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Deutsche Elf

Biedere Reisegesellschaft

Oliver Fritsch | Freitag, 25. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Biedere Reisegesellschaft

Deutschland scheidet aus, und Rudi Völler tritt zurück: „bieder, brav und durchschnittlich erschien diese deutsche Reisegesellschaft“ (FAZ) / „neuerdings mangelt es auch an den alten preußischen Sekundärtugenden: Robustheit, Zähigkeit und so fort“ (SZ) – „der Geist Völlers wird bleiben“ (FAZ) / „wir waren ein Volk der Rudisten“ (SZ) / „Völler konnte Prolet sein, dann wieder Gentleman, manchmal verletzend und auch verletzlich“ (FR) – wer bestimmt den Nachfolger? (NZZ)

Bieder, brav und durchschnittlich erschien diese deutsche Reisegesellschaft

Für Roland Zorn (FAZ/Seite 1, Leitartikel 25.6.) war das Vorrunden-Aus absehbar: „Ihre sportliche Schlußbilanz war ähnlich niederschmetternd wie im Jahr 2000, wo eine in sich zerstrittene deutsche Mannschaft zum Finale der Vorrunde an Portugals B-Elf scheiterte. Wer also A sagt im deutschen Fußball, muß B fürchten – und das zwei Jahre vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land. Für die haben sich die Gastgeber immerhin schon von vornherein qualifiziert. In Europa sind die deutschen Fußballgrößen wieder einmal nicht angekommen, und so bleibt ihnen nur der billige Trost, sich immer noch Weltmeisterschaftszweiter nennen zu dürfen. Was der Mannschaft aber vor zwei Jahren in Korea und Japan glückte, war eher den günstigen Umständen geschuldet, als daß selbst verblendete Fans hätten jubeln können: „Wir sind die Zweitgrößten!“ Ein wirklichkeitsgetreues Spiegelbild dessen, wo der deutsche Fußball steht oder stehengeblieben ist, bot diese Europameisterschaft. Wo andere Mannschaften zügig, beherzt und einfallsreich ihre Möglichkeiten offensiv ausschöpften, verharrte Völlers Aufgebot langsam, freudlos und ideenarm im Reformstau. So wie in der deutschen Politik und Wirtschaft manches nur mühsam vorankommt, bewegt sich auch der Fußball in Deutschland kaum vom Fleck. Die Bundesliga, auch einmal ein internationales Aushängeschild, gehört schon längst nicht mehr zu den global gesuchten Adressen, die Nationalmannschaft deutet nur gelegentlich an, daß auch das Land der Renner und Kämpfer keine talentfreie Zone bleiben muß. In Portugal haben junge Spieler wie Lahm, Schweinsteiger und Podolski zumindest die Sehnsucht nach dem Aufschwung mit neuen Kräften beflügelt, doch ob die besten deutschen Nachwuchsprofis mit denen anderer, zur Zeit größerer Fußball-Nationen Schritt zu halten vermögen, ist längst nicht ausgemacht. Gerade das Turnier in Portugal mutet wie eine europäische Entdeckungsreise an, bei der Fußball-Liebhaber fündig wurden wie lange nicht mehr. Der Engländer Rooney, der Portugiese Ronaldo, der Schwede Ibrahimovic verquicken frühreife Klasse mit der unbeschwerten Lust und Neugier der Jugend, sich immer forscher in die große weite Welt des Fußballs voranzuwagen. Die Deutschen dagegen gebärdeten sich wie so oft auf ihren internationalen Dienstreisen: abgeschottet und isoliert. Bieder, brav und durchschnittlich erschien diese Reisegesellschaft, angeführt von einem redlichen Teamchef, der als Spieler ein Draufgänger war, als Trainer jedoch lediglich an einer Episode im deutschen Fußball mitschrieb. Völler hat nach dem untauglichen Versuch mit seinem Vorgänger Erich Ribbeck zumindest das Klima rund um die Nationalmannschaft wieder aufgehellt – abgesehen davon, daß ihm in Korea und Japan auch ein sportlicher Erfolg ohne Tiefenwirkung vergönnt war.“

Neuerdings mangelt es auch an den alten preußischen Sekundärtugenden: Robustheit, Zähigkeit und so fort

