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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Bundesliga

Von einem Extrem ins andere

Frank Baade | Dienstag, 22. September 2009 5 Kommentare

Die Geschehnisse um drei Teams aus dem Tabellenkeller beherrschen den Bytewald: Stuttgart, Hertha und Bochum

Ulrich Hartmann zählt in der SZ beim Blick auf Bochumer Statistiken nicht besonders weit. Mit Koller sei der VfL Bochum zwar drei Jahre in Folge nicht abgestiegen. Das sei als großer Erfolg zu werten. „Aber erreicht hat Koller dieses alljährliche Saisonziel mit fußballerischem Minimalismus. Bochum hat unter ihm bloß 31 von 108 Bundesligaspielen gewonnen. Die Fans haben sich zunehmend in den Gedanken verrannt, dass ohne den braven Schweizer alles besser werde. Sie haben so lange gegen Koller opponiert, bis der Verein ihnen nachgab wie einem nörgelnden Kind vor dem Schokoregal an der Kasse.“ Das wichtigste in Bochum habe Koller am Ende nicht mehr bewirken können: „leidenschaftliche Fußballer, zufriedene Fans, zahlungsbereite Kundschaft.“

Jan Christian Müller (FR) zählt die vielen negativen Aktionen der Bochumer Fans auf, empfiehlt diesen für den Fall des Strebens nach Höherem einen Vereinswechsel und stellt abschließend fest: „Das alles ist ein ziemlich unwürdiges Schauspiel. Und eigentlich muss man sagen: Dieser VfL Bochum gehört so tatsächlich nicht in die Bundesliga.“

Typ Fußballarbeiter

Die beiden Protagonisten der Bochumer Interimslösung stehen für die wenigen herausragenden Ereignisse in der Bochumer Klubgeschichte, berichtet Richard Leipold (Tagesspiegel): „Frank Heinemann ist ein Bochumer Urgestein, der frühere Verteidiger gehört seit 33 Jahren demselben Verein an. Auch wenn er wohl nur übergangsweise aufgerückt ist, geht er die Aufgabe entschlossen, selbstbewusst und mit Spaß an. Heinemann wird entscheiden, wer spielt. Und Dariusz Wosz wird ihm dabei helfen. Während Heinemann immer den Typus Fußballarbeiter verkörpert hat, assoziieren die Fans des VfL mit Wosz die kurzen Glanzzeiten, in denen ihr Klub die internationale Bühne betrat. Heinemann fällt die Rolle des Strategen zu, Wosz soll dem Neuanfang ein Gesicht geben und dem Trainerteam Konturen verleihen.“ Männer wie Heinemann und Wosz stünden für die Bochumer Familien-Idylle und die wenigen Erfolge in Form von Pokalfinal- und UEFA-Cup-Teilnahme.

Stefan Osterhaus (NZZ) hingegen sieht die Entlassung von Marcel Koller als Chance – für Marcel Koller: „Trotz allen Beteuerungen beugte sich die Klubführung dem Volkszorn. Denn nichts fürchtet man in Bochum mehr als einen schwindenden Zuschauerstamm. Der Durchschnitt war tatsächlich spürbar gesunken in dieser Saison. Gegen Mainz kamen nicht einmal 17.000 Zuschauer, die erschienen waren, um den Trainer rauszuekeln. Doch vielleicht birgt diese Entlassung für Koller eine ungeahnte Chance. Er hat jetzt die Möglichkeit, in einem Verein zu unterschreiben, bei dem das Stadion voll ist.“

Wer ist Markus Babbel?

Im Kommentar in der Stuttgarter Zeitung weiß Peter Stolterfoht, wer verantwortlich für die Lage des VfB ist: „Schuld ist die Einstellung der Spieler. Sie täuschten sich gewaltig in der Annahme, dass die Champions-League-Teilnahme ihre Gegner in der Bundesliga beeindrucken würde. Die anfängliche Überheblichkeit ist nun nahtlos in eine allgemeine Verunsicherung übergegangen. Der VfB verfällt wieder einmal von einem Extrem ins andere, einen Mittelweg scheint es nicht zu geben.“

