indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

EM 2012

Quantität statt Qualität

Kai Butterweck | Donnerstag, 5. Juli 2012 2 Kommentare

Die Presse erzürnt sich über die Aufstockung des Teilnehmerfeldes  bei der nächsten Europameisterschaft 2016 in Frankreich. Außerdem: letzte Resümees

Bei der nächsten Europameisterschaft werden 24 statt 16 Länder teilnehmen. Bei Christian Eichler (FAZ) stellt sich alles andere als Vorfreude ein: „Die Ausweitung wird die EM verwässern. Das geht schon in der Qualifikation los, in der fast die Hälfte der 52 teilnehmenden Länder einen EM-Platz bekommen wird. Weil von Andorra bis Kasachstan mehr als ein Dutzend chancenloser europäischer Kleinstaaten und postsowjetischer Restrepubliken teilnehmen, ist es für größere Nationen mit halbwegs professionellen Strukturen künftig fast unmöglich, die Endrunde zu verpassen.“

Markus Völker (taz) weiß, welche Verbände vom neuen Procedere profitieren: „Die aus dem Osten zum Beispiel, Platinis Wahlhelfer und Steigbügelhalter. Sie werden ihm dankbar sein. So wäscht eine Hand die andere. Die großen Fußballnationen haben künftig ein Abo auf die Endrunde. Die EM-Qualifikation verkommt zur Farce. Über sie legt sich die Spannung eines nordkoreanischen Wahlabends.“

Das Turnier enttäuschte sportlich

Die EM ist vorbei. Die Presse zieht die letzten Resümees. Bei Oliver Fritsch (Zeit Online)überwiegt Ernüchterung: „Bis zum nahezu perfekten spanischen Triumph im Finale stand die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine unter dem Leitbild Vorsicht. Das Turnier enttäuschte sportlich. Es gab Mannschaften, die nicht pressten und Mannschaften, die nicht einmal konterten. Selbst in den Viertelfinals versuchten es Griechenland, Frankreich und England mit Mauerstrategien, immerhin vergeblich.“

Thorsten Mesch (sport1.de) erfreut sich an Jubel, Trubel, Heiterkeit und außersportlichen Erfolgen: Die Iren feierten auch noch und sagen voller Inbrunst, als Ihr Team gegen Spanien in der Schlussphase 0:4 zurücklag. Es war ein absoluter Gänsehautmoment des Turniers. Völlig zu Recht wurden Irlands Fans von der UEFA für ihr vorbildliches Verhalten ausgezeichnet.“

Was nützt der Titel in Gedanken?

Für die Mannen von Joachim Löw hat es wieder nicht zum großen Wurf gereicht. Lars Spannagel (Tagesspiegel) hat die Nase voll von Schönspielerei und “würde auch einen erstolperten vierten Stern auf dem Trikot mit Freuden annehmen”: „Wissen Sie vielleicht noch, wer vor zwei Jahren die vier Tore im Viertelfinale gegen Argentinien geschossen hat? Sind die Deutschen in der Welt jetzt beliebter, weil unser Spiel an guten Tagen so schön vertikal ist? Was nützt der Titel in Gedanken?“

Im selben Redaktionsbüro gibt es aber auch andere Meinungen. Ron Ullrich ist attraktives Spiel wichtiger als errungene Rumpel-Titel: „Während dieser EM standen in der Nacht irische Fans mit deutschen an einem Tisch in Polen und schoben Flaschen auf dem Tisch hin und her. Sie spielten die Szenen der WM 2010 nach, die Tore der Deutschen.  ‚Brilliant‘, sagten sie. Es sind diese Momente, die mehr wert sind als die Änderung des Briefkopfes.“

Mario Götze: ein kleiner Messi

Im Interview mit Welt Online blickt Taktik-Experte Frank Wormuth ohne Sorge in die Zukunft: „Wir hatten das jüngste Team im Turnier und auch wenn nicht alles funktioniert hat, so hat sich unsere Mannschaft in den vergangenen Jahren unglaublich gut entwickelt. Und es kommt ja auch noch einiges nach: Mario Götze haben wir ja noch gar nicht richtig gesehen. Der ist für mich ein kleiner Messi, an dem wir noch viel Freude haben werden.“

Der Abstand ist größer geworden

Peter Ahrens und Rafael Buschmann (Spiegel Online) beschäftigen sich derweil mit dem alten und neuen Europameister und kommen aus dem Schwärmen nicht mehr raus: „Vor diesem Turnier hatten viele die Dämmerung der spanischen Dominanz prophezeit. Gerade Deutschland schien reif zu sein, die Südeuropäer abzulösen. Nach dieser Europameisterschaft, in der Spanien in sechs Partien nur ein einziges Gegentor kassiert hat, muss man feststellen: Die Mannschaft von del Bosque ist dem Rest der Welt noch ein Stück weiter enteilt.“

