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Internationaler Fußball

Ergebnis einer akkuraten Regie

Oliver Fritsch | Mittwoch, 23. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Ergebnis einer akkuraten Regie

2:2 zwischen Dänemark und Schweden, das „Ergebnis einer akkuraten Regie“ (Corriere della Sera) – „Deutschland vermisst die Giraffe Hrubesch“ (El Paìs) u.v.m.

Ergebnis einer akkuraten Regie

Die italienische Zeitung Corriere della Sera (23.6.) bekundet ihr Misstrauen gegenüber Dänemark und Schweden: „Abschied von der Europameisterschaft, wie vorhersehbar. Schweden und Dänemark arrangieren ein nettes 2:2 für alle diejenigen, die noch an den Weihnachtsmann glauben, ans Fair Play der Skandinavier, an ihre unverbrüchliche Loyalität, an ihren Sinn für Ethik, der entwickelter sein soll als der von uns Bösewichten und Gaunern. Sie brauchten das Resultat, um selber weiterzukommen und um uns zu eliminieren, weshalb hätten sie sich also gegenseitig wehtun sollen? Ihre Fans forderten es lautstark, sie hatten es sich auf die Gesichter, die Hemden und die Fahnen gemalt. Sie wollten ihre Freude darüber auskosten, dass Italien rausgekickt wurde mit seinem vom Geld dominierten, arroganten Fußball, der ihnen seit Jahrzehnten die besten Spieler abluchst. Die Menschen sind überall gleich – weder im Norden, noch im Süden gibt es Heilige. Hätten sich etwa zwei Mannschaften aus den Tälern der Lombardei in Stücke gerissen, um sich anschließend von einer Kalabreser Mannschaft über den Tisch ziehen zu lassen? Woher denn? Und so kommt in 25 Jahren bei 97 Spielen gegeneinander zum 4. Mal ein 2:2 heraus; was vielleicht ein Zufall sein wird, und vielleicht sind wir ja auch unheilbar misstrauisch (einige werden das behaupten, da können Sie sicher sein), weil wir das als Ergebnis einer akkuraten Regie betrachten, mit dem finalen Tor.“

Wie viel Mühe für nichts – überflüssiger Sieg, Italien ist draußen

La Repubblica (23.6.) aus Rom ist gemäßigter: „Trap verabschiedet sich erhobenen Hauptes: Das Abenteuer ist zu Ende, die Ära Trapattoni ist zu Ende, die Karriere sehr vieler Spieler der Nationalmannschaft ist zu Ende, die hier und jetzt Gelegenheit gehabt hätten, auf diesem Niveau etwas zu gewinnen. Dänemark gegen Schweden endet 2:2. Für viele wird es die Bestätigung des Verdachtes sein, dass das Spiel zwischen den Skandinaviern gemauschelt war. Auch das wird die Zeit weisen. Jedenfalls wies die Mannschaft Lücken auf, die auch der Sieg nicht verhehlen kann.“

