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Bundesliga

Unendliche Durchhaltetragödie

Oliver Fritsch | Montag, 4. Dezember 2006 Kommentare deaktiviert für Unendliche Durchhaltetragödie

Pressestimmen zum 15. Spieltag: Mitleid mit Thomas Doll paart sich mit dem Rat, das Arbeitsverhältnis zum HSV einzustellen / Harte Kritik an der Dortmunder Vereinsführung wegen der Ankündigung, sich von Bert van Marwijk zu trennen / Bewunderung für Torsten Frings / Energielose Cottbuser / Bayern ohne Stachel

Viele Journalisten leiden mit Thomas Doll, der mit seinem HSV erneut verloren hat, diesmal 1:2 in Bochum. Oskar Beck (Welt) beschreibt ihn als jemanden, der gerade der Zentrifuge entstiegen ist: „Die Vereinsbosse bestrafen ihn auf die humanste aller Arten: Thomas Doll wird zum Bleiben verdammt. Bei dem hinterläßt die Angst, daß es kein Entkommen gibt, mittlerweile tiefe Spuren. Wie ein Leichtmatrose bei schwerem Seegang hängt Doll über der Reling und ist kurz davor, sich den Magen über den Hals zu entleeren. Man kann ihn ungeschminkt kaum noch vor eine Kamera lassen – jedenfalls erinnert er immer öfter an Ernst Happel, dessen Tränensäcke zeitweise derart tief baumelten, daß er fast darauf ausgerutscht wäre und Max Merkel über ihn lästerte: ‚Beethoven in der Endphase.‘ Doll ähnelt einem Fallschirmspringer, dem keiner beim Ziehen der Reißleine hilft. Am Samstag hat er ausgesehen wie jener schottische Kollege, der nach einer Niederlage vor der Presse sagte: ‚Haben Sie noch Fragen, bevor ich gehe und mich aufhänge?‘ Der HSV-Trainer wird zum Protagonisten seiner eigenen, unendlichen Durchhaltetragödie.“

Richard Leipold (Tagesspiegel) stimmt ein: „Aus seinem jungenhaften Charme ist ein morbider Charme geworden“ und zeigt gleichzeitig auf den Sportchef: „Die Zukunft des HSV zu erörtern heißt für viele, über Doll zu sprechen und zu schreiben. Wie oft ist sein Elend seziert worden. Der Trainer ist das inzwischen gewohnt, andere offenbar nicht. Um das Ausmaß des Schreckens zu erkennen, hätte es genügt, sich Dietmar Beiersdorfer anzuschauen. Er gab das schlimmere Bild ab. Als wäre er aus dem Reich der Schatten aufgetaucht.“

Respektlos, würdelos

Mirko Weber (Stuttgarter Zeitung) ärgert sich indessen über Rolf Töpperwien, die Hyäne des ZDF: „Der HSV hat gut daran getan, statt Doll, der in Bedrängnis immer nur diesen flackrigen Blick bekommt, den wesentlich ruhiger, man kann auch sagen fatalistischer erscheinenden Beiersdorfer vor die Kamera von Töpperwien zu schicken. Töpperwien ist im rauschhaften Zustand buchstäblich mal durchs Feuer gegangen, seitdem wirkt er jetzt immer mehr wie der Siegfried des Fernsehsports: Es schmerzt ihn nichts, noch nicht einmal die dummdringlichste Frage, derweil das Verfahren dem Zuschauer durchaus wehtut. Töpperwiensche Fragen werden mit treuestem Augenaufschlag, aber nicht aus aufklärerischem Interesse gestellt. Sie fußen vielmehr auf der drei Meter gegen den Wind zu riechenden Absicht, Sensation zu produzieren. Im äußersten Fall ist das nicht nur respekt-, sondern auch würdelos: für den, der antworten muß, aber auch für den, der fragt.“

Kläglich zerfetzter Vorhang aus Phrasen

Philipp Selldorf (SZ) schickt voraus: „Die Ergebnisse des HSV sind weiterhin dergestalt, daß es immer noch schlimmer kommt als in der vorangegangenen Woche, als man dachte, jetzt könne es nicht mehr schlimmer kommen.“ Er ergründet die Ursache des Hamburger Sinkflugs in der Spielweise: „Das wesentliche Thema dieser Partie war der rohe Kampf, und darin erwiesen sich die VfL-Profis einfach als besser geübt. Nicht, daß die Hamburger nicht alles gegeben hätten, was in ihrer Kraft stand, aber während die Bochumer den Ball bei Bedarf rüde ins Aus grätschten oder ohne Rücksicht auf die ästhetische Note ziellos fortschlugen, versuchten es die Hamburger mit flachen Kombinationen durchs Mittelfeld und feinem Kurzpaßspiel im Angriff. Anerkennenswert war der Eifer der Angreifer Guerrero und Ljuboja, tragikomisch der Ertrag.“