„Die Fußballnationalmannschaft sollte eigentlich Lokomotive des gesellschaftlichen Aufschwungs werden“, betont Thomas Kistner (SZ/Politik 25.6.): „Der deutsche Fußball ist nicht mehr geeignet, höheren Ansprüchen zu genügen. Gestaltungskraft und Inspiration besaß er nie, neuerdings mangelt es auch an den alten preußischen Sekundärtugenden: Robustheit, Zähigkeit und so fort, die jahrzehntelang als deutsch gerühmt und von den Fußballteams in aller Welt gefürchtet wurden. Fatal aber ist das Scheitern der Nationalelf auf der Grundstufe des europäischen Fußballs wie üblich für die Stimmung im Land. Schon vor vier Jahren hatte die Elf mit ihrem sieg- und ruhmlosen Abgang bei der EM in Holland/Belgien das ganze Land beleidigt. Düstere Gedanken geisterten durch die Medien, ob sich im Fußball nicht der Zustand der Gesellschaft spiegele: Bewegungsarmut, Denkfaulheit, Dumpfbackigkeit? Der Kanzler witterte die Gefahr, erhob die WM-Bewerbung für 2006 sogleich zur Chefsache. Und Schröder machte klar: So etwas dürfe sich nicht wiederholen. Nun ist der Spuk zurückgekehrt, der Fußball steht immer noch dort, wo ihn der damals ja ohne Überlegung akquirierte Nothelfer Rudi Völler (der kein ausgebildeter Trainer ist) übernommen hatte. Deshalb gilt der Rückschlag von Portugal besonders der riskanten Brot-und-Spiele-Politik, die Kanzler und Innenminister seit Beginn ihrer Regierungszeit gepflegt haben: Die Fußballnationalmannschaft sollte Lokomotive des gesellschaftlichen Aufschwungs werden, sportliche Erfolge sollten die rauen Realitäten der Agenda 2010 emotional begleiten. Das war der Plan – und kein so schlechter. (…) „Die Nationalmannschaft ist Deutschlands Stolz“, rief Schröder in Yokohama, und Deutschland feierte seine WM-Zweiten wie Weltmeister. Da war, dass der Kanzler dem Vorrunden-K.-o. der Nationalkicker am Donnerstag eine eigene Pressekonferenz widmete, wohl unausweichlich. Es weist den Fußball als Kernbestandteil der Regierungspolitik aus.“

Dieser Mannschaftsgeist, der Geist Völlers, wird bleiben

Michael Horeni (FAZ 25.6.) ist baff: „So überraschend, wie Rudi Völler kam, ist er auch wieder gegangen. (…) Völler vollzog seinen Rücktritt mit Stil und Souveränität. Er darf sich des Respekts im Fußball-Land sicher sein. Völler ging mit der menschlichen Größe und einer für das Fußballgeschäft unüblichen Bescheidenheit, die ihn seit Jahrzehnten zu einem Liebling der Deutschen macht. Er ging ein wenig traurig, und auch die Deutschen werden ihrer „Tante Käthe“ eine Träne nachweinen. Seine Abschiedsvorstellung in aller Öffentlichkeit und in aller Offenheit dürfte als der stärkste deutsche Auftritt bei dieser EM in den Erinnerungen haften bleiben. (…) Mit seinem Rücktritt, der selbst die engsten Mitarbeiter überraschte, stellte sich Völler auch ein letztes Mal vor eine Mannschaft, die sich auf die Loyalität eines Teamchefs in jeder schweren Stunden verlassen konnte – und deren gab es nach dem Finale der Weltmeisterschaft einige. Nachdem Völler bei seiner legendären Fernsehattacke voriges Jahr als wütender Schutzpatron seines Teams aufgetreten war, wäre es nun bei der Europameisterschaft an der Mannschaft gewesen, dem Teamchef das Vertrauen zurückzuzahlen. Sie war dazu nicht in der Lage. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht konnte. Das wird ihr der Teamchef verzeihen können. Geschmerzt hätte ihn, wenn sie sich nicht wenigstens als willige Einheit präsentiert hätte. Dieser Mannschaftsgeist, der Geist Völlers, wird bleiben – auch wenn der Bundestrainer Ottmar Hitzfeld heißt.“

