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Bundesliga

Die Bundesliga ist seit Jahren nicht erstklassig

Oliver Fritsch | Donnerstag, 10. August 2006 Kommentare deaktiviert für Die Bundesliga ist seit Jahren nicht erstklassig

Welchen Weg schlagen die Bundesliga und der deutsche Fußball nach der WM unter Jürgen Klinsmann ein? Weht frischer Wind, öffnen die Verantwortlichen Fenster und Türen? Oder ist alles nur missionarisches Gerede? Vor der WM war die Blütezeit des Stammtischs, der mächtig gegen Klinsmann und seine neuen „Fürze“ auf den Tisch haute; heute, nach dem WM-Rausch, sind andere gefragt: Sportmediziner, Hockeytrainer, Trainingswissenschaftler, Reformtrainer stehen bei den Redaktionen hoch im Kurs. Ein Blick in die Fußballpresse der letzten Tage und Wochen.

In der Berliner Zeitung teilt Hoffenheims Sportdirektor Bernhard Peters gegen die Branche aus: „Viele Vereine sagen, sie wollen sich für neue Ideen öffnen und gezielter trainieren – in Wahrheit passiert wenig. Die wollen nur ihre Ruhe haben, weil sie ständig gefragt werden. Denn das Thema ist ja gerade so aktuell.“ Hoffnung auf Besserung hegt er nicht: „Es wird weiterhin zahlreiche Trainer geben, die völlig antiquiert arbeiten. Der Fußball hat zweifellos immer noch einen erheblichen Nachholbedarf gegenüber anderen Sportarten. Das Training in der Bundesliga ist bei weitem noch nicht genügend individualisiert. Diese Einzeldiagnostik macht halt viel mehr Mühe und Arbeit, weshalb sie viele Trainer scheuen. Aber jeder Spieler hat seine eigenen Stärken und Schwächen, die gilt es zu fördern und zu beseitigen. Man sollte insgesamt auch positionsbezogener trainieren. Ein Training muß gesteuert werden, das kann man nicht einfach laufen lassen.“

Peters vertieft seine Mängelliste und springt seinem jetzigen Kollegen Ralf Rangnick zur Seite, indem er Rudi Assauer, den inzwischen gewesenen Schalke-Manager, angreift: „Ohne daß ich die Namen nennen will – aber es gibt schon mehrere Bundesligaklubs, die einen Sportpsychologen beschäftigen. Sie halten das nur geheim, vielleicht weil sie Angst vor der Medienreaktion haben. Oder weil sie befürchten, sie würden den Cheftrainer damit beschädigen, was natürlich Quatsch ist. Was Schalke angeht: Ich war mal zur Hospitanz dort und habe Trainer Mirko Slomka kennengelernt. Wir haben uns gut verstanden. Ein junger Trainer, der viele Dinge hinterfragt. So wie Ralf Rangnick. Unter Assauer wurden viele neue Methoden abgewehrt, Rangnick konnte sich oft nicht durchsetzen. Jetzt ist Assauer weg, und es scheint, daß sich der Klub öffnet.“ Angesprochen auf das Training bei Bayern München, sagt Peters vielsagend nichts: „Fragen Sie mal den Vereinsarzt Dr. Müller-Wohlfahrt zum Umdenkungsprozeß bei Felix Magath.“ Eine Zukunft beim DFB schließt Peters nicht aus: „Ich möchte mich einbringen, wenn es gefragt ist. Es gab einige Gespräche mit Oliver Bierhoff und Matthias Sammer – jetzt warte ich darauf, daß es konkreter wird.“

