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Völler hat das Kopfkissen konsultiert

Oliver Fritsch | Sonntag, 27. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Völler hat das Kopfkissen konsultiert

Was sagt Holland nach dem Erreichen des Halbfinals? if-Leser Henk Mees aus Holland fasst für den freistoss zusammen und übersetzt: „Wir gehen weiter”, jubelt De Telegraaf, Hollands einzige Nationalzeitung mit einer Sonntagsausgabe. Fast die ganze Titelseite ist dem Viertelfinale Holland gegen Schweden gewidmet. „Abgerechnet mit dem Penalty-Trauma”, „Robben Held auf dem Elfmeter-Punkt” und ,Van der Sar kaltblutig”, sind die Titel auf der ersten Seite. Robben und Van der Sar werden gefeiert als die ‘Erlöser von Oranje’. Valentijn Driessen schreibt: „Edwin van der Sar, der Torwart, dem in der Vergangenheit jeweils angekreidet wurde, dass er NIE ein Elfmeter halte, wurde der Held des Abends. Das Oranje-Fest, die Polonäse, begann, als Robben traf.” Der Berichterstatter vom Telegraf äußert herbe Kritik am Spiel. „Das Spiel von Oranje hatte nichts in der ersten Halbzeit. Die Mannschaft war kein Schimmer von der Elf, die gegen Deutschland in der zweiten Halbzeit, Tschechien (erste Halbzeit) und Lettland so gut aufspielte. Es wurde gespielt wie bei einem ordinären englischen Klug aus dem Mittelfeld; ohne Aufbau, nur mit Pässen in die Tiefe Richtung Van Nistelrooij. Typisch dabei war, dass die meisten Assists fur Van Nistelrooij von Torwart Van der Sar kamen.” „Nichts war in Ordnung im Mittelfeld mit Seedorf, Davids und Cocu. Manchmal sieht man noch wohl ein Phantom, aber Seedorf hätte ebenso gut in der Kabine bleiben können. Auffallend war, dass neben Van Nistelrooij, Robben und Reiziger drei eingewechselte Spieler die wichtigsten Kräfte waren.” „Keiner der Fans hatte Vertrauen in die Mannschaft bei der Elfmeter-Entscheidung. Sieerinnerten sich an die EM 1996, die WM 1998 und die EM 2000, als Holland nach Elfmeterschießen eliminiert wurde. Und Cocu verfehlte wie bei der WM 1998, aber dann gelang Edwin van der Sar sein Kunststück.” Auch im Telegraaf schreibt Jaap de Groot, wie Oranje sich gequält hat. „Die Erwartungen waren zu hoch. Die Elfmeter haben dies beschönigt. Oranje verfiel in alte Fehler: Das Spiel war zu defensiv, zu abwartend. Und von der Bank kam keine Korrektur. Es war wieder eine Mannschaft ohne Kopf und Schwanz.” Marco van Basten bestätigt: “Es fehlt der holländischen Mannschaft an Verteidigern, die offensiv spielen. Damit wird der Sturm kaltgestellt. Was gegen Lettland endlich gelang, offenbarte sich gegen Schweden als eine Ausnahme. Erst im Schluss sah man wieder die holländische Schule. Gerade noch gut gegangen.” Dick Advocaat sagt im Telegraaf, dass die Mannschaft ihm das Gefühl gegeben hatte, dass es jetzt endlich klappen wurde im Elfmeterschießen. ‚Der Geist war da. Man glaubte fest an den Erfolg. Vorher wussten wir nicht, wer den sechsten Elfmeter schießen würde. Das haben die Spieler unter sich entschieden, da ist Robben selbst nach vorne gekommen.” Zu Hause in Holland gab es gemischte Gefühle: Im National-Fernsehen NOS äußerte Johan Cruijff sich zurückhaltend: „Unser Spiel war nicht schlecht, aber auch weit von Gut entfernt. Man kann nicht sagen, dass wir überzeugend gesiegt haben, es wäre aber auch eine Traurigkeit gewesen, wenn diese Schweden sich für’s Halbfinale qualifiziert hätten. Fußballerisch waren die Schweden Null. Bei der holländischen Mannschaft sieht man, dass die Ergebnisse das Vertrauen stützen und die Gruppe wachsen. Portugal wird wieder anders sein. Man sieht Portugal an, dass der Trainer defensiv denkt. Er muss seine Elf immer in der zweiten Halbzeit anpassen.” Ex-Nationalspieler Ronald Koeman, der heutige Coach von Meister Ajax Amsterdam, äußerte sich kritisch. „Holland hat ohne rechtes Mittelfeld gespielt, weil Seedorf übers ganze Feld wanderte. Daher wurde Van der Meyde nie gut angespielt. Advocaat hätte das ändern können, als Frank de Boer ausscheiden musste. Manchmal bekommt ein Trainer die Chance, die Mannschaft neu zu ordnen bei einder Verletzung. Dies war eine solche Gelegenheit.” Im gleichen TV-Programm reagierte auch John de Mol sehr kritisch. De Mol ist Multi-Milliardär geworden mit seinem TV-Entertainment-Unternehmen Endemol, das Programme wie Big Brother produziert. Der Bruder von Linda de Mol war sehr böse. „Dieses Spiel war ein Drache. Was haben wir jetzt erreicht? Unentschieden gegen Deutschland, verloren gegen Tschechien, Unentschieden gegen Schweden, und nur ein Sieg uber Lettland. Nichts um zu prunken.”