Die Giraffe Hrubesch

El Paìs (22.6.) befasst sich mit der Torkrise Deutschlands: „Völler setzte gegen Lettland alle seine Stürmer ein, aber Kuranyi, die große Hoffnung, Brdaric, Klose und Bobic trafen nicht. Die deutsche Tradition lehrt, dass jede Generation eine Handvoll redlicher Stürmer hervorbringt, viele mäßige und ein paar wenige außergewöhnlich gute; ziemlich viele, die dem athletischen Modell treu sind, und einige, die sich in die Typologie der Geschickten einreihen. (…) Den intelligenten Spielern Uwe Seeler oder Gerd Müller, bejubelt wegen ihres Spiels, ihrer Langlebigkeit und ihrer Tore, folgten Typen wie Riedle, Allofs oder der derzeitige Trainer Rudi Völler. Und mit ihnen erschienen deutsche Klassiker wie die Giraffe Hrubesch, Dieter Müller, Bierhoff oder Klinsmann. Deutschland hat immer getroffen, aber die Zeiten ändern sich. Gegen Lettland musste Völler seine vier Stürmer einsetzen: zuerst Bobic und Kuranyi; später Klose und Brdaric. Keiner war in der Lage, gegen die mutigen Balten ein Tor zu erzielen. Die Tradition ist gebrochen. Die des Tores ebenso wie die der Gewohnheiten. In einem ebenso laienhaften Kostüm wie dem deutschen hat sich jemand mit einem religiösen Buch unter dem Arm eingeschlichen: Es ist Kuranyi, 22 Jahre alt, gebürtiger Brasilianer mit deutschem Vater und einer Mutter aus Panama. Der Stürmer ist mit einem einzigen Buch im Koffer nach Portugal gereist: einer Bibel in portugiesischer Sprache, der Sprache, in der er sich am wohlsten fühlt. „Ich lese jeden Tag in der Bibel. Und vor den Spielen, wenn ich auf den Platz gehe, bete ich ein Vaterunser“, erklärt der Angreifer von Stuttgart, der Stürmer, in den die Deutschen einen großen Teil ihrer Hoffnungen gesetzt haben. Er ist stark, mit beiden Füßen geschickt, gut im Kurzpass-Spiel und nicht auf den Kopf gefallen – letztlich der Inbegriff eines typischen germanischen Sturmtanks. Nach den Hrubeschs und Janckers bevorzugt Völler, mit der gleichen Körpergröße aber viel mehr technischen Mitteln anzugreifen. Also: mit Kuranyi, dem erfrischendstem Lächeln der Bundesliga. (…) Weder er noch seine drei Sturmpartner machten den ersten Schritt, es gegen Lettland zu schaffen, ein Star zu werden. Und Deutschland sehnte sich sogar nach Hrubesch.“

Lettland mindert deutsche Chancen

Alexis Delcambre (Le Monde 23.6.) weiß um die Ausgeglichenheit in Gruppe D: „Die Gruppe D hat sich die Bezeichnung der „Todesgruppe“ wahrlich verdient. Für Deutschland wurde diese Bedrohung am Samstag klar und deutlich. Nachdem sie von begeisternden Letten in Schach gehalten wurden, müssen sie nun gegen Tschechien unbedingt gewinnen.
(…) Machtlos sah die deutsche Mannschaft die letzten Minuten dahinschwinden, ohne beim Gegner die kleinste Lücke entdecken zu können. Mit zwei Punkten nach zwei Spielen, gibt es für Deutschland nur zwei Möglichkeiten: gewinnen oder rausfliegen. Dagegen kann Lettland weiterhin an sich glauben: wenn sie gegen Holland gewinnen, können sie ebenfalls noch das Viertelfinale erreichen. Und warum eigentlich nicht?“

Außer taktischen Dingen kann ich ihm nichts mehr beibringen

Matt Dickinson (Times 22.6.) beschäftigt sich mit dem Mann der Stunde und schildert uns die Lobeshymnen des Nationaltrainers: „Zu Beginn sagte Trainer Sven-Göran Eriksson, dass er nicht so viel über Wayne Rooney reden wolle, und am Ende lief es sogar darauf hinaus, dass er den jungen englischen Stürmer mit Pelé verglich. Selbst der schwedische Meister der Selbstbeherrschung kann sich nicht zurückhalten, wenn es Zeit wird, über die sich noch in Teenager-Jahren befindende Sensation der diesjährigen EM zu diskutieren. (…) Mit seinen insgesamt vier Toren aus zwei Spielen führt Rooney die Torschützenliste an, und die nächste Abwehr, die darauf wartet, demoliert zu werden, ist die der Portugiesen. (…) Heute Morgen waren im englischen Mannschaftshotel sicherlich die ein oder anderen müden Beine zu finden, aber auch ein junger Mann, von dem sich so einige noch eine Scheibe abschneiden können. (…) „Manchmal“, sagt Eriksson‚ denke ich mir, dass ich nicht so viel über ihn reden sollte, aber er verdient definitiv all diese Titel- und Rückseiten der Zeitungen. Er ist absolut fantastisch, nicht nur vor dem Tor, sondern seine Art, Fußball zu spielen. Er lässt sich ins Mittelfeld zurückfallen, holt sich den Ball, kann ihn am Fuß halten und alles damit anstellen. Es scheint fast, als sei er der perfekte Fußballer. Das Einzige, was ich ihm noch beibringen kann, sind taktische Dinge. Vor dem Tor soll er besser auf seinen Instinkt hören. Ich bin in diesem Fall wie jeder Engländer: Ich bin froh, dass wir ihn haben. Hoffentlich hält er dieses Niveau bis Anfang Juli.’ (…) Wenn die Engländer im Viertelfinale so spielen, wie gestern in der ersten Hälfte, sind sie fähig, die Portugiesen zu überwältigen.“

