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Deutsche Elf

Wir Deutschen, wir Pfeifen

Oliver Fritsch | Donnerstag, 24. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Wir Deutschen, wir Pfeifen

Völler hat seine Tauglichkeit für den Job unzweifelhaft unter Beweis gestellt

Jan Christian Müller (FR 24.6.) hätte an Rudi Völler festgehalten: „Dem struktur-konservativen Teamchef Völler ist es aber gelungen, einen Generationswechsel einzuleiten, den er so weitreichend eigentlich nicht geplant hatte. Forderungen nach einem radikalen Umbruch im Hinblick auf die WM 2006 wird Bauchmensch Völler jedoch nicht nachkommen und vom Kollegen Skibbe, dem Kopfmenschen an seiner Seite, auch nicht gedrängt werden. Lediglich die 32-jährigen Fredi Bobic und Christian Ziege dürften keine Zukunft mehr in der Nationalmannschaft haben. Aber selbst das könnte angesichts der Treue des Teamchefs zu seinen einmal Auserwählten eine gewagte These sein. Ziege hat seine Qualitäten in der Coaching-Zone und als Stimmungsmacher in den Tagen von Portugal immerhin mehrfach eindrucksvoll demonstriert. Auch wenn es zum „Modell Völler“ derzeit in Ottmar Hitzfeld eine Alternative auf dem Arbeitsmarkt gibt, die ein ähnliches Durcheinander wie vor vier Jahren nach dem Rücktritt von Erich Ribbeck verhindern könnte – Völler hat seine Tauglichkeit für den Job unzweifelhaft unter Beweis gestellt. Ein Führungswechsel käme zur Unzeit. Seine Darstellung in der Öffentlichkeit hat der 44-Jährige – möglicherweise aufgrund der Liveübertragung der Pressekonferenzen – optimiert, den Anteil an Leerformeln und Floskeln spürbar verringert. Sein Umgang mit den Spielern gilt als vorbildlich. Er wird von den Profis als zuverlässiger Partner angesehen. Wie auch von den Bundesligaclubs. Völler hat es dank seiner Fähigkeit zur Diplomatie, seiner natürlichen Autorität als ehemaliger Weltklassespieler und Trainer des WM-Zweiten geschafft, öffentliche Konflikte zu vermeiden. Doch hinter verschlossenen Türen versteht er Klartext zu reden. Der Teamchef, nicht Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder, ist der uneingeschränkte Boss, dessen Stimmung die Stimmung aller maßgeblich beeinflusst, und mitunter werden Mitarbeiter wegen einer unvermittelten üblen Laune des Rudi Völler auf harte Proben gestellt.“

Liebe Leser, Rudi Völler ist zurückgetreten. Lesen Sie morgen darüber im freistoss! Und hoffen wir auf Ottmar Hitzfeld!

Sven Goldmann (Tsp 24.6.) rechnet Völler die Verjüngung der Nationalelf hoch an: „So jung ist Deutschland lange nicht mehr dahergekommen wie gestern Abend im Estadio José Alavalade zu Lissabon. Niemand kann Rudi Völler vorwerfen, er habe sich nicht um einen Generationswechsel in der Nationalmannschaft bemüht. Mit Arne Friedrich, Bastian Schweinsteiger, Kevin Kuranyi und Philipp Lahm hatte der deutsche Teamchef gestern gegen Tschechien gleich vier Spieler für die Anfangsformation nominiert, die beim WM-Turnier vor zwei Jahren in Fernost noch nicht einmal zum erweiterten Kreis gehörten. Zur zweiten Halbzeit kam mit Lukas Podolski noch ein fünfter dazu. Das ist ein weitaus rigoroserer Verjüngungsprozess, als ihn etwa die Franzosen verfolgen, die in Portugal mit ziemlich genau derselben Mannschaft auflaufen, die vor vier Jahren in Holland und Belgien Europameister wurde.“

Bin ich Phantast, wenn ich einen Weg sehe?

