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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Der CEO des deutschen Fußballs

Oliver Fritsch | Sonntag, 23. April 2006 Kommentare deaktiviert für Der CEO des deutschen Fußballs

Sehr lesenswert! Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (FAS/Politik) anerkennt die Rationalität Jürgen Klinsmanns und empfindet den Schmerz nach, den sein Handeln einem Mitglied der deutschen Fußballfamilie zufügt: „Klinsmann hat dem deutschen Fußball die altertümliche Kicker-Folklore ausgetrieben und ihn endlich globalisierungstauglich gemacht (…) Klinsmann ist wenig vom Liga-Geschäft mitgenommen und bringt ein geradezu atemraubend jugendliches, ja jungenhaftes Erscheinungsbild mit in das Amt. Aber er ist nicht der Dorian Gray des deutschen Fußballs. Oder besser: Er ist es – aber zu dem großen netten Jungen ist ein auf den ersten Blick Unsichtbarer hinzuzudenken, der ganz genau sieht, was alle gerne übersehen oder besser: überspielen würden. Und zwar die großen Probleme des deutschen Fußballs. Deutschland ist von einer Fußballexport- zu einer Fußballimport-Nation geworden. Die Jugendarbeit der meisten Vereine besteht darin, die Jugendarbeit der ausländischen Clubs zu honorieren. Daß die Nationalelf, die zwar international agiert, aber selbst von jeder inneren Globalisierung ausgenommen bleibt, dabei schwächer und schwächer werden mußte, war allen klar. Doch es auszusprechen fiel unter ein doppeltes Schweigegebot: Einerseits verletzt man damit die mächtigen Liga-Bosse, andererseits bekommt man für solche Sätze den prekären Applaus der Stammtische. Ausgerechnet Klinsmann hat einen dritten Weg zwischen dem naiven Dauerüberspielen der Probleme und einer unschönen Revolte des Nationalismus gefunden: Sein Verfahren besteht in der gründlichen Austreibung aller Reste von Mythos, Tradition und Legende aus der Mannschaft. Das geschieht zunächst auf dem Platz. Kündigungen wie die an Wörns und zuletzt an Kahn haben die Mannschaft allmählich zu genau dem gemacht, was sie ist, wenn man Überbau und Legendengerede abzieht: ein Querschnitt durch die Aktivposten der Vereine, ein Spiegel ihrer Nachwuchsarbeit, ein Gradmesser ihrer Kreativität. Du bist, kann man dieser Mannschaft getrost zurufen, Deutschland. Und zwar das ausschließlich selbstgestrickt-hiesige, das wahrlich jetzige, das Deutschland nach Abzug des gut Gemeinten und des noch besser Erinnerten. Das Deutschland auf dem grünen Rasen der Tatsachen.

Klinsmann hat seine Arbeitgeber enttäuscht. Statt sich als Galionsfigur vor ein schwaches Schiffchen binden zu lassen, geht er als moderner Manager durch das Unternehmen und unterzieht alle Positionen einer nüchternen Bilanz. Was sind wir, fragt er, wenn man den Kredit wegstreicht, den wir uns erbetteln? Was ohne die Hypotheken auf unsere Vergangenheit? Was leisten wir, wenn man uns mit den Wettbewerbern außerhalb unseres Tellerrands vergleicht? Klinsmann weiß, daß im Zeitalter der Globalisierung die Legenden nicht börsentauglich sind. Aus den Mythen sind Quartalsberichte geworden; Kredit gibt es nur noch auf die Zukunft. (…) Klinsmann ist der CEO des deutschen Fußballs. Nach jedem Spiel tritt er vor seine Aktionäre und bittet, das Gewesene schnellstens zu vergessen, damit man um so zuversichtlicher nach vorne schauen kann. Denn wie in der Ökonomie geht es auch in unserem Bewußtseinsalltag nicht mehr ums Einkleben von Erinnerungen, sondern um Investitionen ins Morgen. Klinsmanns Aufgabe ist es, uns dies ausgerechnet da zu vermitteln, wo es am meisten weh tut, im Fußball.“