Völler hat das Kopfkissen konsultiert

Wie sieht das Ausland den Rücktritt Völlers? In der spanischen Tageszeitung El País (25.6.) lesen wir: „Bei der zweiten EM in Folge hat es die deutsche Nationalmannschaft nicht geschafft, die zweite Phase zu erreichen. Mehr als das, ihr Rüstzeug erwies sich als trostlos, unfähig, wie sie war, auch nur eines der sechs Spiele, die sie ausgetragen hat, zu gewinnen. Drei Unentschieden und drei Niederlagen zählt die Nationalmannschaft, die die meisten kontinentalen Titel hält (drei). Der Vize der Weltmeisterschaft, in der er das Finale gegen Ronaldos Brasilien verlor, ist nur noch eine Anekdote. Und das erste Opfer hat bereits das Handtuch geworfen: Rudi Völler (…) Für eine Mannschaft wie Deutschland, mit einer fantastischen Welt- und Europameisterschafts-Historie, ist ein Ausscheiden in der ersten Runde unerträglich. So geschehen vor vier Jahren, nach einem ähnlichen Scheitern. Erich Ribbeck trat damals zurück, nachdem sie nicht eines der drei Spiele gewonnen und 3:0 gegen ein an Reservespielern überladenes Portugal verloren hatten. Die Geschichte hat sich wiederholt. Völlers Laufbahn in der Nationalmannschaft ist ziemlich untypisch für einen deutschen Trainer, Produkt der Improvisation und der unerwarteten Erfolge der Weltmeisterschaft 2002. Völler kam eher zufällig auf den Posten, ohne Lizenz und als Übergangslösung, ausgeliehen von seinem Club Bayer Leverkusen. Die Verwicklung des vorgesehenen Trainers Christoph Daum in einen Fall von Kokainkonsum ließ Völler auf den Posten, auf dem er mit einem hervorragenden 4:1 gegen Spanien sein Debüt gefeiert hatte. Jetzt wird Völler zur Mannschaft von Aspirin in Leverkusen zurückgehen können, wo der Posten des Sportdirektors seit dem Rücktritt des voluminösen Reiner Calmund frei geblieben war, der mit seinen über 150 Kilo darauf verzichtete, seine herzleidenden Eingeweide weiter auf die Probe zu stellen. (…) Nachdem er einmal über die Niederlage geschlafen hatte (wörtlich: nachdem er das Kopfkissen konsultiert hatte), kündigte er seinen Rücktritt an. Der Präsident des Deutschen Fußballbunds DGB (DFB, Fehler der spanischen Presse), Gerhard Mayer-Vorfelder, bedauerte Völlers Entscheidung und versicherte, dass er versucht habe, ihn zum Bleiben zu bewegen, ohne ihn überzeugen zu können. (…) Der Zurückgetretene hat den Posten mit Würde und wegen seines weißen Haares zwar welken, aber erhobenen Hauptes verlassen. (…) Der Guru des deutschen Fußballs, Franz Beckenbauer, erklärte, dass Völler der bestmögliche Trainer sei. (…) Laut Beckenbauer kann niemand Wunder vollbringen, „wer Wunder sehen will, muss zum Zirkus Krone gehen“.“