Wir waren ein Volk der Rudisten

Ludger Schulze (SZ 25.6.) dankt Rudi Völler: „Es sind viele Sätze gefallen, die im Journalisten-Auditorium untypische Betretenheit auslösten, die Stecknadel-Stille, kein Gelächter, kein Gewispere, keine Zwischenrufe, waren deutliche Anzeichen, dass hier nicht nur der Rücktritt irgendeines Fußballtrainers Thema war. Es war der unheimlich starke Abgang eines Mannes, der Ressort-Verantwortung übernahm, auch für Unzulänglichkeiten, die keinesfalls ihm persönlich anzulasten sind. Rudi Völler hatte ein feines Gespür für die Situation entwickelt. Seine ungebrochene Popularität, die sympathisch-perfekte Außendarstellung hätten ihn – und somit seine Mannschaft – letztlich nicht davor bewahrt, am kläglichen Ausscheiden bei dieser EM gemessen zu werden. Es wäre eine Hypothek gewesen, die man ihm jedes Mal vorgerechnet hätte, wenn irgendein Problem im Hinblick auf 2006 aufgetaucht wäre. Völler hat deutlicher vor Augen gehabt als seine Vorgesetzten, dass seine Mittel zur Gegenwehr erschöpft waren. Ein frischer, unverbrauchter Mann aber ist zunächst einmal unangreifbar, vielleicht sogar lange genug, um die zwei Jahre bis zum Tag X, dem Auftaktspiel der WM in Deutschland, für einen Neuaufbau zu nutzen. Rudi Völler gebührt nicht nur Respekt, er verdient auch Dank. Als er die Nationalelf im Jahr 2000 übernommen hatte, lag vor ihm ein Trümmerfeld aus Unfähigkeit, Neid, Desinteresse, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Binnen kürzestem hat er es dank seiner Integrationskraft fertig gebracht, aus der verprellten, misslaunigen Fußballnation ein Volk der „Rudisten“ zu machen, treue Gefolgsleute seiner selbst und der Spieler selbst in der Niederlage. Er hat einen Generationswechsel eingeleitet und bei der WM 2002 mit geringen Mitteln Optimales herausgeholt. Die Millionario-Debatten im Land sind weitgehend verstummt, die allgemeine Stimmung ist: pro Fußball. Mit Recht verweist Rudi Völler darauf: „Ich hinterlasse eine intakte Mannschaft, ein intaktes Umfeld.““

Zu innig hat Völler der alten Garde vertraut, zu zaghaft hat er bei der EM auf neue Kräfte gesetzt

Was hat Völler erreicht, Andreas Lesch (BLZ 25.6.)? „In gewisser Weise ist Völler ein Rätsel geblieben – auch wenn er stets so kumpelhaft zwinkerte. Als Völlers erstes Verdienst darf gelten, dass er den Ruf der deutschen Auswahl gerettet hat – allein durch seinen Amtsantritt im Jahr 2000. Die hoch bezahlten Kicker waren nicht mehr vermittelbar damals, der Boulevard druckte große Mannschaftsfotos mit einem eindeutigen Auftrag: „Rausreißen! Zerknüllen! Wegschmeißen!“ Völler, der Mann für die Massen, gab dem Team ein neues Gesicht: seines. Auch intern gelang es ihm, das Klima zu ändern. Unter Völler sind die Spieler wieder gern zum Nationalteam gekommen, sie haben sich wohlgefühlt. Völler hat niemanden fallen lassen, er hat ein ausgeprägtes Treuepunkte-System gepflegt. Doch da begannen auch seine Fehler. Zu innig hat Völler der alten Garde vertraut, zu zaghaft hat er bei der EM auf neue Kräfte gesetzt wie Ernst und Podolski. Man kann Völler nicht vorwerfen, dass er sich nicht gebessert hätte. Er hat sich immer als ein Lernender erwiesen, bis zum letzten Tag seiner Amtszeit. Herausgekommen ist in Portugal trotzdem nur Zeitlupensport, und diese Tatsache zeigt, wie schwer Völler zu schleppen hatte an den Altlasten des deutschen Fußballs. So lange hat der nationale Verband seine Sportart träge verwaltet, so konsequent hat er alle Neuerungen verschlafen, dass es nicht verwunderte, welche Parallele man zog: die zwischen dem Reformstau im Sport und dem in der Politik. Völler hat die Probleme gemildert, die sich daraus ergaben, er hat das Team verjüngt. Trotzdem wird auch sein Nachfolger mit den Spätfolgen der alten Fehler zu kämpfen haben.“

