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Deutsche Elf

Stimmungstest des Business-Modells

Oliver Fritsch | Mittwoch, 8. September 2004 Kommentare deaktiviert für Stimmungstest des Business-Modells

Deutschland gegen Brasilien: „Stimmungstest des Business-Modells“ (FAZ) – „Klinsmann ist kein Onkel Jürgen“ (BLZ) – neues Credo: „Eigenverantwortung fördern, Risikobereitschaft vorleben, Freiheiten lassen“ (FR) u.v.m.

Stimmungstest des Business-Modells

Was steht heute auf dem Spiel, Michael Horeni (FAZ 8.9.)? “Die Maßeinheit für den Reformer mit amerikanischem Gedankengut ist nicht zuletzt der schnelle Erfolg, um seinen neuen Kurs zu stützen. Die Tage in Berlin haben die hohe Veränderungsdynamik von Klinsmann und Co. nicht nur auf dem Trainingsplatz gezeigt, wo aus den Schlagworten „Tempo und Aggressivität“ eine zeitgemäße Spielkultur erwachsen soll. Die mit Klinsmann importierte Lebensfreude, mit der sich die zuletzt biederen deutschen Fußballarbeiter anstecken sollen, förderte das nationale Dreigespann mit ungewohnter Offenheit im Quartier. Ein Besuch im Museum oder im Kino, Abendessen fern der Mannschaft, ein bißchen shoppen – alles endlich möglich dank der neuen Freiheiten im Tagesablauf. (…) Bisher haben die deutschen Fans vornehmlich einen virtuellen Bundestrainer erlebt, und je nachdem, wo sie ihn in den Medien entdeckten, wurden ganz unterschiedliche Facetten Klinsmanns und seiner Mission freigelegt. Seine Deutschland-Premiere vor rund 74 000 Zuschauern ist sein erster realer Kontakt mit dem Fußballvolk, und er wünscht sich, „daß der Funke überspringt“. So wird das Spiel auch zu einem ersten Stimmungstest, ob das Business-Modell des schwäbisch-kalifornischen Fußballunternehmers, das Härten bewußt in Kauf nimmt, beim Publikum Anklang findet.“

Klinsmann ist kein Onkel Jürgen

Christof Kneer (BLZ 8.9.) befasst sich mit dem Unterschied zwischen Völler und Klinsmann: “Klinsmann ist nicht Völler, die Nation wird das lernen müssen. Sie hat ihre Tante Käthe ja trotz verzagter Taktik und demütiger Aufstellung bis zum Schluss lieb gehabt, und man muss bezweifeln, dass sein Nachfolger zum Familienmitglied taugt. Klinsmann ist kein Onkel Jürgen. Als Sportler ist er auch so eine Art Volksheld gewesen, aber dem Stammtisch und den dort ausliegenden Zeitungen war er stets suspekt. Ein Schrägdenker war er, und er hat nichts hergegeben von sich. Völler dagegen war ein Geradeausredner, und man hatte zumindest das Gefühl, dass man alles von ihm weiß.“

Heute ist Feiertag

Ludger Schulze (SZ 8.9.) freut sich auf das Spiel: „Manchem Trainer verrutschen angesichts eines solchen Gegners die Perspektiven ins eher Defensive, der Bundestrainer aber hält fest an seinem Credo Angriff – Pressing – Risiko. „Ich habe Respekt vor so einer großen Mannschaft, aber ich mach sie nicht noch größer.“ Vermutlich wird er das kompakte Spiel ein paar Meter nach hinten verlegen, grundsätzlich ändert sich aber nichts. Gegen die Südamerikaner werden, keine Frage, alle rennen wie Hasen auf der Flucht. Aber in den kommenden Monaten, in Teheran gegen Iran, gegen Kamerun in Leipzig, auf der Asien-Reise nach Japan, Südkorea und Thailand, beginnen die Mühen der Etappe, Achsenbildung, Stilfindung und Besetzungsfragen. Heute aber ist noch einmal Feiertag.“

Nationalspieler im Museum, freiwillig!

Was machen Klinsmanns Nationalspieler den lieben, langen Tag, Christoph Biermann (SZ 8.9.)? „Das neue Deutschland hat nicht nur mit mehr Auslauf und einem Leben im Hier und Jetzt zu tun. Oder mit Fitnesstrainern aus LA, mit dem Gedankenaustausch zwischen Klinsmann und Hockey-Bundestrainer Bernhard Peters, mit einem urbanen Hotel der Berliner Republik oder dem Besuch durch einige Olympioniken. Es ist das gesamte Paket. Oliver Bierhoff, Jens Lehmann, Frank Baumann und Miroslav Klose gehen in die Ausstellung des MOMA New York, die mit riesigem Erfolg in der Neuen Nationalgalerie gezeigt wird. Nationalspieler im Museum, freiwillig! [of: müsste für den Boulevard eigentlich ein Anlass sein, über deren sexuelle Ausrichtung zu spekulieren] (…) Löw ruft: „Mit Tempo, scharf gespielt.“ Die Übung, bei der über die Flügel flach vors Tor gespielt werden soll, ist wenig ermutigend. Erstaunlich unpräzise Anspiele, Tore fallen kaum, obwohl kein Abwehrspieler stört. Hat Thomas Brdaric überhaupt getroffen? „OK, habt Spaß!“, ruft der Bundestrainer, als das Kleinfeldturnier beginnt. Wie ein Befehl klingt das, dann klatscht er in die Hände, und es geht los. Drei Mannschaften treten an. Das Team, das gerade pausiert, verteilt sich ums Spielfeld und die Spieler können von denen auf dem Platz als Anspielpunkt genutzt werden. Es ist ein Kick mit lebenden Banden und macht das Tempo noch höher. Tempo – das neue Zauberwort der Nationalmannschaft. So schlecht sieht das nicht aus. Oliver Kahn feuert seine Jungs in den weißen Trikots an. Sie verlieren den Ball, er ruft ganz laut: „Rückwärts denken!““

Eigenverantwortung fördern, Risikobereitschaft vorleben, Freiheiten lassen

Jan Christian Müller (FR 8.9.) ergänzt: “Jürgen Klinsmann und Oliver Bierhoff haben als Mittelstürmer darunter gelitten, dass ein Tag im Kreis der Nationalmannschaft lediglich von einem immergleichen Training, drei Mahlzeiten, Kaffeetrinken, Karten- und Computer-Spielen verbraucht wurde. Und sie haben aus ihren schlechten Erfahrungen die richtigen Konsequenzen gezogen. Völlers Marschroute lautete: viel Geborgenheit geben, Familiensinn verbreiten, gut abschotten gegen die tückische Außenwelt. Klinsmanns Maxime ist anders: Eigenverantwortung fördern, Risikobereitschaft vorleben, Freiheiten lassen. Dieser modernere Ansatz bedeutet nicht automatisch, dass fantasievoll kombinierende deutsche Fußballer die Brasilianer in ihre Einzelteile zerlegen werden. Aber er vermittelt ein öffentliches Bild der DFB-Auswahl, das im Hinblick auf die Weltmeisterschaft die richtige Botschaft transportiert. Dort will sich Deutschland nach dem Willen der WM-Organisatoren als ein modernes, weltoffenes Land präsentieren.“

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