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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Zurück in die Zukunft

Matthias Nedoklan | Donnerstag, 24. Juni 2010 2 Kommentare

Die Presse atmet nach dem 1:0-Sieg Deutschlands gegen Ghana kollektiv auf. Das Reform-Projekt von Jogi Löw geht (vorerst) weiter. Nun kommt es zum Klassiker

Roland Zorn (FAZ.net) zitterte mit der deutschen Elf im „Gruppen-Endspiel“ gegen Ghana. „Auch wenn die Leistung des Aufgebots von Bundestrainer Joachim Löw nicht immer höheren bis höchsten Ansprüchen genügte, so erlaubten sich die am Ende überglücklichen Sieger doch keine entscheidende Nachlässigkeit.“ Dennoch habe man der jungen Mannschaft die Nervosität angemerkt. Auch das Tor von Özil in der 60. Minute brachte nicht mehr Sicherheit: „Doch von Spielkontrolle konnte vorerst keine Rede sein. Ein Glück für die deutsche Mannschaft, dass der Zweite der Afrika-Meisterschaft nicht eben als eine Mannschaft gilt, die ihre Gelegenheiten professionell zu nutzen pflegt.“ Wenigstens Manuel Neuer, in den vorherigen Spielen nie gefordert, konnte sein Können demonstrieren. Ruhe in das Spiel kam erst, nachdem die Kunde vom 2:0 der Australier gegen Serbien auch den Ghanaern zu Ohren kam: „Nun ließen sie es auch langsamer angehen. Und so trudelte eine Partie aus, die auch im Rückblick sicher nicht zu den denkwürdigen Begegnungen dieser WM gehören wird. Immerhin: Beide hatten ihr Ziel erreicht, und nur das zählte an diesem Mittwoch im Soccer City Stadium.“ Nun steht der WM der erste richtig große Klassiker bevor. Bei Deutschland gegen England schwingt etwas Wembley mit, das Flair von Turin, ein Hauch von Elfmeter-Drama: „Die Mannschaft von Trainer Fabio Capello blieb bei diesem Turnier bisher weit unter ihren Möglichkeiten. Am Mittwoch erreichten sie durch einen 1:0-Sieg gegen Slowenien das Achtelfinale. Ghana als Zweiter der Gruppe D bekommt es am Samstagabend in Rustenburg mit dem Team der Vereinigten Staaten zu tun, das vor England die Gruppe C gewann. Es ist im Vergleich zur deutschen Härteprüfung vielleicht sogar die leichtere Aufgabe.“

Christian Zaschke (sueddeutsche.de) scheint das Geheimnis der Nominierung Boatengs auf der linken Verteidigerposition gelüftet zu haben: „Die Hereinnahme von Cacau als Mittelstürmer war der Sperre Miroslav Kloses geschuldet, und die Aufstellung Jerome Boatengs als Linksverteidiger ergab einen doppelten Sinn. Zum einen hatte Holger Badstuber auf dieser Position gegen Serbien nicht immer gut ausgesehen, zum anderen standen so beide Boatengs auf dem Platz, einer für Ghana, einer für Deutschland; Löw mag sich gedacht haben: Wenn das Spiel schon derart brisant ist, gieße ich noch ein großes Fass feinsten Öls ins Feuer. Dann weiß auch der letzte, worum es geht.“ Doch die hohen Erwartungen offenbarten die mangelnde Erfahrung der deutschen Elf: „Ausgeglichen war die Begegnung und nicht besonders hochklassig. Im Fußball werden solche Partien unter der Rubrik ‚Zitterspiel’ eingeordnet; für beide Mannschaften geht es um so viel, dass sie nicht imstande sind, ihr wahres Leistungsvermögen zu zeigen (oder, im Fußballdeutsch: abzurufen). Chancen gab es entsprechend auf beiden Seiten.“

Respekt und Spott von der Insel

Sean Ingle (The Guardian) bestaunt die makellose Weste des DFB bei Weltmeisterschaften – die Gruppenphase wurde jedes Mal überstanden. Dennoch gibt es Grund zur Hoffnung: „Jetzt haben sie also ein Achtelfinale gegen England am Sonntag gebucht. Aber Fabio Capello wird auch die Schnitzer der deutschen Defensive gesehen haben. Und dass Bastian Schweinsteiger sich nach seiner Auswechslung am Oberschenkel behandeln lassen musste.“

Ian Ladyman (Daily Mail) fürchtet sich nicht vor dem Achtelfinalgegner Deutschland: „Löws Elf stolperte gegen Ghana so sehr, dass wir große Hoffnung haben dürfen. Das Gesicht des Trainers sprach Bände. Bei vorherigen Spielen stand er mit seinem Markenzeichen, dem V-Neck Sweatshirt, emotionslos an der Seitenlinie. Gegen Ghana sprang er herum wie eine aufgezogene Feder. Nach der Verletzung von Michael Ballack haben viele die Deutschen bereits abgeschrieben. Das endgültige Urteil steht noch aus. Vielleicht haben sie uns alle getäuscht. Es ist Englands Aufgabe, das herauszufinden.“