Der deutsche Sturz

El País (26.6.) hat keine Freude am deutschen Fußball: „Das Jammergeschrei in den deutschen Reihen, „Deutschland über alles“, entfesselte den Radau im Stadion von Alvalade. Die Fans hielten an der Nationalhymne fest, damit sich ihre Jungs angetrieben fühlten. Aber was die deutsche Mannschaft brauchte, war guter Fußball, und den hätte sie nicht einmal dann gespielt, wenn sie Bach über Megaphon gehört hätte. So viele Ecken sie auch traten, so viele Konter sie abfingen, so viele Schüsse aus der zweiten Reihe und Flanken aus dem Nichts sie auch versuchten, wurden die Deutschen schließlich doch weich gegenüber einer Nationalmannschaft, die in der Europameisterschaft die große Neuerscheinung ist. Es war eines dieser Spiele mit Würze und Unterhaltungswert, wie sie in diesem Turnier so oft vorkommen: Die Tschechen wussten nicht, ob sie Spaß haben, spekulieren oder sich in jeder Aktion die Füße wund spielen sollten, weil ihnen nicht klar war, ob sie spielten, um sich zu qualifizieren, zu konkurrieren oder sich auf dem Sommermarkt zur Schau zu stellen. (…) Völlers Jungs müssen sich komisch gefühlt haben, als sie merkten, dass die tschechische Reservebank ihnen den Ball geraubt hatte. Nowotny, Hamann, Ballack, die ganzen Veteranen, verloren den Ball und wichen zurück. (…) Hamann, Nowotny und Ballack, das Fundament der deutschen Mannschaft, sind drei nicht definierbare Spieler. Die ersten beiden sind glatt, sie wirken wie Produkte vom Fließband. Der letzte ist genauso, nur geschickter. Ebenso begabt, ebenso muskulös, aber akrobatischer. Es handelt sich um einen vorgegaukelten Spielmacher, einen falschen Reeder, eine getarnte Nummer neun im Mittelfeld, die sich mit Service-Personal umgibt. (…) Mit diesem Schema ist der unbesonnene Schweinsteiger letztlich nicht in Einklang zu bringen. Aber im Endeffekt fängt das ganze Team, die ganze Maschinerie auf unerschütterliche Weise bei Ballack an und hört bei Ballack auf. Langer Ball in die Mitte, Pass zurück, Abschluss; langer Ball in die Mitte, Pass zurück, Abschluss – am besten mit dem Kopf. Mit dem Fuß sind die neuen Deutschen für gewöhnlich nicht so präzise wie die alten. Die Funktionsweise der neuen deutschen Mannschaft klappt, bis die Mannschaft nicht mehr den Ball hat. Sie hat einen Schwachpunkt: Fußball funktioniert nur, wenn es einen Spieler gibt, der ein paar Sachen kann, die der Beruf verlangt. Ballack bewies dies mit dem Tor, das seine Mannschaft in Führung brachte. Ein traumhafter Schuss mit links von außerhalb des Sechzehners. Der Ball schoss wie eine Rakete in den rechten Winkel von Blazek. Aber was ist an dem Tag, an dem Ballack nicht spielt? (…) Jeremies, der ins Spiel kam, um Ballack zu unterstützen, ist nach wie vor eine schlechte Unterstützung. Die Mannschaft hat niemanden, der einen Pass in die Lücke spielt, und keinen, der eine Abwehrreihe sprengt. So kam es, dass der einzige Ausweg, den die Deutschen sahen, um ans Tor zu kommen, ihr Mittelfeld, die Fouls und die Ecken waren. Aber es gab kein Wunder. Nur Glaube, Glaube ohne Spiel, und eine Krise, die der Vizeweltmeister nur zu vergrößern beitrug. Das Tor des gut aussehenden Baros, nach einem Fehler von Kahn, begrub alle Hoffnungen. Deutschland, das große Deutschland, beendete die EM mit nur zwei Toren und ohne auch nur ein einziges Spiel zu gewinnen.“