Nicht einmal dieses Vergnügen Ihrer Demontage haben Sie uns gegönnt

Andreas Platthaus (FAZ/Feuilleton 25.6.) wundert sich über Rudi Völlers Wendigkeit: „Respekt, Rudi! Oder sollten wir lieber sagen: Respekt, Herr Völler! – nachdem wir uns am Fernsehbildschirm über die letzten zwei Wochen doch arg auseinandergelebt haben? Ganz im Gegensatz übrigens zu jenen seltsam beduselt-feisten deutschen Fans, unter die sich der ZDF-Reporter Dieter Nuhr unmittelbar vor der entscheidenden Auseinandersetzung mit den Tschechen in Lissabon gemischt hatte. Denen fiel außer „Es gibt nur einen Rudi Völler!“ gar kein Schlachtgesang mehr ein, kein gutes Wort für Kahn und Konsorten, nur steter Jubel für den Teamchef. Jetzt haben sie keinen Rudi Völler mehr, und andere Leute müssen sich graue Locken über die Frage wachsen lassen, wie man aus der Misere des deutschen Fußballs wieder herauskommt. Mit Ihrer Resterampe ging es bei der Europameisterschaft konsequent nach unten, denn der Star war längst nicht mehr die Mannschaft, der Star waren einzig und allein Sie. (…) Es ist famos, wie nun die Niederlage in Ihren persönlichen Triumph umgedeutet werden wird, weil es Ihnen gelungen sei, sich dem Schlamassel rechtzeitig und mit Würde zu entziehen. Das paßt zur Stimmung im Lande: Alle jammern, aber jeder stiehlt sich aus der Verantwortung. Wo bleibt da die Katharsis? Hätten Sie nicht den Anstand besitzen können, noch zwei Wochen auszuharren, bis die Presse Sie sturmreif geschossen hätte, um dann zornbebend den Recaro-Sitz zu räumen? Nicht einmal dieses Vergnügen Ihrer Demontage haben Sie uns gegönnt.“

Er hat Schwächen mit Charakter wettgemacht

Michael Maier (Netzeitung) ergänzt: „Völler ist ein ehrlicher Kerl. Er hat versucht, das Heil der Deutschen in der Defensive zu suchen. Dies ist nicht nur ein deutsches Fußballproblem. Es ist vielleicht das Hauptproblem der deutschen Gesellschaft insgesamt. Da wird viel gemauert, aber Stürmer, die nach vorne gehen, sind eine Seltenheit. Völler hat erkannt, dass er das Problem nicht lösen kann. Er hat die Konsequenzen gezogen – schnell und kompromisslos, wie man es sich von manch gescheitertem Politiker oder abzockendem Manager wünschen würde. Rudi Völler hat auch in der Niederlage Größe gezeigt. Sein Abschied erfüllt mit Wehmut. Völler war gerade in seiner Unvollkommenheit ein Vorbild. Er hat Schwächen mit Charakter wettgemacht. So erwies sich Tante Käthe als Persönlichkeit mit Stil.“

Er konnte Prolet sein, dann wieder Gentleman, manchmal verletzend und auch verletzlich

Jan Christian Müller (FR 25.6.) hat Völler liebgewonnen: „Deutschland wurde unter seiner Führung versehentlich Vize-Weltmeister. Eine glückliche Fügung des Spielplans und Völlers Menschenführung vor allem. Denn diese Mannschaft besaß weniger Potenzial für die Zukunft als das aktuelle Team, in dem beim Schlusspfiff gegen Tschechien vier Männer auf dem Feld standen, die noch für die U 21 spielberechtigt waren. Völler ließ die Jungen weniger aus Überzeugung als aus purer Not und gar Verzweiflung heraus auf den Platz. Er ist beileibe kein Visionär. Aber jeder wusste bei seinem Amtsantritt ja auch, dass Völler sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, vor der eigenen Haustür den Kurzlehrgang zum Fußballlehrer für verdiente Nationalspieler zu absolvieren. Er war kein Meister der modernen Fußballtaktik, aber er war Innen- und Außenminister, er war Informations- und Familienminister. Er hat die Mannschaft gleichermaßen struktur-konservativ und sozialdemokratisch geführt. Er konnte Prolet sein, dann wieder Gentleman, war oft jähzornig, manchmal verletzend und war auch verletzlich. Er ist ein Fußballer. Und es ist schade, dass er nicht mehr da ist.“

Völler sind langsam die Argumente ausgegangen

Michael Horeni (FAZ 25.6.) überlegt: “Vor allem die nähere Zukunft glaubte Völler ohne den Rückhalt einer überzeugenden EM nicht durchstehen zu können, zumindest, nicht unbeschadet. „Es stehen schwierige zwei Jahren bevor, in denen es nur Freundschaftsspiele gibt“, sagte er. Und er meinte damit, daß ihm die Argumente auszugehen drohten, eine Mannschaft zu schützen, die sich in den vergangenen zwei Jahren zwar verjüngte, aber nicht verbesserte. Die öffentliche Unterstützung, gestand Völler, sei auch schon vor der EM gebröckelt, als Niederlagen wie das 1:5 in Rumänien und das 0:2 gegen die Ungarn nicht nur das Ansehen der Nationalelf schmälerten, sondern auch die Akzeptanz des Teamchefs. Ihm wurden immer häufiger taktische Versäumnisse vorgeworfen, denen er vor dem Turnier noch mit dem zweiten Platz bei der WM und den Aussichten bei der EM begegnen konnte. Diese Argumentationshilfe ging mit der Niederlage gegen die B-Auswahl der Tschechen verloren. „Es war nicht das Debakel wie vor vier Jahren. Aber was weh tut, da bin ich ganz ehrlich: Wir haben ja nicht gegen die erste Mannschaft von Tschechien gespielt. Das ist dann doch zu wenig“, sagte Völler – und sprach damit wohl den letzten und entscheidenden Punkt in seinen verschiedenen Vorab-Szenarien an. Der Teamchef war auch so ehrlich zu bekennen, daß er sich in den schwierigen Jahren nach der WM („die sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen“) selbst eine wichtige Option in der öffentlichen Verteidigungsrede genommen hatte: mit seinem Ausbruch im Fernsehen im vergangenen Jahr auf Island. So etwas könne man nur einmal machen, sagte Völler. „Da hatte ich mein Pulver verschossen.“ Er sei noch ein paar Mal kurz davor gewesen, aus der Haut zu fahren, habe es sich aber nicht mehr leisten können.“