Regeneration wird überbewertet

Ralf Rangnick hat den 11 Freunden einen Einblick in seine schwere Arbeit in Schalke gewährt: „Als wir 2005 Vizemeister wurden, entschieden Andreas Müller (dem Verantwortlichen für die Lizenzspielerabteilung, if) und ich, einen Sportpsychologen zur Leistungsoptimierung hinzuzuziehen. Es gab auch zwei Kandidaten in der engeren Auswahl, doch einige Leute im Verein haben sich gegen die Verpflichtung gewehrt.“ Die Nachfrage, ob er Assauer meine, bejaht Rangnick: „Unter anderem. Er hatte mehrmals öffentlich geäußert, daß man früher auch keinen Mentaltrainer gebraucht habe. Und einem wie ihm fällt es nun mal schwer, seine Meinung öffentlich zu korrigieren.“ Deutlich macht er den früheren Manager für seinen Rückzug aus Schalke verantwortlich: „In Schalke wäre ich mit Sicherheit noch Trainer, wenn die Entwicklung um Assauer, so wie sie sich inzwischen vollzogen hat, einige Monate früher stattgefunden hätte. Ich kann versichern, daß es auf Schalke viele Momente gab, wo ich sehr geschluckt habe, mir aber wegen des anhaltenden Erfolgs auf die Zunge gebissen habe. Doch kleine Tropfen höhlen den Stein.“

In den Vordergrund rückt auch die Sportmedizin. Tim Meyer, Mannschaftsarzt des DFB und Trainingswissenschaftler an der Universität Saarbrücken, behauptet in der FR, daß der Regeneration von Trainern der Bundesliga zu viel Wert beigemessen werde: „Ein Gespenst geht um im deutschen Fußball – das Gespenst der Überlastung. Alle Mächte des traditionellen Systems haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, und die allseits propagierte Lösung lautet: Viel Regeneration.“ In der FAS sagt er in einem Gespräch mit Sebastian Priggemeier (einem ehemaligen if-Mitarbeiter): „Es läßt sich wohl sagen, daß im deutschen Fußball einige Trainingstraditionen überdauern, die einer wissenschaftlichen Prüfung schwer standhalten würden. Dazu zählt das betont langsame Auslaufen am Tag nach dem Spiel.“

Die Geschichte des Fußballs ist eine Geschichte von Klassenkämpfen gegen Traditionen

Meyer fordert vom deutschen Profifußball intensiveres und umfangreicheres Training und verweist auf andere Mannschaftssportarten wie Hockey und Handball, die mehr trainieren würden: „Eine bessere Fitness, insbesondere eine bessere Ausdauer, geht mit besserer Erholungsfähigkeit einher. Dieser Ansatz wurde im deutschen Fußball der vergangenen Jahre kaum verfolgt“ (FR). Gleichzeitig gesteht er eine Lücke in der Sportmedizin: Es sei nicht hinreichend geklärt, wie die Fähigkeit zur Regeneration am besten geschult werde, gerade angesichts der besonderen Bedingungen im Fußball wie den „englischen Wochen“, den vielen Reisen oder der psychischen Belastung durch die Aufmerksamkeit der Medien. Meyer erneuert seinen Wunsch, die Bundesliga möge die Forschung in ihrer Empirie unterstützen, den er bereits in der FAS und in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin geäußert hat. Dort heißt es: „Es besteht ein deutliches Forschungsdefizit, an dessen Behebung der deutsche Spitzenfußball mitwirken sollte. Dazu ist es allerdings erforderlich, eine wissenschaftliche Begleitung zuzulassen, die nicht zu jedem Zeitpunkt sämtliche gewohnten Abläufe unbeeinträchtigt lassen dürfte.“ In der FAS betont er, wie wichtig eine exakte Wissenschaft für das Fußballtraining sei:„Wissenschaft schießt leider keine Tore, aber ohne Wissenschaft gibt es weder im Fußball noch auf anderen Gebieten einen echten Fortschritt. Will man vorankommen, bleibt im Prinzip keine Alternative zu Studien an Profi-Fußballern, weil die Übertragbarkeit von Studienergebnissen, die in der Regel mit unterklassigen Vereinen ermittelt wurden, auf die Top-Ligen zweifelhaft ist.“

Meyer empfiehlt der Bundesliga das Modell Klinsmann: „Die Geschichte des Fußballs ist glücklicherweise auch eine Geschichte von Klassenkämpfen gegen überkommene Traditionen. Und das läßt Hoffnung auf Besserung. Das jüngste Trainergespann der Nationalmannschaft legte denn auch viel Wert auf die physische Fitness der Spieler, und regenerative Maßnahmen waren.“

Eine Schwerpunktausgabe der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin (Mai/2006) über Ausdauer-, Sprint- und Krafttraining im Fußball

