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Champions League

Stilles Plädoyer für mehr Fußball

Oliver Fritsch | Freitag, 19. Mai 2006 Kommentare deaktiviert für Stilles Plädoyer für mehr Fußball

Ronald Reng (taz) preist den FC Barcelona, den neuen Champions-League-Sieger: „Der Europapokal ist jetzt in den richtigen Händen, wer kann daran noch zweifeln? Diese Mannschaft hat bewiesen, was viele schon bezweifelten: Steht für Kreativität, Akrobatik, Finesse und atemraubende Geschwindigkeit und verkörpert damit eine andere Weltanschauung.“

Zirzensisches Ensemble

Der Champions-League-Titel – Höhepunkt oder Beginn einer Epoche? Jens Weinreich (BLZ) drückt Skepsis aus: „Die spannende Frage lautet nun, ob dieses zirzensische Ensemble der guten Laune mit den extraordinären Antreibern Ronaldinho, Samuel Eto‘o und Deco, das demnächst wohl von Thierry Henry verstärkt wird, noch einmal reüssieren kann. Oder ob eine Titelverteidigung im Globetrotter-Business, in dem nationale Grenzen und fußballerische Eigenheiten verschwinden, in denen Teams wie Maschinen zusammengesetzt und getunt werden, gar nicht mehr möglich ist. (…) Was in schwärmerischen Nachbetrachtungen gern übersehen wird: Barcelonas Abwehr war, im Vergleich zur rasenden Offensivstärke dieses Teams, Verzeihung: nur regionalligatauglich. Ob Frank Rijkaard mit dem FC Barcelona eine Ära prägen kann, dürfte sich kaum in der Offensive entscheiden. Barca wird mit dieser Abwehr nicht noch einmal um den Pokal tanzen können.“

Hart, nüchtern, willensstark

Flurin Clalüna (NZZ) betont die Sekundärtugenden Barcelonas: „Henrik Larsson ist der Gegenbeweis zur These, dass Barça einzig von Ronaldinhos Magie lebt. Er war Auswechselspieler, einer aus der zweiten Reihe, wie auch Belletti, der zum entscheidenden 2:1 traf. Der Final in Paris zeigte, dass das schöne Barça auch hart und nüchtern sein kann, dass Ronaldinho nicht immer alles gelingt, die Katalanen aber gewinnen können, ohne traumwandlerisch zu spielen. Der willensstarke FC Barcelona lebte auch von Deco, von dem Rijkaard sagt, er sehe während des Spiel mit dessen Augen; Barça war auch Giuly, auf den die Franzosen an der WM glauben verzichten zu können. Und Barcelona zehrte vom Mexikaner Marquez, dem Mann mit den meisten Ballkontakten, und natürlich von Eto‘o, der auch dann immer trifft, wenn es wichtig ist. Das klug zusammengesetzte Ensemble steht auf dem Höhepunkt; der Gewinn der Champions League kommt wie auf dem Reissbrett geplant. Kaum ein anderes Finalspiel der jüngeren Vergangenheit war mit so vielen Träumen und Sehnsüchten aufgeladen, 22 Nationalspieler aus elf verschiedenen Ländern figurierten auf den zwei Matchblättern. Und vielleicht wäre aus einem guten Spiel wirklich ein wunderbares geworden, wenn der Schiedsrichter Lehmann nicht des Feldes verwiesen, sondern stattdessen Giulys Tor anerkannt hätte.“

Abwehrschlacht statt einer Gala

Peter Heß (FAZ) beschreibt das Finale als Fragment: „Es hätte ein Fußballfest werden können, es wurde ein Drama. 18 Minuten lang machten der FC Barcelona und der FC Arsenal aus dem Finale einen echten Fußball-Gipfel. Zwei Mannschaften präsentierten Fußballkunst auf höchstem Niveau: mit Wucht und Eleganz, voller Esprit, Athletik und Akrobatik. Das Geschehen wogte hin und her, zwei selbstbewußte Teams spielten um die Herrschaft auf dem Feld. Doch dann griff Jens Lehmann ein, und ganz nach deutscher Fußballart nahm er dem Spiel fast alle Leichtigkeit, drückte es in Richtung erbitterten Kampf. Lehmann wollte nur das Beste, aber statt des Balles traf seine Hand kurz hinter dem Strafraum den Fuß von Eto‘o. Hätte Schiedsrichter Hauge geahnt, daß der Ball weiter zu Giuly rollen und der Rechtsaußen das 1:0 schießen würde, vielleicht hätte er auf Vorteil erkannt. Aber der Norweger pfiff rasch – und das Schwere hielt Einzug in dieses Finale. Rot für Lehmann, eine Abwehrschlacht statt einer Gala.“