Hitzfeld wollte eigentlich ein Jahr pausieren

Für wen entscheidet sich der DFB, Philipp Selldorf (SZ 25.6.)? „Ottmar Hitzfeld weiß, worauf er sich einlässt. Er kennt die Auswahl der Spieler, die er als Nationaltrainer betreuen würde, mit einigen hat er lange gearbeitet. Und das Programm bis zur WM ist ihm auch bekannt, es ist problematisch genug: Abgesehen vom Konföderationen-Cup im Sommer 2005 in Deutschland gibt es keine Spiele mit Wettkampfcharakter mehr. Dafür zwei Länderspieltourneen, die erste in Asien ab Mitte Dezember 2004 – wenn eigentlich kein Bundesligaprofi mehr gegen den Ball treten will. Die zweite 2005 in Südamerika. Von der Illusion, vor der WM mehr Zeit für seine Nationalspieler zu bekommen, sie in tagelangen Trainingslagern einzustimmen, hatte sich Völler schnell verabschiedet. Zwar besteht an der WM ein nationales Interesse, aber die Klubinteressen sind noch wichtiger. „Gibt“s ja gar nicht, geht ja gar nicht. Ist ja Champions League und Bundesliga. Wie sollte das gehen?“, fügte in Lissabon Michael Ballack an. Aber was passiert, wenn Hitzfeld, doch nein sagen sollte? Nach der Trennung vom FC Bayern bekannte er seine Müdigkeit vom Traineralltag („Mein Körper ist wie ausgesaugt“) und wollte eigentlich ein Jahr pausieren. Mayer-Vorfelder versprach gestern morgen, er werde sich die Zeit und die Ruhe nehmen, die richtige Wahl zu treffen. Vielleicht ist ihm ja noch das Desaster in Erinnerung, das 1998 zur Bestellung von Erich Ribbeck (ebenfalls folgenschwer) führte. DFB-Chef Egidius Braun wollte damals im Laufe einer irrlichternden Trainersuche sogar Paul Breitner verpflichten. Die Zusage hatte er schon – bis er am nächsten Tag ein Interview Breitners empfing, in dem dieser die DFB-Crew für unfähig erklärte.“

Wer bestimmt den Nachfolger, Martin Hägele (NZZ 25.6.)? „Mit ziemlicher Sicherheit hat das Wort von Franz Beckenbauer den Rehabilitationsprozess von Daum genauso wie den Deutschland-Traum des Herrn Rehhagel beendet. „Es gibt nur einen, der es richten kann – Ottmar Hitzfeld“, so Beckenbauer, der in diesem Fall wirklich als Fussball-Kaiser von Deutschland spricht. Beckenbauer hat die WM nach Deutschland geholt, es ist also seine WM, demnach bestimmt auch der Captain der 74er Champions, wer für die sportliche Repräsentation der dreimaligen Welt- und Europameister zuständig ist. Dass bis dahin noch ganz viel passieren muss, der Neue nach Völler mehr Trainer als Motivator sein muss und ob man sich vielleicht nicht doch lieber auf ein System verlässt, statt die Mannschaft nach den Begabungen der elf Besten auszurichten, all das wird in den nächsten Wochen zu diskutieren sein. Oder ob es die Kicker aus der Bundesliga ganz einfach nicht besser können, als sie in Portugal gezeigt haben. Für ein paar Tage sind die dringendsten Probleme des deutschen Fussballs aufgeschoben, diese Diskussion, die vielen wehtun wird. So lange, wie Deutschland noch nach einem Bundestrainer sucht.“

Dass er mit sehr jungen Leuten den Erfolg sucht, lässt sich von Hitzfeld nicht wirklich behaupten

