zuarbeit von den Halbpositionen sind die deutschen Stürmer hilflos, weil sie individuell nicht stark genug sind: Kevin Kuranyi trotz viel versprechender Ansätze noch nicht, Fredi Bobic längst nicht und Miroslav Klose schon lange nicht mehr. Thomas Brdaric wohl nie, Lukas Podolski hoffentlich bald.“

Ausufernde Debatte über den Zustand der Gesellschaft am Beispiel von Fußball-Nulpen

Ist es fair, wenn die Tschechen ihre Stars schonen, Ludger Schulze (SZ 21.6.)? „Das Hohe Gericht des Europäischen Fußballverbandes würdigte nur kurz den möglichen Einwand der Gegenseite und erklärte dann die Beweisführung im anstehenden Fairness-Prozess für nicht stichhaltig. Begründung: „Man kann die Tschechen nicht verurteilen, wenn sie Spieler schonen. Das haben die Franzosen bei der WM „98 und der EM 2000 auch gemacht. Danach waren die Spieler ausgeruht und haben das Turnier gewonnen“, sprach der beisitzende Richter Gerard Houllier aus Frankreich, vor kurzem noch Trainer bei Dietmar Hamanns englischem Klub FC Liverpool, und derzeit bei der EM als Mitglied der Technischen Kommission der Uefa tätig. Einspruch? Abgelehnt. Vorausgegangen ist dieser Verhandlung, die nie stattgefunden hat, die Ankündigung des tschechischen Trainer Karel Brückner, aus dem Diadem seiner Holland-Besieger die funkelndsten Juwelen im Safe zu lassen und mit Falsifikaten zum Rendezvous mit den Deutschen aufzukreuzen. „Ich werde Pavel Nedved und einige andere schonen. Wir haben schließlich viele gute Spieler im Kader“, erklärte der Übungsleiter. Mit Fug und Recht kann man den zu erwartenden personellen Kahlschlag, wenn man beispielsweise mit der holländischen Elftal fühlt, als sittenwidrige Begünstigung der Deutschen betrachten. Auch wenn nonchalante Gemüter keinen großen Unterschied zwischen Tschechien A und Tschechien B erkennen wollen. Nur – wenn das tatsächlich einerlei wäre, warum ist dann nicht die zweite Mannschaft die erste? Zum Seelenfrieden des Rudi Völler trägt diese Diskussion nicht das Mindeste bei. Der Teamchef erinnert sich mit Grausen an die EM 2000, als die Knochen erweichende 0:3-Blamage gegen ein portugiesisches Bankdrücker-Sammelsurium nicht nur zur Entlassung seines Vorgängers Erich Ribbeck, sondern auch zu einer ausufernden Debatte über den Zustand der Gesellschaft am Beispiel von Fußball-Nulpen führte. „Ja“, sagt er, „wir brauchen da nur die Kassette von vor vier Jahren herausholen.“ Glücklicherweise zählen Vergleiche im Fußball nur bis zum Anpfiff des nächsten Spiels, und bei dem wird in Lissabon eine andere Mannschaft antreten.“

Neulich habe ich mich dabei ertappt, dass ich weggeschaltet habe

Spiegel-Interview (21.6.) mit Dietmar Hamann und Christian Ziege

Spiegel: Herr Hamann, Herr Ziege, erstmals bei einem Turnier werden die Pressekonferenzen der Nationalmannschaft live im deutschen Fernsehen übertragen. Schauen Sie in Ihren Hotelzimmern regelmäßig zu, wenn Ihre Trainer und Teamkameraden auf Sendung sind?
DH: Bei mir kommt’s drauf an, wer dran ist.
CZ: Bei mir auch. Manche Kandidaten sind ja besonders lustig. Manche weniger.
DH: Neulich habe ich mich dabei ertappt, dass ich weggeschaltet habe.
Spiegel: Gibt Teamchef Rudi Völler mit seinen Auftritten die Sprachregelung vor?
CZ: Ich persönlich brauche keinen Trainer im Fernsehen, um zu wissen, welche Meinung ich habe. Es müssen ja auch nicht immer alle Aussagen konform sein.
Spiegel: Sie sind es aber. Von dem Moment an, da Trainer Michael Skibbe Samstag vor einer Woche selbstbewusst von der tollen Pflichtspiel-Bilanz sprach, um die ganz Europa die Deutschen beneide, äußerten sich plötzlich auch alle Spieler zuversichtlich.
DH: Das lag eher an den Fragen. Bis dahin waren wir in jeder zweiten Frage auf unser verlorenes Testspiel gegen Ungarn angesprochen worden. Da fiel es schwer, selbstbewusst zu wirken.
Spiegel: Haben sich die Fragen gegenüber früheren Welt- oder Europameisterschaften verändert, seit die Fragesteller dem Fernsehpublikum vorgestellt werden?
CZ: Wenn ich mir die Pressekonferenzen so anschaue, muss ich sagen: Da werden jetzt Zeitungen genannt, von denen ich nie vorher gehört habe. Auch die Qualität der Fragen ist anders. Man kann sich ja als Journalist jetzt schnell mal als fachlich ahnungslos outen, weil die Leute das zu Hause mitbekommen.
Spiegel: Wie sollten deutsche Nationalspieler in der Öffentlichkeit wirken?
DH: Man sollte glaubwürdig sein; und sich einigermaßen wie ein zivilisierter Mitteleuropäer ausdrücken können.
Spiegel: Völler sagte vor EM-Beginn, es würde der Mannschaft helfen, wenn die deutsche Öffentlichkeit an sie glaube. Ist es daher wichtiger, Zuversicht zur Schau zu stellen, als die Wahrheit zu sagen?
DH: Die Journalisten wollen doch oft gar nicht die Wahrheit hören. Sie wollen spektakuläre Geschichten. Und ob man eine positive Stimmung transportiert oder nicht – meine eigene Erwartungshaltung ist doch viel wichtiger als die der Presse. Als Spieler darf ich den Glauben an mich selbst nicht verlieren.“