Druck lähmt die Mannschaft

Mesut Özils Treffer erlöst auch Jan Christian Müller (Berliner Zeitung) von seinem Bangen: „Tagelang hatten Bundestrainer, Spieler und auch Team-Psychologe Hans-Dieter Hermann postuliert, die Mannschaft sei fokussiert und konzentriert, aber ganz bestimmt nicht nervös. Tatsächlich bot sich dann ein anderes Bild: Einfachste Bälle versprangen sogar dem Supertechniker Mesut Özil, längere Passstafetten waren Mangelware, zwischendurch foulte Bastian Schweinsteiger aus Versehen sogar Sami Khedira, hinten wackelte Per Mertesacker neben Ruhepol Arne Friedrich bedenklich, und vorn konnte sich Cacau mit seinem schmächtigen Körper nur selten gegen die kräftigen Gegenspieler in Szene setzen. Die Beine schienen schwer wie Blei.“ Doch in der zweiten Halbzeit kam der Geniestreich von Özil und brachte die Führung, „mehr glücklich als verdient.“ Jetzt wartet am Sonntag in Bloemfontein „die keine unüberwindbare Klippe darstellende englische Nationalmannschaft.“

José Sámano (El País) sieht bei diesem Turnier eine veränderte deutsche Mannschaft: „Es bewegt sich definitiv etwas in Deutschland, das nur Spieler aus der Bundesliga mit zur WM nahm und dessen Öffnung in der Einwanderungspolitik die Nationalelf in einen Schmelztiegel verwandelte. Vergangene Nacht war die Maskerade offensichtlich: Nur Friedrich und Mertesacker, die Innenverteidiger, bildeten noch das alte germanische Gerüst. Der Rest hatte nichts zu tun mit dem traditionellen deutschen Fußball der Pferdelungen. Unter Vermeidung des einstigen Königsweges, jenes Spiels Mann gegen Mann, in dem die Deutschen stets lediglich versuchten, ihre körperliche Überlegenheit auszuspielen, offenbart Deutschland heute einen bedächtigeren Fußball, mit geringerer Stromstärke. Dafür stehen junge Spieler wie Lahm, Özil, Trochowski, Marin oder der Brasilianer Cacau. Auch Schweinsteiger, den Bundestrainer Löw in einen raffinierteren Spieler umwandeln möchte, in einen Leitwolf der Truppe. Mit diesem neuen Profil hat Deutschland bei dieser WM bisher eine Transitreise mit Schlaglöchern hinter sich. Es trumpfte groß auf gegen Australien, musste sich Serbien unverdienterweise geschlagen geben und spielte gestern mit dem Feuer, bewegte sich den ganzen Abend auf einem schmalen Grat. Ghana, der letzten afrikanischen Hoffnung, reichte ein Punkt. Für Deutschland hätte ein Unentschieden bei einem Sieg der Serben gegen Australien das Aus bedeutet, was einem Desaster gleichgekommen wäre für eine Mannschaft, die bei Weltmeisterschaften stets mit Haut und Haar antritt, mit sieben Finalteilnahmen und drei Titeln im Gepäck.“

Andres Rüttenauer (taz) beeindruckten eher die Ghanaer: „Extrem beweglich in der Abwehr und hochkonzentriert warteten sie auf die Fehler ihrer Gegner. Und die kamen. Es waren ihrer nicht wenige. Die Deutschen kamen schlecht zurecht mit dem  Druck, unter den irrsinnig fleißige Ghanaer die jeweils Ballführenden setzten. Hätten die Deutschen nicht diesen zum Fleißspieler mutierten Edeltechniker Bastian Schweinsteiger, der vor der Abwehr geschuftet hat, dass man beinahe beim Zusehen mitgeschwitzt hat, es wäre vielleicht nichts geworden mit dem Einzug ins Achtelfinale.“ Die Sorge ist groß: „Einen Spielfluss gab es nicht. Das Team, es hat nicht funktioniert. Die Mannschaft ist abhängig von zwei Spielern. Es ist gut gegangen, weil Bastian Schweinsteiger dauernd gut war, und weil Mesut Özil einen genialen Moment hatte.“

Michael  Rosenritt (Tagesspiegel) ist stolz auf die junge DFB-Elf: „Sie zitterten, sie zweifelten, sie schwammen – am Ende aber ist die deutsche Nationalmannschaft ihrem Ruf wieder einmal gerecht geworden. Wenn es wirklich ernst wird, ist auf sie Verlass.“ Dennoch besteht Grund zur Sorgen, denn „die Souveränität, die das deutsche Team in ihrem Auftaktmatch gegen Australien ausgezeichnet hatte, scheint irgendwann rund um die Niederlage gegen Serbien verflogen zu sein. Nicht auszudenken, wenn die Mannschaft in ihrem flatterhaften Zustand in Rückstand geraten wären.“ Nach Özils Treffer wackelte die deutsche Abwehr nur noch zwei Mal, dann sei die „Angelegenheit endgültig im Griff“ gewesen.

Kommentare

2 Kommentare zu “Zurück in die Zukunft”

  1. Heinz Gründel lebt
    Donnerstag, 24. Juni 2010 um 15:40

    Wie kann es zurück in die Zukunft gehen an einem Tag, an dem Jörg Berger starb? Scheiße.

  2. Sebastian
    Donnerstag, 24. Juni 2010 um 21:26

    Die wahren Kämpfe im Leben finden dann doch weit Abseits des Platzes statt…
    Das 5:1 gegen Lautern werde ich nie vergessen. Da ging einer von den Guten.
    http://www.faz.net/s/Rub822C6F5CE40E4AC589F55AB974E92897/Doc~E0F1CEA3C050F49B2949040438195D762~ATpl~Ecommon~Scontent.html

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