Ludger Schulze (SZ 25.6.) ergänzt: „Den unter einem schwindenden Stellenmarkt bitter leidenden Zeitungen wäre mit einer großformatigen Anzeige geholfen, die ungefähr folgenden Inhalt haben könnte: „Fußball-Fachverband von Weltformat sucht schnellstmöglich erfahrenen Trainer für seine Auswahlmannschaft. Das Aufgabengebiet umfasst im Hinblick auf die WM 2006 die Hinführung zur Weltklasse und den Titelgewinn im eigenen Land.“ Leider müssen die Verlage auf die Einnahme verzichten, Inserieren überflüssig, weil die Entscheidung schon so gut wie gefallen ist. Ottmar Hitzfeld wird, falls nicht unvermutete Differenzen bei den Gesprächen mit dem DFB auftauchen, Nachfolger von Rudi Völler werden. Das ist sein eigenes, häufig schon veröffentlichtes Berufsziel, das ist der Wunsch von Franz Beckenbauer, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Fußball-AG Deutschland. Und dessen Wunsch ist hierzulande Befehl, zumal da es sich bei ihm um den Oberchef der gesamten WM handelt. (…) Dass er mit sehr jungen Leuten den Erfolg sucht, lässt sich von Hitzfeld nicht wirklich behaupten. In kritischen Situationen mit dem FC Bayern hat er stereotyp neue Stars gefordert. Da kann er bei der Nationalelf lange rufen, da wird gegessen, was auf den Tisch kommt – und mit denen gespielt, die gerade da sind. Demnächst hat Ottmar Hitzfeld eine weitere Stufe seiner beruflichen Karriereleiter erklommen, und es ist ihm zu wünschen, dass er in zwei Jahren am Gipfel angekommen sein wird.“

Matti Lieske (taz 25.6.) sagt leise Tschüss: „“Rudi hat die Nase völler“, würden englische Gazetten mit ihrem Hang zur Namensverballhornung wohl den leicht überraschenden Rücktritt des deutschen Teamchefs betiteln, den dieser gestern Morgen erklärte. Am Abend des Abschieds von dieser EM hatte Rudi Völler noch signalisiert, dass er gern bis zur WM 2006 weitermachen würde. Doch Völler ist ein Mann des Fußballs. Seit früher Jugend bewegt er sich in dieser seltsamen Welt, und er hat die Mechanismen der Branche komplett verinnerlicht. Zu diesen gehört, dass ein Scheitern in der Vorrunde eines großen Turniers quasi automatisch den Abschied des Verantwortlichen bedeutet. Das war bei Jupp Derwall 1984 so und bei Erich Ribbeck vor vier Jahren.“

Ich weiß noch nicht, wo ich hingehe, wann ich irgendwo hingehe und ob ich überhaupt irgendwo hingehe

