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Die Aktie Klinsmann gilt wieder als Spekulationsobjekt für Hasardeure

Oliver Fritsch | Montag, 22. September 2008 Kommentare deaktiviert für Die Aktie Klinsmann gilt wieder als Spekulationsobjekt für Hasardeure

5. Spieltag: Wie groß ist Jürgen Klinsmanns Bonus und sein Rückhalt in München? Das 2:5 gegen Werder Bremen bringt diese Fragen unerwartet auf den Tisch; Bremen, siehe da! / Schalke-Fans pfeifen auf Kevin Kuranyi und bekommen von der Presse auf den Deckel / Köln fehlt die Bielefelder Demut / Patrick Helmes, aktueller Lieblingsschüler der Journalisten

Jürgen Klinsmann erlebt einen Temperatursturz, und es ist nicht sicher, ob er genügend Winterspeck gesammelt hat, um die Kälte, die das 2:5 gegen Werder Bremen verursacht, ohne Wunden und Narben wegzustecken. Andreas Burkert (SZ) wählt einen amerikanischen Vergleich, um Klinsmann Lage zu schildern: „Es riecht verdächtig nach einem Insidergeschäft. Denn die Aktie Klinsmann gilt plötzlich wieder als Spekulationsobjekt für Hasardeure.“ Dabei spielt Burkert mit dem Gedanken herum, wie Klinsmann in die Geschichtsbücher eingehen werden könnte und betont dessen Verdienst, der nicht vom Tagesgeschehen abhänge, so wie das Tagesgeschehen nicht von Klinsmann historischem Verdienst abhänge: „An der grundsätzlichen Programmatik, für die Klinsmann steht, zweifelt ja inzwischen kaum jemand mehr in Fußballdeutschland. Sie wird überleben, auch in München. Der Namensgeber indes hat sich – ganz bewusst – den Gefahren des Marktes ausgesetzt.“

Einmal ist keinmal – mit diesem Motto beschwichtigt Peter Heß (FAZ) die Kritiker: „Das 2:5 bedeutet nicht, dass Rensing wieder zu den Bayern-Amateuren und Demichelis in die Zweite argentinische Liga zurückmüssen. Auch Luca Toni gehört nicht aufs Altenteil, weil er seine Tormöglichkeiten ungeschickt vertat, und Jürgen Klinsmann hat es auch nicht nötig, zu Udo Lattek zur Trainernachhilfe zu gehen. Erst wenn sich die Ereignisse wiederholen sollten, müssten die Bayern-Verantwortlichen eingreifen.“ Stefan Osterhaus (Neue Zürcher Zeitung) jedoch vermutet, dass etwas bleiben wird: „Dass ausgerechnet vor diesem Match die Fähigkeiten des als Motivationskünstlers notorischen Klinsmann nicht verfingen, löste schwere Verstimmung in München aus. Manager Hoeneß zeigte die ärgste Form seines Grolls: Er schwieg.“ Schwache Vorstellung des Großredners, übrigens.

Protegé

Jörg Hanau (FR) beobachtet die Bayern-Oberen unter der Perspektive, wer die Idee mit Klinsmann geboren hat: „Die Idee, den in München ohnehin polarisierenden Schwaben mit seiner Philosophie des Kickspiels die Verantwortung zu übertragen, knobelte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge mit sich alleine aus. Das muss man wissen, will man verstehen, warum der ehemalige Weltklasse-Angreifer Rummenigge seither ebenso dynamisch wie druckvoll seinem Protegé zur Seite stürmt, in schlechten wie in guten Zeiten. Rummenigges Lobeshymnen während des Mitternachtsbanquetts in Bukarest waren allerdings verfrüht. Allein das Ergebnis stimmte, die fußballerischen Unzulänglichkeiten während dieser 90 verregneten Minuten kippte Rummenigge mal kurz in die Regentonne.“ Philosophie des Kickspiels?! Was die FR so alles für gutes Deutsch hält …

In der Berliner Zeitung stolpert der Leser heute über einen fragwürdigen Text – eher: über einen fragwürdigen Vorspann: „Der FC Bayern redet sein 2:5-Debakel mit Klinsmann-Rhetorik klein“, lesen wir dort, um, nach der Lektüre des Artikels festzustellen, dass der Text diese klassische Anti-Klinsmann-These nicht stützt. Zumal Klinsmann auf allen Kanälen offen über die Niederlage und seinem Schmerz geredet hat. Auch seltsam der Titel: „Nachrichten aus der Cordhose“. Das klingt schlüpfrig; gemeint ist Rummenigges Beinkleid, das zwar erwähnt wird, aber im Text freilich keine bedeutende Rolle spielt. Da haben sie sich in Berlin keine große Mühe gemacht mit den doch so wichtigen Kleintexten.