Marcel Reif (Tsp 24.6.) lässt sich nicht schocken: „Und nun? Das Grundgesetz ändern, die Wirtschaft verschrotten, den Papst zwecks göttlicher Hilfe eindeutschen? Genau. Wir können Letten nicht besiegen, patzen gegen Tschechiens zweite Wahl, haben Ärger mit der EU – gerade reicht es noch zur Gewohnheit, gegen die Holländer nicht zu verlieren. Da stehen wir also, wir Deutschen, wir Pfeifen – wie das Land, so sein Fußball: zweitklassig. (…) Es hat nicht gereicht, noch nicht. Noch ist der deutsche Fußball nicht wieder Spitze, aber bin ich Phantast, wenn ich einen Weg sehe? Die Franzosen, die wir so bewundert haben, haben zehn Jahre gebraucht für den Generationswechsel, wir sind seit der letzten EM im Jahre vier. Für Verzweiflung besteht kein Anlass.“

Europameister der Herzen

Das Feuilleton der FAZ (23.6.) er kennt eine neue Wertehierarchie im deutschen Team: „Sogar ein in sich gekehrter Träumer wie Torsten Frings taut regelrecht auf im Kreis von Stimmungskanonen wie Bobic oder Brdaric, bei denen offenbar jede Pointe ins Schwarze trifft. Selbst ein Spiel wie das gegen Lettland schlägt nicht aufs Gemüt – kaum hatte die Mannschaft hinterher am Fernseher verfolgt, wie supergut drauf erst die nächsten Gegner, die Tschechen, sind, war die Stimmung wieder auf dem Höhepunkt. Fast wie vor vier Jahren in Vaals, als die Spieler auch nach der Packung gegen Portugal noch ausgelassen wie junge Hunde nach „Anton aus Tirol“ verlangten. Nun mag ein Spielverderber humorlos einwenden, Stimmung sei doch etwas höchst Subjektives, und gute Laune allein trickse noch kein Abwehrbollwerk aus! Oder wie Kassandra Jens Nowotny warnt: „Euphorie ist ja gut, sie darf nur nicht kopflos werden.“ Nun, das mag vielleicht beim Italiener oder einem anderen Bruder Leichtfuß so sein. Beim deutschen Team aber beruhen selbst Lockerheit und Frohsinn auf schlichten Tatsachen. Behaviourist Michael „Black box“ Skibbe verrät: „Ich bin optimistisch aufgrund der objektiven Werte, die ich von den Spielern habe.“ Zweifellos wird Mannschaftsarzt Dr. Müller-Wohlfühl nach neuestem sportwissenschaftlichem Wissen täglich den Endorphin-Pegel messen und zur Not noch Einzeltraining mit Sepp Maier verschreiben – falls der sich einmal vom Fun-Sport mit Jens Lehmann freimachen kann, der leider nach wie vor hartnäckigsten Spaßbremse im deutschen Team. So mögen denn endlich alle schweigen, die nur buchhalterisch auf nacktes Zahlenwerk schauen, auf Punktestand und Torausbeute. Völler hat seine wichtigste Mission schon erfüllt: Die sichtliche Freude vor, während und sogar nach dem Spiel ist endlich eine deutsche Tugend. So wird unsere sympathische Elf, ein Lächeln auf den Lippen, den Gute-Laune-Adler auf der Brust, Europameister der Herzen.“

