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Deutsche Elf

Özil besteht Bewährungsprobe

Matthias Nedoklan | Sonntag, 10. Oktober 2010 Kommentare deaktiviert für Özil besteht Bewährungsprobe

Nach dem eindrucksvollen 3:0 der Nationalmannschaft gegen die Türkei freut sich die Presse über ein gewonnes Auswärtsspiel und über einen Mesut Özil, der sämtliche Pfiffe verstummen lässt.

Thomas Hummel (sueddeutsche.de) konzentriert sich nach dem Länderspiel-Erfolg auf Mesut Özil: „Die Pfiffe gegen Özil während des Spiels wollten so gar nicht passen zum verkündeten Fußballfest-Integrationsgipfel. Deutschland gegen die Türkei in Berlin – das war ja praktisch ein doppeltes Heimspiel. Wir gegen uns sozusagen. Doch während sich kein Deutscher daran störte, dass der Lüdenscheider Nuri Sahin, der Kasselaner Ömer Erdogan oder die Gelsenkirchener Zwillinge Altintop für die Türkei spielten, haben viele Türken dem 21-jährigen Özil die Entscheidung für den DFB offenbar nicht verziehen. Der Druck auf Özil war enorm vor und während dieser 90 Minuten. Was er unter diesen Umständen zeigte, ist umso höher zu bewerten. Denn gerne wird der 21-Jährige die Ablehnung seiner türkischen Freunde nicht gehört haben. Mit zunehmender Spieldauer aber ignorierte er Pfiffe und Druck, mit ihm als dominanter Figur in der Zentrale beherrschte seine deutsche Mannschaft zunehmend die Partie. Dass er das entscheidende 2:0 schoss, ist die eigentlich fast übertriebene Pointe dieser Begegnung.“

Michael Rosentritt (Tagesspiegel) beeindruckt die Nationalmannschaft: „Zurückgeblieben ist ein lädierter, buntgeschwollener Knöchel. Es ist jener Knöchel, um den die Türken die Deutschen beneiden. Er hängt am linken Bein Mesut Özils, der mit diesem inzwischen so viel anzustellen weiß, dass er den Weltklub Real Madrid verzaubern kann. Am Freitag hat Özil einige zehntausend Türken, die das ausverkaufte Olympiastadion belagerten, verstummen lassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er den Ball beim 2:0 am türkischen Torwart vorbeischob, war verführerisch wie final. Das Spiel war entschieden. Özil humpelte vom Feld. Selbst wenn Mesut Özil für das nächste Spiel in der EM-Qualifikation am Dienstag in Kasachstan ausfiele, würde das keine Panik auslösen. Was nicht an der zweifelsfrei vorhandenen fußballerischen Begrenztheit des kasachischen Fußballs liegt, sondern der großen neuen Qualität der deutschen Mannschaft geschuldet ist. Es ist die Qualität, selbst Ausfälle der höchsten Kategorie ohne Qualitätsabfall kompensieren zu können.“

Özils Odysee der Gefühle

Boris Herrmann (sueddeutsche.de) zieht seinen Hut vor dem Neu-Madrilenen: „Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Mesut Özil im Verlauf der zweiten Halbzeit eine dritte Variante ausprobierte, um den Schmähungen aus dem rot-weißen Fanblock zu begegnen. Er spielte einfach wie Mesut Özil – schnell, leichtfüßig, überraschend, unkompliziert. Er hielt den Ball, um Gegner anzulocken, schob ihn aber auch rechtzeitig weiter, um die so entstandenen Freiräume auszunutzen. Sei es nun wegen jener zunächst nicht weiter definierten Verletzung, die kurz vor dem Ende zu seiner Auswechslung geführt hatte. Oder einfach deswegen, weil man dem jungen Mann nach dieser Odyssee der Gefühle nicht zumuten wollte, dafür auch noch Worte finden zu müssen.“

Christian Kamp (FAZ) gratuliert Özil zur bestanden Bewährungsprobe: „Auf türkischer Seite wurde Nuri Sahin besonders herzlich empfangen. Der in Lüdenscheid geborene Mittelfeldspieler gehört nicht nur, wie Halil und Hamit Altintop (Geburtsort Gelsenkirchen), zur Gruppe derjenigen, die dem Trikot mit dem Halbmond den Vorzug gegenüber dem mit dem Adler gegeben haben. Dazu kamen seine herausragenden Leistungen in Dortmund, die ihn zur großen türkischen Hoffnung werden ließen. Özil dagegen wird es nicht mehr zum türkischen Liebling bringen. Mit der Entscheidung, nicht für das Land seiner Familie zu spielen, sind ihm die Sympathien entzogen worden – da half es auch nichts, dass er am Freitag rote Schuhe trug; Özil wurde bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen. Insofern hatte es einen besonderen Reiz, dass sich die Wege Özils und Sahins auf dem Spielfeld gleich mehrfach kreuzten. Als Punktsieger ging in jedem Fall Özil hervor, nicht nur wegen seines Tores. Auf ihm lastete vielleicht der größte Druck, nachdem den Deutschen in Bastian Schweinsteiger einer der Anführer wegen Verletzung abhandengekommen war. Es war zunächst nicht mehr als grundsolide, was Özil unter diesen schwierigen Bedingungen zeigte, gegen Ende des Spiels aber wurde er immer stärker. So gelang ihm – im Gegensatz zum fast unsichtbaren Sahin – mancher öffnende Pass, der bei konzentrierteren Adressaten zu einem Treffer hätte führen können.“