Für Christof Kneer steht dagegen Markus Babbel in der Verantwortung und bereits am Scheideweg seiner Karriere (SZ): „Am Umgang mit der ersten Krise seines Trainerlebens dürfte sich ablesen lassen, ob die Branche künftig mit diesem Trainer rechnen kann. Ein knappes Jahr amtiert Babbel jetzt als Chef, aber wie der Mann aus Gilching/Argelsried als Sportlehrer wirklich tickt, lässt sich allenfalls erahnen. Die großartige Rückrunde des VfB hat er mit Hitzfeld-Rhetorik, lässiger Autorität und einem sehr guten Gespür für Personal begleitet, aber wie er den taktischen Tiefen des Spiels gegenübersteht, kann noch keiner sagen. Scheitert Babbel in der VfB-Krise, wird er die Tuchels, Oennings und Dutts an sich vorbeiziehen lassen müssen. Meistert er die Krise, könnte er irgendwann Trainer in der Großstadt werden, die in der Nähe von Gilching/Argelsried liegt.“

Lehmanns Parallelwelt als Folge vieler Sonderrechte

Thomas Haid betreibt in der Stuttgarter Zeitung Diagnostik bei Jens Lehmann: „Nachdem der Torwart sich zuletzt einige Verfehlungen geleistet hatte, zog der VfB die Reißleine und zeigte, dass er der Eskapaden des fast 40-Jährigen überdrüssig ist. Das ist das Zeichen an Lehmann, der sich schon länger den Vorwurf gefallen lassen muss, in einer Parallelwelt zu leben, in der nur seine Gesetze und seine Sichtweisen gelten. Nach dem Auftritt beim Oktoberfest blieb es dann nicht mehr beim Kopfschütteln der Verantwortlichen. Der Club reagierte. Vermutlich glaubte Lehmann, dass er weiter alle Freiheiten besitzt. Diese Überzeugung ist wohl im Laufe der vergangenen Monate gewachsen – vermutlich auch als eine Folge der vielen Sonderrechte, die ihm der VfB eingeräumt hat. (…) Für viele Fans war das eine Provokation. Lehmann hat das Fingerspitzengefühl gefehlt.“

Fatale Fehleinschätzungen

Michael Rosentritt beschreibt die Berliner Ratlosigkeit im Tagesspiegel: „Zur Situation gehört, dass Hertha nach Ursachen für den Absturz fahndet, wobei die Gesichter und die Sprache der fahndenden Personen erahnen lassen, dass sie bisher nicht fündig geworden sind. Auf dem Spielfeld sieht es dann so aus wie gegen Freiburg. Favres Mannschaft wollte nicht nur auf den Gegner reagieren, sondern das Spiel gern selbst aktiv gestalten. Das allerdings konnte die Mannschaft schon im Vollbesitz ihrer personellen Stärke und spielerischen Kräfte nicht, als an den beiden letzten Spieltagen der Vorsaison die Teilnahme an der Champions League verschludert worden war.“

Am Tag zuvor war Michael Rosentritt (Tagesspiegel) noch selbst fündig geworden bei der Ursachensuche und malte gleich schwarz: „Hertha verfügt über eine desolate Defensive, ein malades Mittelfeld und einen Null-Tore-Sturm. Nach fünf Niederlagen befindet sich Hertha im freien Fall, vom Beinahemeister der Vorsaison zum Wahrscheinlichabsteiger der laufenden. Dazwischen liegen fatale Fehleinschätzungen auf mehreren Ebenen. So gibt es ein paar Spieler, die sich besser sehen, als sie sind. Und es gibt eine sportliche Leitung, die die Mannschaft weiter wähnt, als sie wirklich ist – nämlich stabiler, stressresistenter.“

Total auf Favre fokussiert

Widersprüchliches ist bezüglich Lucien Favres Schicksal zu lesen. In der Welt berichtet Uwe Bremer vom Verlauf einer Sitzung der Berliner Führung: „Es wurde nicht über Daten und Spiele gesprochen, aber alle waren sich einig: Die Besserung muss rasch eintreten. Übersetzt heißt das: Favre, seit Juni 2007 im Amt, hat noch zwei Wochen, um seinen Job zu retten. Ein Teilnehmer der Runde habe sich zu Welt Online derart gäußert, dass jeder Teilnehmer der Sitzung gewusst habe: Hertha BSC stehe nicht außerhalb der Gesetzmäßigkeiten der Branche. Langsam gehen Lucien Favre in Berlin die Argumente aus.“