Auch Florian Haupt (Welt Online) verneigt sich vor Iniesta, Xavi und Co.: „Dass die Italiener mit offensivem Fußball in ihrem neuen Stil gleich ins Finale kamen, dass auch für eine Mannschaft wie Deutschland eine offensive Grundausrichtung mittlerweile unverhandelbar ist, hat eine Menge mit dem spanischen Leitbild zu tun. Aber weil die Menschheit schnell vergisst und sich noch schneller langweilt, mussten sich die Spanier bei dieser EM sogar mit dem Vorwurf herumschlagen, sie seien öde. Zum idealen Zeitpunkt, im historischen Finale, wurden solche Mäkeleien pulverisiert.“

Ralf Streck (Telepolis) gießt Wasser in den Wein, der im Land des “Schuldenmeisters” fließt: “Dass Spanien nun die erste Mannschaft der Welt war, die am Sonntag mit dem Finalsieg bei der Europameisterschaft ihren dritten großen Titel in Folge gewonnen hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Geschäftsmodell des spanischen Fußballs pleite ist. Während im Land allseits gespart wird, Löhne gesenkt werden, ein Viertel der aktiven Bevölkerung und mehr als die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos ist, bekommt jeder Spieler der Nationalmannschaft für den Sieg jeweils eine Prämie von 300.000 Euro. Das sind noch einmal 86.000 Euro mehr als vor vier Jahren.”

freistoss des tages

Mitarbeit: Erik Meyer

Kommentare

2 Kommentare zu “Quantität statt Qualität”

  1. Frosch
    Donnerstag, 5. Juli 2012 um 13:43

    Das ist genau das, was Spanien braucht: Deutsche Besserwisser wie Ralf Streck, die ihnen, ohne jegliches profundes Wissen, mal wieder sagen, wie schlimm alles in Spanien ist, während wir Deutsche natürlich die Meister der Reinheit sind; wir Deutsche mit Vereinen wie Schalke, die 120 Millionen Schulden haben, mit Schiedsrichtern wie Hoyzer, die Spiele verpfeifen, mit Vereinen wie 1860, die von Gaddafis Waffenhändler gesponsort werden, und mit Unternehmen wie Siemens, die bestechen, wo bestochen werden muss.
    Hallelulja!

  2. HUKL
    Freitag, 6. Juli 2012 um 13:27

    Die EM im Nachtrag!

    Nach dem doch nicht ganz vollkommenen Abschneiden unserer Nationalmannschaft, trotz einer insgesamt wohl sportlich nur mäßigen EM, haben die verschiedenen Tageszeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehstationen mit ihren Kommentaren und Filmberichten nach der Euphorie im Vorfeld abschließend versucht, die Ursachen herauszufinden, warum das fest avisierte Ziel, Europameister, nicht erreicht wurde. Einige Kommentargeber schienen aber selbst nie auf dem Rasen gestanden zu haben. So sind die Deutschen eben!

    Wir sind eigentlich insgeheim doch tasächlich Europameister geworden, nämlich EM-Gewinner „in Gedanken“! Und wenn statt der 16 Mannschaften beim nächsten Mal 24 Länder am Start sein werden, sind wir bestimmt gesetzt und müssen erst im Viertelfinale eingreifen.……

    Natürlich wurden wir Fans im ganzen Land, wie schon sooft vorher bei großen Meisterschaften von den Experten der oben genannten Medien zum Mitfiebern angeregt, wie ein Dirigent sein Orchester anleitet. Es ist doch aber nicht das erste Mal gewesen, dass die vorher schon zum Sieger erklärte Mannschaft nach ihrem Scheitern plötzlich von den gleichen Redaktionen und Anstalten so richtig runtergeputzt und sogar der Trainer in Frage gestellt wird. Wie meistens auch bei anderen Themen ist besonders eine Zeitung immer wieder genannt, die mit ihrem großen Namen und Schlagzeilen so richtig auffallen muss, um möglichst so viel umsatzmäßigen Vorsprung gegenüber ihren Mitbewerbern zu erreichen, wie die deutsche Mannschaft Punkte bei der EM sammeln sollte..