Nationalmannschaft als Wohlfühlbecken

Michael Horeni (FAZ) wundert sich über die Unterschiede zwischen dem Bayern-Klose und dem DFB-Klose: „Was Klose nun seit einem halben Jahr erlebt, ist eine Erscheinung, die immer dann aufzutreten pflegt, wenn deutsche Profis bei Joachim Löw zusammenkommen. Was immer auch geschehen mag, Schwierigkeiten und Schwachstellen, Verirrungen und Verzweiflung, Differenzen und Dilemmas scheinen sich einfach aufzulösen, wenn es zum Einsatz für die Nationalmannschaft geht. Man muss gar nicht bis zum Verletzungspech vor der Weltmeisterschaft zurückgehen mit Michael Ballack als prominentestem Verlust und dem glanzvollen Auftritt in Südafrika. Nach der Weltmeisterschaft fielen vor allem die Bayern in ein tiefes WM-Loch, aus dem sie noch Monate brauchen werden, bis sie daraus wieder in alter Stärke hervorschauen. Aber wenn dann alle Nationalspieler plötzlich gemeinsam auftreten, kommen perfekte Ergebnisse und ansprechende bis erstklassige Auftritte heraus. Dem 3:0 gegen den größten Rivalen auf dem Weg zur Europameisterschaft 2012 gingen schon ein 6:1 gegen Aserbaidschan und ein 1:0 gegen Belgien voraus – ein perfekter Start mit neun Punkten und 10:1 Toren.“

Stefan Hermanns (Tagesspiegel) lobt die DFB-Elf: „Guus Hiddink, der Trainer der Türken, hatte vor dem Spiel einen Abend mit hohem Unterhaltungswert angekündigt. Beide Mannschaften beherrschen das schöne Spiel, beide Trainer bevorzugen den attraktiven Fußball; im Olympiastadion aber war der allein von den Deutschen zu sehen. Sie spielten frei von Zweifeln, attackierten die türkischen Verteidiger oft tief in deren Hälfte, gingen aggressiv in die Zweikämpfe und trugen damit dazu bei, dass die Türken sich nie ihrer Nervosität entledigen konnten. Das Team von Guus Hiddink wirkte erstaunlich fahrig. Das Team von Joachim Löw ließ in der ersten Halbzeit keine nennenswerte Offensivaktion der Türken zu. Dem Spiel der Gäste fehlten Struktur und Ordnung. Dass Löw mit Bastian Schweinsteiger seinen entscheidenden Ordnungsfaktor ersetzen musste, fiel gar nicht weiter auf. Wie erwartet spielte Toni Kroos neben Sami Khedira im zentralen Mittelfeld. Für die zweite vakante Position, links in der Vierer-Abwehrkette, hatte der Bundestrainer Heiko Westermann dem gebürtigen Berliner Jerome Boateng vorgezogen. Insgesamt verteidigte die deutsche Abwehr sehr seriös und sehr abgeklärt: Die wenigen Bälle, die von den Türken in die Spitze kamen, liefen Per Mertesacker und Holger Badstuber souverän ab. Torhüter Manuel Neuer bekam vor der Pause keinen einzigen Ball auf sein Tor.“

Laute Pfiffe – tolle Atmosphäre

Jan Christian Müller (FR) erlebte das schwerste Auswärtsspiel der Nationalelf seit langer Zeit: „Als die deutschen Spieler zum Aufwärmen den Platz betraten, wurden sie mit für ein Heimspiel völlig ungewohnten zehntausendfachen Pfiffen empfangen. Auch Maskottchen Paul musste Unmutsäußerungen der in Überzahl anwesenden türkischen Fans über sich ergehen lassen, die vor dem Stadion in ihren rot-weiß bemalten Gesichtern in der Mehrzahl für eine heitere, ausgelassene Stimmung gesorgt hatten. Dafür pfiffen sie sich geradezu die Lunge aus dem Leib, als die deutsche Mannschaftsaufstellung verlesen wurde, am lautesten beim Namen Özil. Nun ja, es gibt Schlimmeres,  vor allem angesichts der grandiosen Atmosphäre im aufgemöbelten alten Kasten Olympiastadion.“

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