In der FR scheint hingegen Michael Jahn sicher: „Beinahe jeder andere Bundesligaklub würde angesichts von Tabellenplatz 18 und nur einem gewonnenen Spiel seit August die Arbeit des Trainers hinterfragen. Doch die Hertha-Verantwortlichen haben sich seit langem total auf Favre fokussiert. Sie sind ein Stück weit von diesem Fußballlehrer abhängig. Würde man jetzt den Trainer wechseln, käme das dem Scheitern eines kompletten Konzeptes gleich und der Aufgabe einer Zukunftsvision.“

Reihenweise scheußliche Spiele

Schließlich wird Katrin Weber-Klüver in der Financial Times Deutschland grundsätzlich beim Thema Hertha BSC: „Was das Fatalste ist: Hertha hat einfach keinen Stil. Ihre Teams bieten konsequent unschönen Fußball mit nur gelegentlich hübschen Zufallsmomenten. Hertha spielt Fußball, wie sich die Leute in Neukölln anziehen. Auch in der vergangenen Saison war das nicht anders. Scheußliche Spiele reihenweise. Aber reihenweise auch knappe Siege. Es reichte am Ende für die Europa League. Realistisch betrachtet war das mehr als genug. (…) Hertha hatte sich in den knopfäugigen Schweizer verliebt, der einen niedlichen deutsch-französischen Singsang spricht und von dem es heißt, er habe tolle Fußballideen. Aber was charmant wirkt, wenn man verliebt ist, kann umso enervierender werden, kehrt erst der Alltag ein. Ob Hertha ihn noch liebt, ist unklar. Ob die beiden Partner zusammenbleiben, folglich auch.“

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Kommentare

5 Kommentare zu “Von einem Extrem ins andere”

  1. Krälinho
    Dienstag, 22. September 2009 um 14:20

    Katrin Weber-Klüver stellt meiner Ansicht nach das zentrale Moment heraus. Hertha BSC hat letztes Jahr am Limit, wenn nicht gar teilweise drüber gespielt. Dazu kommt, dass drei Schlüsselspieler die Hertha verlassen haben bzw. verlassen mussten. Diese wurden nicht adäquat ersetzt. Hertha gehört genau da hin wo sie momentan stehen. Mehr als Abstiegskampf ist mit dieser Truppe nicht drin. Der Unterschied zu anderen „Equipes“ liegt in der Mentalität. So blutleer war der Saisonstart bei keinem Team in der Bundesliga.

  2. Ingrid
    Dienstag, 22. September 2009 um 21:02

    Mir fällt dieser Satz auf:
    „Hertha spielt Fußball, wie sich die Leute in Neukölln anziehen.“

    Müssen sich jetzt die Bewohner von Neukölln diskriminiert fühlen? Poschmann (?) hatte doch bei der Leichtathletik-WM einen Spruch im Zusammenhang mit einem Berliner Stadtteil gemacht, worauf dann verärgert reagiert wurde.

  3. Oliver Fritsch
    Mittwoch, 23. September 2009 um 09:58

    Simunic ist ein großer Verlust. Und wohl ein großer Gewinn für Hoffenheim Guter Kauf.

    Was heißt eigentlich „über dem Limit spielen“? Kann man besser spielen als man ist?

  4. alfons berg
    Mittwoch, 23. September 2009 um 16:37

    >Mehr als Abstiegskampf ist mit dieser Truppe
    >nicht drin…

    bochum, mainz, gladbach, freiburg, nürnberg und frankfurt

    haben keine sechs spieler der individuellen klasse wie

    drobny
    friedrich
    kacar
    cicero
    ebert
    raffael

    lass mich gerne vom gegenteil überzeugen.

    ps.:
    das alle diese spieler entweder total ausser form oder verletzt sind, sollte aber bitte nicht vergessen werden… denn das ist der eigentliche grund für die talfahrt.

  5. Bochum - Blog - 22 Sep 2009
    Donnerstag, 24. September 2009 um 22:38

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