    Was dieser Zeitung allerdings im Gegensatz zu unseren Fußballern gelungen ist, sind gebliebenen Umsatzzahlen, weil das vorherige Hochjubeln und Rieseninteresse sich plötzlich in ein überdurchschnittliches Mäkeln verwandelte. Sie meinte, bei ihren negativen Bewertungen gegen Spieler und Trainerstab dabei auch die gleiche Wellenlänge mit der Bevölkerung getroffen zu haben.

    In der Realität sind allgemein Spieler, Offizielle und Fans erneut an einem ganz bestimmten Gegner gescheitert, nämlich an sich selbst! Zu sehr herrschte im Vorfeld durch den überragenden Punktestand bei der Qualifikation Euphorie, das Gefühl einer Unbesiegbarkeit und somit eine große Selbstüberschätzung. Man hätte aus der WM im eigenen Land 2006 doch Lehren ziehen müssen, als ein „Projekt WM“ geboren wurde, was sich aber dann nicht erfüllte. Wieder nannte man es fälschlicherweise „Projekt EM 2012“. Doch ein Endsieg ist nicht planbar, meine Herren, wer immer auch zur Architektengruppe des DFB zählte. Jede gute Mannschaft mit einer gewissen Fußballtradition wollte doch auch möglichst gewinnen!

    Natürlich führten auch andere Dinge dazu, dass das lang ersehnte Ziel erneut nicht erreicht wurde, wie z.B.:

    - das Übertreiben mit der
    Bezeichnung „Todesgruppe“ in der Vorrunde,
    die sich bis auf Portugal (zumindest am
    jeweiligen Spieltag) eher als Gruppe der
    Trainingspartner entpuppte

    - das Festhalten an der Blockbildung sowie
    am formschwachen Schweinsteiger

    - die Nibelungentreue zu Spielern mit „guter
    Vergangenheit“

    - das teilweise völlige Abschotten der
    Mannschaft während der EM.
    Wen interessierte z.B. wirklich das
    Tischtennisspielen der beiden „Zwillinge“
    Reus und Schürrle, wo dagegen die Spanier
    allen Pressevertretern und auch damit
    ihren Fans die Unterkünfte und
    Trainingseinheiten zeigten und damit immer
    die Verbindung zur Heimat stärkten.

    - das letzte Aufbäumen der Spieler fehlte,
    weil es (außer dem Spiel in der Schweiz)
    nach einem Rückstand zu selten geübt
    werden konnte.

    Abschließend noch zu einem anderen Thema, das besonders für die Zukunft sehr interessant sein könnte:
    Mit einer spektakulären Personalmaßnahme hatte wieder einmal der Bayern München aufgehorcht, der mit allen Mitteln nach einer längeren Pause erneut Deutscher Meister werden will. Man holte, zumindest für Außenstehende völlig überraschend, den als Hitzkopf bekannten M. Sammer als neuen Sportdirektor (früher zu Zeiten von Hoeneß hieß es noch Manager). Dafür wurde der sich zumindest in der Öffentlichkeit auch nach Niederlagen immer sehr offen äußernde Christian Nerlinger trotz eines erst Ende letzten Jahres bis 2014 (!) verlängerten Vertrages einfach weggefegt. Sein letzter großer Auftritt war die Empörung während dieser EM gegen die Kritik des als Co-Moderator bei der ARD eingesetzten und wieder als zukünftigen Trainer der Münchener Regionalligamannschaft agierenden M. Scholl. Dieser hatte bekanntlich die fehlende Beweglichkeit von Gomez mit einem Wundliegen verglichen.

    Nun hat man in München scheinbar den richtigen Mann gefunden, der nicht nur besonders im Zusammenspiel mit der Chefetage für die Presse zukünftig sehr interessant sein könnte (van Gaal lässt grüßen), sondern auch als bisheriger oberster „Talentevater“ des DFB bestens weiß, in welchen Winkeln des Landes die besten Nachwuchsleute trainieren. Die wird er natürlich besonders im Auge behalten, um die Bayern nach seinem eigenen wohl nicht gerade preiswerten Wechsel zu seinem neuen Arbeitsplatz, der sich fast vor seiner privaten Haustüre befindet, im Gegensatz zur Vergangenheit, vor überzogenen teuren Tranfers von älteren Spielern zu schützen.

    Es ist eigentlich auch sehr nachdenklich, dass sich Präsident Hoeneß und seine Vorstandskollegen vom gerade zu fast vier Jahren Gefängnis verurteilten Ex-Spieler Breno, nach anfänglich in der Öffentlichkeit bekundeten Treueschwur, „wir geben Breno nicht auf“, scheinbar abkehrten……

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