Frage der Glaubwürdigkeit

Michael Ashelm (FAS) erklärt die Forderung, Mehmet Scholl zu berufen, und rät von dieser Maßnahme ab: „Vor allem eines zeigt die Diskussion um den WM-Scholl: Die Sehnsucht des Fußballfans hierzulande nach Emotionen, Herzblut, Verspieltheit und Raffinesse auf dem Platz, eben alles, was der schmächtige Mittdreißiger seit Jahren verkörpert. Fußball kann nämlich auch Spaß machen. Die deutsche Realität sieht anders aus: dröge, trocken, langsam. Kein neues, überraschendes Phänomen, aber um so schlimmer im Jahr der WM. Spielfreude, kombiniert mit einstudierter Finesse, kann außer dem Hamburger SV mit Abstrichen nur Werder Bremen und ganz selten den dominanten Bayern keine andere Mannschaft bieten. Der erhoffte Schub hin zum Weltturnier ist ausgeblieben. Statt dessen sind wacker kämpfende, aber meist ungeschickt agierende Profis und verunsicherte Nationalspieler im Formtief sowie kriselnde Bundesligaklubs zu beobachten. Von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit mag schon gar keiner mehr reden. (…) Ob Scholls von vielen Verletzungen ausgezehrter Körper den Belastungen des Hochleistungswettbewerbs einer WM mit den langen Wochen der Vorbereitung und des Dauerstresses standhält, darf bezweifelt werden. Würde Klinsmann wirklich eine Nominierung des Münchner Gelegenheitsarbeiters ins Kalkül ziehen, verlöre seine auf jugendlichen Sturm und Drang getrimmte Philosophie an Glaubwürdigkeit. Auch deswegen ist es kaum zu glauben, daß sich der Bundestrainer vom Hype um Scholl anstecken läßt.“

Aktionismus

Auch Udo Muras (WamS) empfiehlt Klinsmann, die Rufe nach Scholl zu überhören: „Ein Blick in die Historie beweist, daß Reaktivierungen verdienter Profis selten von Erfolg gekrönt waren. Vor fast jeder WM wuchsen die Zweifel an der Stärke des Teams in der Öffentlichkeit. Selbst auf die Gefahr hin, die eigene Philosophie zu verraten und die Hierarchie über den Haufen zu werfen, starteten die Bundestrainer dann Rückholaktionen. So verfiel Berti Vogts vor der WM 1994 in den USA in Panik und reaktivierte gleich drei Weltmeister von 1990: Andreas Brehme, Thomas Berthold und ganz zuletzt Rudi Völler, der bereits sein Abschiedsspiel gegeben hatte. Vogts wollte sich nie damit abfinden. Bezeichnend, daß er Völler zum Abschied ein Faxgerät mit Anrufbeantworter schenkte, um ihn stets erreichen zu können. Unumstrittener Stammspieler war keiner aus dem Trio der Nachrücker, das dafür die Hierarchie bedrohte. Der Kader von 1994 gilt als einer der chaotischsten der Geschichte. 1958 tat Sepp Herberger dagegen zwei echte Glücksgriffe, als er drei Monate vor Turnierbeginn Fritz Walter und Helmut Rahn zurückholte. Der von Selbstzweifeln geplagte Walter, Kapitän der Berner Helden (‚Chef, ich kann des net mehr‘), war 1956 wieder einmal zurückgetreten, Rahn durfte nach einer 14tägigen Gefängnisstrafe in Folge einer Alkoholfahrt nicht mehr für Deutschland spielen. Eigentlich. Aber Herberger gab nie auf. Rahn mußte zehn Kilo abnehmen, um dann bester deutscher Torschütze zu werden. Walter bekam gute Kritiken, Herberger wollte ihn 1962 noch einmal mitnehmen. Auch der erste Bundestrainer Otto Nerz sah sich bestätigt in seinem dreijährigen Kampf um den Schalker Fritz Szepan, der nach einem Streit stur alle Einladungen zerrissen hatte und erst nach einem Hausbesuch von Nerz vier Monate vor der WM 1934 zum Comeback bewegt worden war. Mit Kapitän Szepan wurde man beachtlicher Dritter. Genauso war es 1970 in Mexiko im Falle Uwe Seeler, den Helmut Schön weichkochte. Mit Helmut Haller hatte Schön weniger Glück: Nach nur 45 Minuten war dessen WM-Comeback beendet. Die drei deutschen Weltmeister-Mannschaften 1954, 1974 und 1990 hatten derlei Aktionismus nicht nötig. Sie waren gewachsen, stark besetzt und auf Rückkehrer nicht angewiesen.“

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