Philipp Selldorf (SZ 25.6.) fragt sich, wer 2006 im deutschen Kader steht: „Schweinsteiger reiste auf Ticket Nr. 23 nach Faro, er verdankte seinen Platz der Verletzung Paul Freiers. Am Ende war er neben Michael Ballack die spielbestimmende Figur in der Partie gegen Tschechien. Er tauchte überall dort auf, wo die anderen sich versteckten. Die anderen: Torsten Frings, dessen Form im Laufe der drei Spiele ins Bodenlose, irgendwo in der Nähe des Erdmittelpunktes stürzte. Dietmar Hamann, dem der Nachrichtendienst sid bereits nach dem Lettland-Spiel „die Entdeckung der Langsamkeit“ bescheinigte – im Tschechien-Spiel sah es sogar aus wie die Entdeckung der Zeitlupe. Bernd Schneider, der sich mühte und rackerte, aber mit seinen Dribblings so oft am erstbesten Bein hängen blieb, dass man das Mitleid bekam. Jens Nowotny, der geradewegs aus der Senioren-B-Mannschaft hinzugekommen sein könnte. Von den Routiniers im Angriff nicht zu reden: Fredi Bobic, ein Fossil aus den Achtziger Jahren des Fußballs, der zappelige Thomas Brdaric, Miroslav Klose, der bei der WM 2002 entdeckt wurde und gleich danach wieder verloren ging bis zur Verschollenheit. Klose, ein Talent zweifellos, gab seine moralische Verfassung bei diesem Turnier exakt wieder, als er nach dem Tschechien-Match auf die Frage antwortete, ob er nun heimwärts fahren oder vielleicht in Portugal urlauben werde: „Ich weiß noch nicht, wo ich hingehe, wann ich irgendwo hingehe und ob ich überhaupt irgendwo hingehe.“ Weil Klose sich als verwirrt, Bobic als indiskutabel und Brdaric als untauglich erwiesen hatten, sollte Lukas Podolski die Fußballnation retten. Völler sagte ihm zur Pause: „Mach dein Spiel, das du immer spielst, geh vorne rein.“ Fast hätte es geklappt. (…) Der Kapitän will auch in zwei Jahren noch im Tor stehen. Dann ist er stattliche 37 Jahre alt, aber das ist nicht der Grund dafür, dass er ein Plädoyer für die alten Größen des deutschen Fußballs hielt, Spieler wie Nowotny, Wörns, Schneider und Hamann, die allesamt bis zur WM weiterspielen möchten. „Es wird jetzt sicherlich wieder Leute geben, die nach jungen Spielern schreien“, sagte Kahn, „aber wo kommen die denn eigentlich her? Die wachsen ja nicht auf Bäumen.“ Gefragt, ob nun „ein Schnitt“ gemacht werde, wurde gestern auch Rudi Völler energisch. „Warne ich vor! Ganz klar!“, rief er resolut in den Saal hinein, „ich kenn ja die Hysterie: Wer jung ist und nicht auf den Baum kommt, muss ganz schnell in die Nationalmannschaft.“ So weiß nun keiner so recht, wo die zwischen Hysterie und Minderwertigkeitsgefühlen schwankende Fußballnation im internationalen Wettbewerb einzuordnen ist. „Irgendwo zwischendrin“, lokalisierte sie Nowotny, vielleicht in der Nähe von Kroatien und Belgien. „Es ist eng, Kleinigkeiten entscheiden“, glaubt der Pragmatiker Ballack. Und Oliver Kahn ahnt, dass solche Fragen auch auf dem kollektiven Gemüt lasten: „Man sollte jetzt einen Fehler nicht machen – sich zu arg ins Jammertal begeben.““

Was passiert jetzt mit Rudi Völler, Axel Kintzinger (FTD 25.6.)? „Was soll Rudi Völler, er ist ja erst 44 Jahre jung, jetzt eigentlich mit seinem Leben anfangen? Der übliche Weg wäre, nach einer gewissen Schon- oder Schamfrist, Trainer eines Bundesliga-Vereins zu werden. Nur: Bei Werder Bremen, wo er große Erfolge feierte, erfreut man sich derzeit an Thomas Schaaf. Und in Leverkusen, wo er seine Karriere ausklingen ließ, Sportdirektor wurde und zum DFB wegbefördert wurde, reüssiert momentan Klaus Augenthaler. Der FC Bayern hat justament Felix Magath verpflichtet, der dort am Montag mit dem Training beginnt. Und überhaupt: Völler darf gar nicht nur für einen Verein arbeiten, denn er ist schließlich Ruuuuudi Nationale, deutsches Allgemeingut also, der für keinen Klub Partei ergreifen darf. (…) Bliebe die Politik. Da gibt es Bedarf! Ganz oben. Zwar ist dort keine Stelle vakant, aber das ist schnell zu ändern. Gerhard Schröder, Teamchef einer ähnlich desolaten Mannschaft namens Bundesregierung, ist ausgebrannt. Weiß nicht mehr weiter, hat keinen Rückhalt mehr nirgendwo und eine Perspektive sowieso nicht. Der Mann klebt nur noch am Amt, weil es niemanden gibt, der den Job machen könnte.“