Axel Kintzinger (FTD 21.6.) sinniert: „Die Deutschen spielen schlecht, womöglich fliegen sie nach der Vorrunde raus – und trotzdem lösen sie Emotionen aus wie kaum ein anderes Team. Der Grund ist klar: Es sind die Schatten der Vergangenheit. Was ausnahmsweise mal nichts mit den Nazis zu tun hat. Sondern mit der letzten WM. Richtig verziehen hat es die Fußballwelt noch immer nicht, dass diese Mannschaft im Finale stand. Dass sie überhaupt oft in Endspielen stand, obwohl sie außer 1974 und 1990 nie hätte dorthin gelangen dürfen. Deren bester Mann immer der Torwart war. Und in der einzig Ballack vom Ausland umworben wird – zu einem Preis, für den Roman Abramowitsch Putzfrauen anheuert. Dessen Yacht „Pelorus“, ein protziges Neureichen-Schlachtschiff ähnlich denen der Bösewichter in James-Bond-Filmen, liegt derzeit im Hafen von Lissabon, davor ankerte es in Porto. Der russische Ölmilliardär und Chelsea-Besitzer guckt sich sein neues Spielzeug an, den Portugiesen Deco. Vielleicht kauft er sich noch Italiens Goldstück Cassano, Schwedens Tor-Akrobatiker Ibrahimovic oder Englands Rooney, der schon so aussieht wie die Bodyguards des Oligarchen, nur ohne Brioni-Anzug. Warum regt das eigentlich niemanden auf? Weil das Leben zwar ungerecht ist, aber nicht so bleiben soll, erwärmen wir uns jetzt für Deutschland. Richtig gelesen: Für Wörns, Friedrich, Bobic und die anderen Rumpelfüßler. Und natürlich für Rudi. Weil, die Unsrigen – das sind die wahren Underdogs.“

Knapp 200 Stürmerminuten, auf acht Beine und vier Köpfe verteilt – aber kein Tor gegen Lettland

Michael Horeni (FAZ 21.6.) würde am liebsten selbst die Fußballschuhe schnüren: „Es läuft die letzte Minute der Nachspielzeit, und endlich kommt mal wieder eine Flanke so, wie sie sein soll, vor das lettische Tor. Der Ball hat genau das richtige Tempo, um den Torwart hinter sich zu lassen und einen Stürmer zu finden, der fünf, sechs Meter frei vor dem Tor steht. Es ist eine Flanke, aus der Miroslav Klose vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft einen Treffer gemacht hätte, selbst wenn er sich die Schuhe verkehrt herum angezogen und die Augen vor dem Kopfball geschlossen hätte. So sicher war er damals im Abschluß. Er war einer der besten Kopfballspieler der Welt, der sich nach seinen wichtigen Treffern vor Freude überschlug. Aber es ist die vierte Minute der Nachspielzeit bei der Europameisterschaft gegen Lettland, und Klose ist nicht mehr der Stürmer, der er in Japan war. Klose fliegt dem Ball mit dem Kopf entgegen, und in diesem Moment kann doch noch alles gut werden für das deutsche Team – aber der Ball fliegt meterweit am Tor vorbei. Klose bleibt langgestreckt auf dem Rasen liegen, auch mit dem Salto ist es nichts mehr. Er hätte alles wenden können, die deutschen Aussichten auf das Viertelfinale wären gut gewesen, und auch seine Krise, die deutsche Stürmerkrise, sie wäre nicht das große Thema gewesen. „Das sind normalerweise seine Tore“, sagt Rudi Völler ratlos. 0:0 gegen Lettland. Das ist ein Mißtrauensbeweis gegen jeden Angreifer: gegen Kevin Kuranyi, 80 Minuten vergeblich dabei; gegen Fredi Bobic, 67 Minuten vergeblich dabei; gegen Miroslav Klose, 23 Minuten vergeblich dabei; gegen Thomas Brdaric, 13 Minuten vergeblich dabei. Knapp 200 Stürmerminuten, auf acht Beine und vier Köpfe verteilt – aber kein Tor gegen Lettland. (…) Der Teamchef indes mußte sich fragen lassen, warum er kurz vor Schluß mit Brdaric gegen das lettische Bollwerk einen Konterstürmer einwechselte und nicht einen Strafraumstürmer wie den jungen Kölner Lukas Podolski. Doch bei diesem Teilaspekt des Sturmproblems wollte sich der Teamchef vor dem entscheidenden Spiel gegen die Tschechen nicht weiter aufhalten. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen, damit wir die Spieler, die Tore erzielen können, besser in Position bringen“, sagte Völler. Mit Spielern, die Tore erzielen können, meinte er jedoch schon nicht mehr einen seiner Stürmer – sondern Mittelfeldspieler Michael Ballack.“

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