Um das Vergnügen gebracht

Christoph Biermann (SZ) bedauert, über Schiedsrichterfehler schreiben zu müssen: „Dieses Thema würde es nicht geben, hätte Schiedsrichter Hauge nur jene zwei Wimpernschläge gewartet, bis Barcelona trotz Lehmanns Foul in Führung gegangen war. Dann wäre das Publikum auch nicht um das Vergnügen gebracht worden, die beiden besten Teams Europas weiterhin in Gleichzahl um den Sieg spielen zu sehen. Doch dem Referee fehlte der Mut, einen Moment zu warten. Eine wunderbare Gelegenheit zur Anwendung der Vorteilsregel wäre das gewesen, und sollten die Schiedsrichter wirklich unter dem Druck stehen, dass ihr Spielraum dabei minimal ist, muss er dringend erweitert werden. Hauge und seine Assistenten wurden dann nicht mehr glücklich mit dem Spiel. Dem Freistoß, der zu Arsenals Führungstreffer führte, ging eine Schwalbe voran. Und war Barcelonas Ausgleichstor nicht abseits? Statt die Essenz schönen Fußballs zu finden, blieben solche Fragen zurück und die immer wieder unabweisbare Erkenntnis, dass Fußball ein Spiel ist, in dem meistens Fehler entscheiden – und nicht die Kunst.“

Glücksspiel

Jens Weinreich (BLZ) nimmt das Finale als weiteres Indiz dafür, die Fußball-Judikative zu erweitern: „Die G14 sollte darauf drängen, dass endlich ein Oberschiedsrichter und ein zeitnaher Videobeweis eingeführt werden, wenigstens in den Klubwettbewerben; auch bei internationalen Meisterschaften. Da hört man Pfiffe, die man nie hören dürfte. Da vermisst man Pfiffe, wo selbst mit bloßem Auge der Hergang zu erkennen ist. Allerdings dominiert in der Branche noch immer eine mottige, öde Argumentation, wonach sich Glück und Pech, richtige und falsche Entscheidungen, im Laufe eines Jahres neutralisieren. Es graust einen schon, derartige Sätze wiederzugeben. Wer will diesen Unsinn noch hören? Wer so redet, sollte den Fußball gleich als Glücksspiel definieren. Das aber tun die wenigsten.“ Peter Heß (FAZ) meint, daß das Spiel zu schnell für Schieds- und Linienrichter geworden sei – und manchmal auch für den Torwart: „Der Schiedsrichter kann die Hochgeschwindigkeitsakrobatik nicht genießen, er muß versuchen, auf der Höhe zu bleiben, und ist in manchem unübersichtlichen Augenblick doch zum Scheitern verurteilt. Auch Lehmann war in seiner verhängnisvollen Szene mehr Opfer von Eto‘os Schnelligkeit als tumber Täter. Sein Fehler war es, überspitzt ausgedrückt, die Situation so früh erkannt zu haben, daß der Kameruner sich freilief und prompt von Ronaldinho den Ball geliefert bekam. Gegen fast jeden anderen Stürmer wäre die deutsche Nummer 1 wohl zuerst an den Ball gekommen.“

Nicht durch seine Aktion entschieden worden

Mathias Klappenbach (Tsp) nimmt Jens Lehmann in Schutz: „Lehmann war schon zur Untätigkeit verdammt, bevor sein Schicksal entschieden war. Hätte Arsenal den Vorsprung gegen Barcelona über die Zeit gerettet oder gar das 2:0 geschossen, wäre er im Nachhinein der Held gewesen, der sich im richtigen Moment für seine Mannschaft geopfert hat. Seine Mitspieler hätten ihm den Pokal bei der Ehrenrunde gerne in die Hand gedrückt, obwohl er nach zwanzig Minuten ihr Treiben von draußen mit ansehen musste. Wenn der Schiedsrichter Lehmann nicht vom Platz gestellt und Arsenal den Rückstand aufgeholt hätte, wäre er einer von vielen Siegern gewesen. Und wenn Lehmann keine Rote Karte bekommen und Arsenal verloren hätte … Oder, oder, oder. Lehmann ist zutiefst enttäuscht, aber das Finale ist nicht durch seine Aktion entschieden worden.“