Rooney kam England zur Hilfe

John Cross (Daily Mirror 22.6.) sieht eigentlich nur einen Grund für das Erreichen des Viertelfinals: „Mit seinen zwei prächtigen Toren, die England ins Viertelfinale feuerten, setze Wayne Rooney das Märchen bei der EM fort. Senkrechtstarter Rooney machte sich mal wieder zum absoluten Nationalhelden, als er mit seinen Treffern die mitreißende Aufholjagd der Engländer im Estadio Da Luz komplettierte, nachdem die Kroaten die englische Mannschaft mit ihrem Führungstreffer in einen Schockzustand versetzt hatten. Aber Rooney kam England zur Hilfe, erzielte zwei überwältigende Tore und sorgte somit für ein Viertelfinale, dass uns jetzt schon das Wasser im Mund zusammen laufen lässt.“

„Griechen durch iberische Rettungsleine gesichert“, meldet Nicholas Harling (Independent 21.6): „Sehr erleichtert, aber ein wenig rot vor Scham, hat Griechenland das Viertelfinale trotz einer Niederlage gegen Russland erreicht.“

Glaube ergießt sich über das Land – und Bier

Andrew Clenell & Arifa Akbar berichten über ein England außer Rand und Band (The Independent 22.6.): „Millionen von Engländern jubelten letzte Nacht in Pubs und Straßenplätzen im ganzen Land und brachten so ihre Freude über den bisherigen Erfolg ihres Teams lauthals hervor. Stimmen aus dem Land: In Newcastle versammelten sich Tausende in Pubs um das Match zu verfolgen: Mark James, 24, aus Gateshead sagte: „Ich denke, wir können es jetzt gewinnen. Wir fürchten niemanden, und mit Rooney in Topform sind wir für jeden eine Herausforderung. Das könnte unser Jahr werden.“ Brian Wilson, 37, aus Sunderland sagte: „Wayne Rooney ist der Spieler des Turniers, er macht traumhafte Tore. Er ist so schnell und stark, aber er behält immer einen kühlen Kopf. “(…) Justin Harper, 28, Manager aus Bristol meinte, dass das Team wie Helden gespielt hätte. Weiter sagte er: “Was für eine Leistung! England war wie pures Dynamit. Rooney ist unbezweifelbar ein Klasse-Spieler, aber ich denke das ganze Team hat sich Anerkennung für sein Geschick und seine Entschlossenheit verdient.“ Tausende sprangen in Leeds am Millenium Square auf und ab, als die Tore fielen. Rose Blake aus Chriswick (West-London) und Clare Rowen aus Hammersmith, beide 17 Jahre alt, sagten: „Es war abgefahren. Ich wusste, dass England gewinnen würde. Wir hatten keine große Angst beim 1:0 der Kroaten, denn es waren ja noch 85 Minuten zu spielen.“ Geoff Noden, 27, ein Fan der Engländer saß während des Spieles neben seiner kroatischen Freundin Marina Pusic, 26, und scherzte: „Ich habe zu England gehalten, deswegen wird es sicher noch zu Reibereien zwischen uns beiden kommen.“

Sind Sie gekommen, um ihren Rücktritt anzubieten?

Dick Advocaat unter Beschuss, William Gray (Telegraph 21.6.) sieht die Kugeln fliegen: „Ein Vorgeschmack auf das, worauf sich Chelsea nächste Saison freuen darf, wurde hier von Arjen Robben gezeigt, unverständlicherweise von Advocaat herausgenommen. Das war nur einer von verschiedenen Fehltritten des Holländers, im Verlauf einer schwankenden und ereignisreichen Begegnung mit Tschechien, die ihre Hoffnungen auf das Weiterkommen sehr klein werden lassen. Die erste Frage in Advocaats Interview nach dem Spiel, in Holland live übertragen: „Sind Sie gekommen, um ihren Rücktritt anzubieten?“. Harsch vielleicht, aber seine Unentschlossenheit, ständig die Auswahl und Formation zu wechseln, ist der Kern der holländischen Probleme.“

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