Daniel Theweleit (BLZ) kann Doll nicht mehr zuhören und weiß nichts mehr mit ihm zu reden: „Doll verfügt mittlerweile über ein wahres Arsenal von Durchhaltefloskeln. Man müsse die Spieler an der Ehre packen, sagte er, dürfe die Flinte nicht ins Korn werfen, den Glauben nicht verlieren, müsse aus dieser Situation lernen. Es sei wichtig, daß die Jungs auch weiter an sich glauben, das Leben gehe weiter. Es ist ein kläglich zerfetzter Vorhang aus Phrasen, der es längst nicht mehr vermag, die totale Ratlosigkeit dieses Klubs zu verhüllen. Selbst die Journalisten wissen nicht mehr, was sie noch fragen sollen angesichts dieses fortwährenden Stillstandes.“

Miserabler Stil

Rainer Seele (FAZ) läßt seinen Blick von Hamburg irritiert nach Dortmund schweifen, wo man sich in der nächsten Saison vom Trainer trennen wird – spätestens, ergänzt Seele: „Bert van Marwijk dürfte derzeit noch ein wenig schlechter dran sein [als Doll]. Er muß mit einem eigenartigen Beschluß der Borussia zurechtkommen: vor Vertragsende gehen, aber erst einmal bleiben – ein riskantes Unterfangen. Unruhe dürfte auf alle Fälle garantiert sein. In Dortmund selbst, wo die Mannschaft nun zunehmend auf Distanz zu dem vorzeitig scheidenden Niederländer gehen könnte. Auch in Bielefeld, wo das Dortmunder Buhlen um Thomas von Heesen den Alltag künftig erheblich stören wird. Ein klarer, schneller Schnitt der Borussia wäre wohl vernünftiger gewesen. Kann ja noch kommen, mit leichter Verzögerung.“

Matti Lieske (BLZ) rügt die Dortmunder Führung ruppig: „Bert van Marwijk ist gewiß kein Protagonist modernen Tempofußballs, und sein konservatives System trägt dazu bei, die Zuschauer in Scharen aus dem Westfalenstadion zu vergraulen. Daß er in Kalifornien, Verzeihung, Holland wohnt und den Spielern sowie sich selbst gern frei gibt, kommt hinzu. Doch ihm erst den Vertrag großherrlich bis 2008 zu verlängern und dann schon vor Weihnachten zu verkünden, daß 2007 Schluß sei, ist purer Mumpitz. Miserablen Stil stellt das offene Werben um einen anderen Trainer dar, der noch bei einem Konkurrenten unter Vertrag steht. Die Prognosen beim BVB sind jedenfalls einfach zu erstellen: Van Marwijk wird die Rückrunde nicht erleben, Thomas von Heesen wird nicht nach Dortmund, sondern zum HSV gehen, Alexander Frei wird nicht Torschützenkönig der Bundesliga werden und der BVB wird einen Weg nicht einschlagen: den nach oben.“

Auch Felix Meininghaus (Tsp) schüttelt den Kopf: „Ausgerechnet Hans-Joachim Watzke, der harte Sanierer, der den fast bankrotten Verein resolut wieder aufgepäppelt hat. Doch bei der Personalie van Marwijk gibt die BVB-Führung mit Watzke an der Spitze ein dilettantisches Bild ab. (…) Viele Experten hatten dem Burgfrieden nie getraut. Nun erhielten sie die Bestätigung für ihre Skepsis. Hinter den Kulissen hatte ein klassischer Kuhhandel stattgefunden: Der Verein stärkt dem Trainer den Rücken, im Gegenzug erklärt sich van Marwijk bereit, vorzeitig zu gehen. Ohne große Abfindung offenbar.“ Ulrich Hartmann (SZ) hält mit seiner Kritik am Dortmunder Spiel, jüngstes Beispiel: das 1:0 gegen Wolfsburg, dagegen: „Dem Dortmunder Auftritt fehlte auch am Samstag ein klares Konzept. Gegen den VfL bot van Marwijk gleich drei reine Stürmer auf, ohne daß sich diese eine würdige Anzahl von Chancen zu erspielen wußten. Der Holländer verschreibt der Mannschaft immer wieder sein heimattypisches 4-3-3-System, ohne daß die Spieler dies bislang effektiv umsetzen konnten. Der unansehnliche und glückliche Erfolg gegen die arg ersatzgeschwächten Wolfsburger war erst der zweite Heimsieg der Saison.“

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