Deutschland hat weitgehend versagt, mit der Zeit Schritt zu halten

Paul Hayward (Telegraph 24.6.) ist am Zug: „Nicht einmal die elf halbnackten Frauen auf der Titelseite des Skandalblatts Bild konnten Deutschland vor der Auflösung abhalten. (…) Wenigstens sind die Deutschen in guter Gesellschaft: Spanien und Italien sind bereits nach Hause gefahren. Aber die Statistiken sind vernichtend. (…) Das ist das zweite Mal in Folge, dass Deutschland nach der Vorrunde einer EM ausscheidet – eine der großen Erniedrigungen in der Fußballgeschichte Deutschlands. (….) Deutschlands Schwäche ist einfach auszumachen: das Fehlen eines zuverlässigen „Knipsers“. Seit Oliver Bierhoff (37 Tore) seinen Abschied genommen hat, gab es einen beklagenswerten Mangel an Torschützen wie Gerd Müller, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann, Karl-Heinz Rummenigge und Uwe Seeler. (…) Die Deutschen haben es nicht geschafft, einen erstklassigen Stürmer aufs Feld zu bringen, außer als Völler über die Seitenlinie schritt und von dem vierten Offiziellen strikt gerügt wurde. Deutschland hat weitgehend versagt, mit der Zeit Schritt zu halten.“

Griechen stürzen hilfloses Frankreich

Henry Winter (Telegraph 26.6.): „Die Franzosen wissen alles über das Stürzen der Aristokratie, aber letzte Nacht waren sie nach einem spektakulären Aufstand auf der Seite des Verlierers. Der amtierende Europameister wurde von übertüchtigen und gut organisierten Griechen geschlagen. Die Etablierten bekommen hier draußen einiges zu spüren.“

Trotziger Eriksson will nichts ändern

Glenn Moore (The Independent 26.6.) über das Machtgefüge im englischen Team: „Englands Fußballer kamen gestern von der EM nach Hause zurück – und zwar geschlagen, aber auch herausfordernd. Sven Goran Eriksson, der Trainer, besteht darauf, dass er in Zukunft nichts verändert haben möchte. David Beckham, der Kapitän, möchte auch weiterhin Elfmeter schießen. Der Fußballverband, Erikssons Arbeitgeber, bestätigte die feste Position des Trainers. Eriksson über Beckham: „Ich habe David schon besser für uns spielen sehen, aber er wird für das nächste Spiel und auch für die kommenden Spiele für uns auf dem Platz stehen. Er ist sehr, sehr wichtig für uns.“ Der Coach weiter: „Zu den Elfmetern: Ich sprach gestern morgen zu David und sagte: „Wenn wir heute einen Elfer zu schießen hätten, wer sollte den schießen? – ‚Ich natürlich’, antwortete David. Wir werden sehen. Ich habe Zeit bis zum nächsten Testspiel im August um darüber nachzudenken.“

Sündenbock Meier

Cahal Milmo (The Independent 26.6.) über Englands Staatsfeind Nr.1: „Urs Meiers Ehrgeiz für die EM 2004 war bescheiden. Vor der EM gab er von sich: „Das Ziel für mich bei dieser EM wie auch bei allen großen Turnieren ist immer dasselbe – keinen Fehler machen und dann mit erhobenem Haupt wieder nach Hause fahren.“ (…) Der Vater von zwei Kindern, der eine Vorliebe für Sport und Wein besitzt, ist nun der neue Sündenbock der Fußballnation England. (…) Der Independent fand heraus, dass eine gewisse Zeitung ihre Reporter zum Haus von Meier schicken will, um dieses in eine riesige britische Flagge zu hüllen.“

of: Spielen Engländer ein anderes Spiel? Liegt es daran, dass ihr Erfolg begrenzt ist? Richtig ist, dass sie ein anderes Regelverständnis haben als der Rest der Welt. Das belegt die (ohnehin überflüssige) Diskussion um die Entscheidungen Urs Meiers. Der Ärger der englischen Journalisten richtet sich auf die Aberkennung des Tores Sol Campbells – zu Unrecht, denn es war ein eindeutiges Foul an Portugals Torhüter im Torraum; allerdings würde es kein Premier-League-Referee ahnden. In England ist das normale Härte. Aber: Warum regt sich keiner über das Foul an Wayne Rooney auf? Sein Gegenspieler hat ihm dabei den Mittelfuß gebrochen, Ronney aber, ein echter Engländer, ließ sich nicht fallen. Auch elfmeterreif bedeutet in England etwas anderes.

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