Die Bundesliga ist seit Jahren nicht erstklassig

Der Tagesspiegel hat den Sportwissenschaftler Roland Loy zum Taktiktraining in Deutschland befragt; Loy sagt deutlich: „Die deutschen Vereine hängen prinzipiell taktisch hinterher. In Italien wird oft 120 Minuten lang Taktik trainiert. Und die Trainer sind besser ausgebildet.“ Und Heinz Werner vom Bund Deutscher Fußball-Lehrer ergänzt: „Die deutsche Mannschaft hatte im athletischen Bereich sehr gut gearbeitet. Aber über Spezialtrainer und die Individualisierung des Trainings reden wir schon seit zwanzig Jahren. Solche Erkenntnisse müssen allerdings auch umgesetzt werden.“

Der italienische Trainer Nevio Scala, der Ende der 90er Jahre als Nachfolger von Ottmar Hitzfeld in Dortmund scheiterte, blickt in Rund auf seine Zeit in Deutschland zurück: „Einer der größten Widerstände innerhalb der Mannschaft war, daß sie unsere Vorstellung der Konditionsarbeit nicht akzeptierte. Sie lamentierten immer, daß sie zu viel arbeiten würden. Die Spieler waren gewohnt, nur Ausdauerläufe zu absolvieren. Sie liefen unentwegt, ohne Schnelligkeit zu trainieren. Das ist nun bei Lahm oder Frings anders.“ Der Spiegel hat den Berater Michael Becker über die Qualität der Bundesliga befragt: „Das taktische Ziel ist zu oft, vor 66.000 Begeisterten irgendwann das 1:0 zu machen und dann unverletzt ins Entspannungsbecken zu kommen. Die Bundesliga ist seit Jahren nicht erstklassig. Ich wundere mich immer, daß sich alle so wundern, wenn deutsche Teams sich in der Champions League so früh verabschieden.“

Das erste Problem des deutschen Fußballs ist eine gewisse Halbseidenheit

Andreas Lesch (BLZ) fällt auf, daß nun doch kaum ein deutscher Nationalspieler das große Interesse des Auslands weckt: „Die angekündigte Massenabwanderung deutscher Nationalspieler in ausländische Eliteligen hat es nie gegeben. Der Wechsel von Michael Ballack zum FC Chelsea stand vor der WM fest, Jens Nowotnys Wechsel zu Dinamo Zagreb dürfte sportlich bestenfalls ein Schritt zur Seite sein. Die übrigen Nationalspieler bleiben daheim. Im Team haben sie sich bei der WM als Schwergewichte erwiesen, als Einzelspieler befindet der internationale Markt sie noch für zu leicht. Eine frische Turnierleistung reichte nicht, um den jahrelang gepflegten deutschen Rumpelfußballruf zu tilgen. Die Arbeit Jürgen Klinsmanns gilt längst als Maßstab, als feste Bezugsgröße – das Können seiner Spieler noch nicht. Sie müssen sich erst im Alltag bewähren.“

Der Spiegel hat in einer langen, sehr lesenswerten Recherche ein Problem in den Führungen des höheren Amateurfußballs verortet, denen er mangelnde Verantwortung und Kurzsicht vorhält: „Wenn man so eine Weile durchs Land fährt und hier und dort ein bißchen bohrt, hört man im Grunde immer das Gleiche: Das erste Problem des deutschen Fußballs ist eine gewisse Halbseidenheit. In Ober- und Regionalligen und auch noch in der zweiten Liga scheint es eher wenige Transfers zu geben, bei denen nicht Trainer oder Manager mitverdienen; junge deutsche Spieler können sich in dieser Welt selten auf Zusagen verlassen, und Ausländer werden hin- und hergeschoben ohne Sinn und Strategie. Durch diesen Dschungel kommen Talente eher zufällig nach oben, und das sind Leute wie der hochbegabte, beim FC St. Pauli aber in drei Regionalliga-Jahren lausig ausgebildete Innenverteidiger Ralph Gunesch, den Jürgen Klopp in die Bundesliga holte. In diesen unteren Ligen sind Leute zugange, denen es um schnelle, fette Beute geht und selten um eine Idee des Spiels. Und dann ist da das Problem, daß viele Clubs nicht besonders viel oder nicht das Optimale aus dem Geld machen, das sie zur Verfügung haben.“