Ausgerechnet der Rudi, dem ich viel zu verdanken habe, schmeißt die Brocken hin

Michael Ballack (Welt 24.6.) ist enttäuscht von Rudi Völlers Rücktritt: „Um bei einer Großveranstaltung wie einer EM zu bestehen, muss man eine gewisse Klasse haben. Von der Einstellung her kann man niemandem einen Vorwurf machen, vor allem in der zweiten Hälfte haben wir am Mittwoch alles versucht. Aber wir haben es verpasst, im entscheidenden Moment eiskalt zuzuschlagen. Wir hatten unsere Möglichkeiten, haben sie aber nicht genutzt. Das ist der Unterschied zu den großen Mannschaften in Europa. Der Knackpunkt des Turniers war unser Auftaktspiel gegen die Niederlande. Sicherlich hört sich ein 1:1 gut an, doch wir hätten die beiden Punkte niemals abgeben dürfen. Bei einem Sieg hätten wir eine glänzende Ausgangsposition gehabt, unser Selbstvertrauen wäre deutlich größer geworden. (…) Der absolute Tiefschlag sollte allerdings noch folgen. Als ich gestern Morgen vom Rücktritt Rudi Völlers hörte, war ich niedergeschlagen. Ausgerechnet der Rudi, dem ich viel zu verdanken habe, schmeißt die Brocken hin. Rudi, der für mich eine Art Vater-Kumpel-Trainer-Figur war. Immer hatte er mir den Rücken freigehalten, er stand immer hundertprozentig hinter mir. Unter ihm habe ich meine besten Spiele gemacht. Das war eine doppelte Enttäuschung. Ich verstand die Welt nicht mehr, als ich von der Nachricht erfuhr. Ich kenne den Rudi gut, aber es gab in der Nacht keine Anzeichen dafür, dass er die Brocken hinwirft. Nach unserer Rückreise vom Spielort Lissabon nach Almancil an die Algarve hatte er noch eine Rede an uns gehalten. Er bedankte sich bei jedem Spieler, bei den Ärzten, bei den Physiotherapeuten und dem Rest der Crew für die Zusammenarbeit hier bei der Europameisterschaft. Als ich nach dem Frühstück dann informiert wurde, war ich total baff und enttäuscht. Jetzt ist Ottmar Hitzfeld im Gespräch. Sicherlich wäre er eine sehr, sehr gute Lösung, er war ja mein Vereinstrainer beim FC Bayern München. Er ist ein absoluter Fachmann, aber er ist ein anderer Typ als Rudi.“

Fußangeln und Gefahren

Roland Zorn (FAZ 25.6.) beschreibt, was Ottmar Hitzfeld erwartet: „Nachdem es nur einen Rudi Völler gab, scheint nun auch nur ein einziger Nachfolger in Sicht: Ottmar Hitzfeld. (…) Als Bundestrainer anzuheuern wäre für den Lörracher zwar „eine logische Folge“ der eigenen Karriereplanung, doch sie hätte ihren Preis. Keine andere deutsche Mannschaft wird von derart vielen kleinen „Bundestrainern“ begleitet wie die erste DFB-Auswahl; nirgendwo sonst werden unbefriedigende Ergebnisse selbst der unbedeutendsten Testspiele derart übelgenommen wie nach einem verrutschten Auftritt der Nationalmannschaft. Der Weg, den ein Bundestrainer zwischen fachlicher Anerkennung und persönlicher Verunglimpfung einschlagen muß, ist voller Fußangeln und Gefahren. Hitzfeld wird sich am Ende vermutlich einen Ruck geben und tun, was ihn schon lange reizt. Sagte er wider Erwarten ab, hätte der DFB ein Problem. Ein anderer deutscher Trainer, der in Frage käme, ist weit und breit nicht in Sicht. Dann müßte Gerhard Mayer-Vorfelder vielleicht allen Mut zusammennehmen und an einen ausländischen Bundestrainer denken. Das englische Eriksson-Modell ist, wie jedermann in Portugal sieht, höchst erfolgreich. Für Deutschland wäre vielleicht sogar ein lebenskluger Holländer zu begeistern: Guus Hiddink. Der hat schon einmal ein Fußball-Entwicklungsland nach oben geführt: Südkorea, den WM-Vierten von 2002.“

Rudi Völler im Wortlaut FR

sid-Interview mit Völler FAZ

Christian Zaschke (SZ 25.6.) hat den Schuldigen gefunden. Es ist, wer anders könnte es sein?, Carsten Ramelow: „Gerade zwei Jahre ist es her, da war Deutschland gespalten in der großen Carsten-Ramelow-Debatte. Manche wünschten sich den Verteidiger so sehr aus der Nationalmannschaft wie sie auf den Aufschwung hofften, auf besseres Wetter und einen Lottogewinn. Andere sagten, ist doch gut, wenn er mitspielt, lasst ihn doch, außerdem ist er sonst traurig. Dieses letzte Argument hat sich durchgesetzt, niemand konnte wollen, dass Ramelow traurig ist, nur weil er nicht mehr bei der Nationalelf mitspielen darf. Dann aber wurde Ramelow traurig, weil er bei der Nationalmannschaft mitspielen musste. Er trat zurück, und im Grunde hätte da jedem klar sein müssen, dass es nichts mehr werden kann bei der EM. Ramelow, der so vielen Anfeindungen getrotzt hat, der es zwischenzeitlich zum Symbol für den Rumpelfuß gebracht hatte und trotzdem bei der Nationalelf blieb, Ramelow also, der es schließlich geschafft hatte nach so vielen mühsamen Jahren, dass man sich an ihn gewöhnt hatte im Team – dieser Ramelow trat freiwillig zurück. Das war ein Zeichen, jeder konnte es sehen, ein Zeichen wie die Schwalben, die tief über das Wasser fliegen.“

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