Katastrophal

Wayne Cirus (The Sun) sieht den Fehler beim Schiedsrichter: „Viele Zuschauer hätten die Vorteilsregel gelten lassen; diese hätte Lehmann erlaubt, auf dem Rasen zu bleiben, da er nur die Gelbe Karte erhalten hätte. Am nächsten Tag äußerte sich Terje Hauge kritisch zu seinem Pfiff: ‚Das Ideale wäre gewesen, ein paar Sekunden zu warten, Lehmann Gelb zu geben und das Tor gelten zu lassen.‘“ Sam Wallace (The Independent) wiederum schiebt den Schwarzen Peter zu Lehmann: „Lehmanns Rote Karte ließ Arsenal mit zehn Mann und Manuel Almunia, der seine Handschuhe vier Monate nicht in einem ernsthaften Wettbewerb anziehen mußte, auf dem Platz. Der deutsche Torwart war heldenhaft im Halbfinale. (…) Falls Lehmann etwas richtig gemacht hat, war es die Tatsache, daß der Kontakt außerhalb des Strafraums stattfand – der Rest war katastrophal.“ Simon Barnes (The Times) hätte gerne 11 gegen 11 gesehen: „Es war kein Wunder von Paris, nur ein voraussehbarer Sieg von einem voraussehbarem Sieger. Aber es geschah nicht in einer voraussehbaren Art, das heißt durch Tore von einer umwerfenden Schönheit oder einen Sieg geprägt von Ronaldinho. Die Wende kam, als Jens Lehmann vom Platz flog.“

Chelsea auch bei Regelauslegungen einzigartig

Man kann Thierry Henry schon verstehen – Finale verloren und außerdem noch ein paar Tritte von Puyol und Co – Seiner Enttäuschung bereitete er nach dem Abpfiff Luft. Der Guardian zeichnet seinen Kommentar auf: „Ich weiß nicht, ob der Schiedsrichter ein Barcelona-Shirt trug. Wenn er uns nicht gewinnen lassen wollte, hätte er es zu Beginn sagen sollen. Einige Pfiffe waren sehr komisch. Ich denke, der Schiedsrichter hat seine Aufgabe nicht erfüllt, ich hätte einen ordentlichen Schiedsrichter bevorzugt.“ Eine ziemlich deftige Kritik, doch man muß berücksichtigen, daß Arsenal gerade das Finale verloren hat und sollte Nachsicht üben. Die Uefa ist auch dieser Meinung, ein Pressesprecher des Verbandes sagt der Daily Mail: „Es besteht kein Bedarf für irgendeine disziplinäre Strafe wegen Aussagen, die in der Hitze des Gefechts getroffen worden sind.“ Doch da war doch noch was mit José Mourinho? Er hatte den schwedischen Schiedsrichter Anders Frisk, ebenfalls nach einem Spiel gegen Barcelona, beschuldigt, die Katalanen bevorzugt zu haben – und wurde prompt von der Bank verbannt. Das Argument der Uefa damals: Es sei ihr Job, „die Schiedsrichter von Attacken, die auf ihre Integrität zielen, zu schützen“. Daß die Uefa jetzt bei Henry nicht durchgreift, bemängelt die Daily Mail: „Es wird Mourinhos Paranoia bestimmt nicht beruhigen, dass es eine Regel für Chelsea, und eine für den Rest gibt.“

Tsp: Lehmann möchte seinen Platzverweis im Europacup-Finale schnell verdrängen

FAZ: Jens Lehmann: „Das werde ich mit ins Grab nehmen”

sueddeutsche.de: Bildstrecke „Lehmann sieht Rot“

FAZ: Internationale Pressestimmen

NZZ: Der Triumph des FC Barcelona wird in verschiedenen Tonlagen gefeiert, Arsenals Niederlage nur in einer

Tsp: Jubelfeiern und Ausschreitungen in Barcelona

taz: Sat.1-Journalist Dirc Seemann durfte beim Champions-League-Finale Kommentator Werner Hansch vertreten

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