Mut zur Tat

HSV-Trainer Thomas Doll stört sich im Player an Schwalben langsamer Stürmer: „Das Fair Play muß wieder an erster Stelle stehen. Die permanenten Versuche, jemanden hinters Licht zu führen, müssen wir bekämpfen. Da sind auch wir Trainer gefordert. Es gibt in der Liga viele Spieler, denen fehlt es einfach an Geschwindigkeit – dann versuchen sie, Fouls gegen sich zu provozieren. Im modernen Fußball verschwindet das zunehmend. Internationale Top-Schiedsrichter erkennen, wenn ein Stürmer in der 88. Minute bei 1:0-Führung mit dem Rücken zum Tor ein Foul provoziert. Ich könnte durchdrehen, wenn ich sehe, wie sich eine solche Szene anbahnt. Da könnte dann meine kleine Tochter, die ist sieben Jahre, hinlaufen und brauchte nur den Finger auszufahren – und zack liegt da ein Bulle von Stürmer auf dem Bauch. Die Schiedsrichter müssen lernen, zwischen dieser Schinderei und einem kernigen Zweikampf zu unterscheiden.“

Christoph Biermann filtert in seiner 11-Freunde-Kolumne die Quintessenz der WM: „Was kann die deutsche Mannschaft von der WM lernen? Eine polemische Antwort wäre: am besten nichts. Denn bei der WM hat sich der Fußball in eine Ecke manövriert, aus der er schnell wieder heraus muß. Oder in den Vereinsfußball am besten gar nicht hineinkommt. Überbevölkerung im Mittelfeld und Stellenstreichungen im Angriff dominierten das Bild.“ Allerdings lobt er den Mut zur Tat, den Klinsmann seinen Spielern vermittelt habe: „Die Bundesligisten sollten noch einmal einen genaueren Blick auf die Spielweise der deutschen Mannschaft werfen. Vielleicht fällt das schwer, weil deren Führung etwas zu penetrant den Eindruck vermittelt hat, Träger der letzten Wahrheiten des Fußballs zu sein. Zumal Klinsmann, Löw und Bierhoff eingestehen müssen, daß ihre Mannschaft gegen Argentinien und Italien zum großen Offensivschwung nicht mehr in der Lage war. Dennoch bleibt eine wesentliche Erkenntnis, die alle Einschränkungen übersteht: Das deutsche Team wollte das Spiel gestalten, es wollte angriffslustig sein und offensiv spielen. Wenn man sich im Kontrast die Spiele der Bundesliga in Erinnerung ruft, ist das schon eine ganze Menge.“

Richard Leipold (FAS) kürzt das Erbe Klinsmanns auf den kleinsten Nenner: „Wer Mut hat und reinen Herzens sein Glück versucht, darf scheitern, ohne sein Gesicht zu verlieren. Wie die Nationalelf. Wenn jemand scheitert, hört man im Alltag nun häufiger den Satz: Aber ich habe doch nach vorne gespielt. Falls Klinsmann und seine Ideologie wirklich etwas verändert haben in unserem Bewußtsein, dann das Verhältnis zum Scheitern. Ob es um die Bundesliga geht oder um uns alle: Habt Mut! Mut, etwas zu ändern. Das ist die Botschaft, die bleibt. Für den Fußball, für das Volk und vielleicht sogar für die Politik.“

Und Scala träumt von der Verschmelzung deutscher und italienischer Tugenden: „Wenn die italienischen Spieler die Begeisterung hätten, die die deutschen Spieler bei der WM an den Tag legten, wäre das sicher einzigartig. Wie sich Philipp Lahm bewegt, ist schon beneidenswert. Wenn dazu die taktische italienische Schulung käme, wäre er unübertrefflich.“

Welt: Bundesliga profitiert von der Begeisterung bei der WM – obwohl internationale Spitzenspieler nicht nach Deutschland wechseln, ist das Interesse der Zuschauer und der Wirtschaft an der neuen Saison größer als je zuvor

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