Sven Bremer (Berliner Zeitung) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bremer Gewinner: „Geschlossener kann ein Team nicht auftreten. Gern haben die Spieler von Thomas Schaaf genau dann ein Zeichen gesetzt, wenn die Abgesänge auf sie besonders laut gesungen wurden.“ Christof Kneer (SZ) zwinkert Mesut Ösil zu: „Werder könnte es erneut gelingen, sich aus sich selbst zu erneuern. Wer diesen Özil dribbeln und passen sah, der wird Tim Borowski trotz zweier Tore für den falschen Verein nicht vermissen, und wenn Real Madrid das nächste Mal um Diego buhlt, tut das vielleicht nur noch halb so weh.“

Die Fans denken nur bis zum Strafraum

Erstaunlich offen schimpft Oskar Beck (Stuttgarter Zeitung) mit den Schalker Fans, die Kevin Kuranyi wieder mal auspfeifen: „Wo sonst die Fans noch versuchen, mit dem Kopf zu denken, denken sie auf Schalke mit dem Bauch, dem Knie oder der flachen Fußsohle. Die Fähigkeit der Fans, an der richtigen Stelle zu pfeifen, lässt auf Schalke zu wünschen übrig. Nicht mal eine Halbzeit lang hat der dortige Anhang es kürzlich geschafft, Rafinha den Marsch zu blasen. Schamlos im Stich gelassen hatte der Brasilianer seinen Club, im Rahmen der Fahnenflucht war er nach Peking ausgebüchst, doch mit seiner ersten Flanke, die zum Tor führte, war alles verziehen. Kuranyi dagegen verhält sich loyal und rackert, aber weil ihn das Pech plagt, ist er unten durch. Der Trainer Rutten denkt pädagogisch, psychologisch, perspektivisch – die Fans aber denken nur bis zum Strafraum. Oder manchmal auch nichts. Man muss besser durchblutet sein, wenn man mehr werden will als Meister der Schmerzen.“

Philipp Selldorf (SZ) stimmt ein, hat aber auch einen kleinen Pfiff für Kuranyi parat: „Mehr Sachverstand wäre auch nicht schlecht, denn Kuranyi hat zumindest teilweise nicht schlecht gespielt. Da seine Ballannahme weiterhin nicht Tüv-sicher ist, bleibt die Passfehlerquote hoch, aber seine Wirkung ist nicht zu unterschätzen, denn Kuranyi schafft Bewegung in der gegnerischen Reihe und Räume für Mitspieler.“

Opfer der Bewusstseinstrübung

Felix Meininghaus (Financial Times Deutschland) führt den Vorteil Bielefelds gegenüber Köln auf Bodenständigkeit zurück: „Der Klub hat den Pragmatismus des nackten Überlebens verinnerlicht. Arminia Bielefeld ist darin qua definitionem geschult. Ganz im Gegensatz zu den Kölnern, die sich in anderen Sphären wähnen. ‚Das ist Ihre Interpretation’, beschied Christoph Daum einem Reporter, der gefragt hatte, ob er die im Abstiegskampf geforderten Attribute gesehen habe. Niemals habe er den Begriff Abstiegskampf verwendet, ‚uns ging es heute darum, Anschluss ans Mittelfeld zu bekommen’. Eine solche Aussage unmittelbar nach den niederschmetternden Eindrücken des Spiels verwunderte stark. Vielleicht ist ja auch Daum ein Opfer jener Bewusstseinstrübung, die er als gefährliche Konstellation ausgemacht hat.“

Mann der Zukunft

Drei Tore gegen Hannover, weiterhin Top-Form – Markus Lotter (Berliner Zeitung) nimmt Patrick Helmes’ Durchstart zum Anlass, dem Bundestrainer am Ohr zu ziehen: „Helmes hat wirklich Talent. So viel, dass Joachim Löws Entscheidung, ihn nicht mit zur Europameisterschaft zu nehmen, immer unverständlicher wird. Er ist derzeit zweifellos Deutschlands bester Stürmer.“ Die FAZ bescheinigt Helmes, „auffälligster Mann einer grandios aufspielenden Bayer-Mannschaft“ gewesen zu sein.

Osterhaus (NZZ) wittert, dass Bayern wittern werde: „Ob Klinsmanns Versprechen, auf dem Transfermarkt Zurückhaltung üben zu wollen, tatsächlich hält, wird stark vom Verlauf der kommenden Wochen abhängen. Münchner Begehrlichkeiten werden zumeist innerhalb der Liga geweckt, und nachdem sich Mario Gomez mit wechselhaften Darbietungen von der Einkaufsliste gespielt hat, dürfte der Mann der Zukunft in Leverkusen zu suchen sein: Patrick Helmes.“

Jede Liga hat den Spitzenreiter, den sie verdient

Lotter (BLZ) kann sich nicht vorbehaltlos über die ständigen Wechsel im oberen Tabellendrittel freuen, da sie auch Indiz der Schwäche sein könnten: „Welch wundersames Produkt, wie unberechenbar die Bundesliga doch ist! Der Zufall fühlt sich am wohlsten in Deutschland. Alles fließt, alles ist in Bewegung, Voraussagen sind so riskant wie selten, Trends nicht auszumachen. Willkommen in der neuen Heimat der Fußballkuriositäten. Das kann jetzt durchaus als Zeichen für Attraktivität gedeutet werden, und die Bundesliga mag ja auch wirklich unterhaltsam sein. Wer es allerdings weniger gut mit ihr meint und den internationalen Vergleich in die Betrachtung einbezieht, kann daraus jederzeit auf einen Mangel an Wachstum und Fortschritt schließen.“

Und der Tabellenerste bekommt von ihm ins Stammbuch geschrieben: „Jede Liga hat den Spitzenreiter, den sie verdient. Schalke 04 steht ganz oben – der Klub, der von Atletico Madrid in äußerst anschaulicher Form die internationalen Standards aufgezeigt bekommen hatte, der gegen Dortmund eine 3:0-Führung verspielt hat und zum Hüpfer an die Tabellenspitze Hilfe von Fremden benötigte: Siegtorschütze war Patrick Ochs, der Rechtsverteidiger von Eintracht Frankfurt.“

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