Der Geist von Malente ist endgültig in der Flasche

Deutsche Nationalspieler reden, und Klaus Brinkbäumer (Spiegel 21.6.) gähnt: „Nicht öffentlich „ich“ sagen. Nicht den Trainer oder den Mitspieler kritisieren. Kein Geheimnisverrat. Den Mannschaftsgeist preisen. Den Gegner ernst nehmen. Es scheint zu funktionieren. Die Nationalspieler der Generation Frings wirken nicht mehr männerbündlerisch wie jene, die einst über die Zäune der Sportschule Malente stiegen, sie wirken eher ein wenig einsam: Sie spielen heute kaum noch Karten beim DFB. „Der Geist von Malente ist endgültig in der Flasche“, so sagt es Völler, „das ist eine erwachsene Mannschaft“; sie sind Unternehmer, die sich selbst verkaufen, und Völler hat eine durchaus smarte Strategie entwickelt, mit der er die Jungs, die er „Männer“ nennt, auf Linie hält. Völler sagt und zeigt seinen Männern, „dass ich alles weiß und kenne, was ein Spieler versucht oder denkt, weil ich das auch mal versucht oder gedacht habe“. Er verlangt und gibt Loyalität; im Alltag geplagte Spieler wie Michael Ballack oder Christian Ziege sind immer schwer erleichtert, wenn sie endlich wieder zum Rudi reisen dürfen. Man konnte in den vergangenen Wochen ja gleichsam dabei zusehen, wie diese Mannschaft sich in ihrer schönen, deutschen Welt stärker redete, als ihre einzelnen Bauteile in Wahrheit sind – und wie sie dann gegen Holland so spielte, wie sie redet. (…) Die täglichen, live in die Heimat übertragenen Pressekonferenzen finden 100 Meter vom Teamhotel entfernt statt, es geht hinab in den Keller, dort unten muss man dann an den Ständen der Sponsoren vorbei: Die Postbank verschenkt gelbe Fußbälle, Bitburger zapft schon früh am Morgen, und Adidas verteilt „Give-aways“ und meint T-Shirts, mit denen die Journalisten gleich dreigestreift ins Fernsehen kommen. Und ganz hinten, vor einer Wand mit vielen Firmenlogos und hinter einem kleinen Fußball, aus dem sein Mikrofon ragt, sitzt nun Presse-Chef Harald Stenger, der Pressechef, und wenn der um zwölf Uhr Ortszeit das Signal von der jungen Dame neben der Führungskamera bekommt, sagt er: „Guten Tag und herzlich willkommen hier in Almancil, der Ball rollt.“ Und Jens Nowotny sagt: „Ich denke, die Einzigen, die im Unklaren sind, sitzen mir gegenüber“, und das ist einer der wahren Sätze in der ersten EM-Woche. Und Philipp Lahm sagt: „Ich vermute mal, dass ich das weiß“, als er nach einem Gegenspieler gefragt wird. Und alle versprechen eine Mannschaft, in der jeder insbesondere die Ordnung hält und so weiter. Was macht der Fußballreporter damit? Er nimmt, was er kriegt, und wird selbst ein Star für Sekunden. In der Welt der deutschen Nationalmannschaft laufen Journalisten herum, die Dietmar Hamann fragen, ob er deshalb ein langärmeliges Trikot trage, weil er der lange Arm des Trainers sei. Sogar „Bild“, einstmals nur im ganz kleinen Kreis gesprächig, weil es einstmals noch um Exklusives ging, fragt jetzt live, weil es jetzt um Präsenz geht – nur dabei statt mittendrin, es ist die Simulation von Recherche. Es ist alles ein bisschen wie Phönix für Fußballfans und auch ein bisschen Seifenoper (…) Natürlich ist es nicht so, dass Rudis Männer auf einmal zu jenem „Elf-Freunde“-Glauben gefunden hätten, der schon 1954 eine Lüge war. Spieler wie Torsten Frings sind keine Romantiker; wenn der den Verein wechseln will, dann betreibt er das mit öffentlicher Kritik an seinem Arbeitgeber, so lange, bis Borussia Dortmund ihn gar nicht mehr behalten kann; dann geht Frings zu Bayern München, „weil ich da mein Ziel, Deutscher Meister zu werden, am besten erreichen kann“. Und sein Berater schließt die Verhandlungen am Tag des Holland-Spiels ab, und Frings sagt, so was lenke ihn nicht ab, so was gehöre dazu. Es gilt als ausgemacht in dieser Mannschaft, dass man genau so heutzutage sein muss: bissig, niemals schwach und „immer absolut flexibel“, so Frings. Der Münchner Sebastian Deisler war vermutlich der letzte Fußballprofi, der mit viel Talent und weniger Ehrgeiz nach oben durchdrang; „du brauchst heute den absoluten Willen, sonst schaffst du es nicht“, sagt Frings. Darum sind Spieler wie er heute Hersteller und Händler und Ware zugleich, und man darf unterstellen, dass sie die drei schönen Wörter von Portugal nur deshalb ständig benutzen, weil sie verstanden haben, dass sie sonst nichts erreichen würden, für sich selbst, für wen sonst? Dass alle 23 das verstanden haben, genau das ist die Qualität dieser Mannschaft.“

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