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Deutsche Elf

Unter Löw ist Selbstzufriedenheit in den deutschen Fußball zurückgekehrt

Oliver Fritsch | Samstag, 14. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für Unter Löw ist Selbstzufriedenheit in den deutschen Fußball zurückgekehrt

Der deutsche Bundestrainer steht nach dem 1:2 gegen Kroatien plötzlich und sehr unerwartet fast nackt da. Selbst in der seriösen Presse kommen Zweifel an ihm auf, und DFB-Präsident Theo Zwanziger fühlt sich zu einem Treuebekunden gedrängt – was immer auch ein schlechtes Zeichen ist. Die Kritik der Journalisten ist hart und trifft wunde Punkte

Philipp Selldorf (SZ) hält Löw falsche Personalpolitik und, wenn auch leise, Hochmut vor: „Joachim Löw und seine Crew, in der als Propagandist des Systems auch Oliver Bierhoff eine wichtige Rolle hat, hatten vermittelt, dass sie über dem Alltag und über den Dingen stehen und jenseits der realen Gegebenheiten eigene Regeln setzen. Man kann das am deutschen Aufgebot ablesen, in dem etliche Spieler stehen, die sich im Laufe ihrer Saison eher für eine Sommerfrische im Sanatorium als für das große Europa-Turnier qualifiziert haben. Sie zu berufen, beruhte weniger auf der Not des schmalen personellen Angebots als auf dem unbedingten Glauben, es besser zu machen als die Klubs mit ihren rüden Methoden und ignoranten Auffassungen. In der Führung des Nationalteams herrscht die ideologische Überzeugung, fußballerische Patienten heilen zu können, an denen die gewöhnlichen Koryphäen verzweifeln. Dieses wunschgeleitete Denken führt dazu, dass sportliche Kriterien, die überall auf der Welt anerkannt sind, von den DFB-Leuten für ungültig erklärt wurden. Ihnen wurde signalisiert: ‚Im Nationalteam gelten eigene Maßstäbe.’ So ist es jedoch nicht, weshalb diese Mannschaft und ihr Trainer Löw mit seinem philanthropischen Konzept an jenem Punkt angelangt sind, der das einfachste Prinzip des Fußballs markiert: Theorie trifft Praxis, Verlieren bedeutet Scheitern.“

Jan Christian Müller (FR) hofft nicht, dass das Spiel gegen Österreich das letzte für Löw sein wird, kann es aber nicht ausschließen: „Ein Aus in der schwächsten EM-Vorrundengruppe würde eine Fortführung seiner so angenehm unaufgeregten und professionellen Arbeit nur sehr, sehr schwer möglich machen. Er hätte ja seine eigene Messlatte um Längen unterquert. Das würde er sich vermutlich selbst am wenigsten verzeihen. Löw steht am Scheideweg. Es wäre gut für ihn und für den deutschen Fußball, wenn er die richtige Richtung nähme.“

Selbstzufriedenheit ist zurückgekehrt

Michael Horeni (FAZ) nennt das, was Löw zu Klinsmann fehle und schildert die Folgen: „Das 1:2 gegen Kroatien wurde für Löw zu seiner bittersten Lehrstunde als Bundestrainer. Taktisch fand seine Mannschaft nie ein geeignetes Mittel gegen das variable Mittelfeld- und Angriffsspiel der Kroaten. Taktik können eben auch andere – und so wurde auf erschreckende Weise der Mangel an den anderen Klinsmann-Komponenten deutlich: Emotion, Leidenschaft und – auch das – Disziplin. Die mit Rot bestrafte Unbeherrschtheit Schweinsteigers und dessen anschließendes Vogel-Zeigen gegen die Kroaten war mehr als nur ein Fingerzeig auf eine Leerstelle im System Löw. Wie eine Mannschaft innerhalb von vier Tagen nach einem starken Auftritt gegen Polen einen solchen Absturz erleben kann, ist eben nicht nur einer taktischen Fehlleistung allein geschuldet. Dafür war das Versagen des deutschen Teams zu komplett. Es ist dem Trainer und dem Team nicht gelungen, in dem Moment, als sich das taktische Werkzeug als unbrauchbar herausstellte, alle Kräfte zu mobilisieren. Die Selbstzufriedenheit im deutschen Fußball, der Klinsmann einst konsequent den Kampf angesagt hatte, kehrte schon in den vergangenen Monaten zurück, anfangs nahezu unmerklich. Gegen Kroatien war der Mangel an Leidenschaft und unerschütterlichem Siegeswillen nicht mehr zu übersehen. (…) Auch wenn Löw seine Finger in die Steckdose steckt, wird aus ihm kein Klinsmann. Der Bundestrainer muss jetzt seinen eigenen Weg finden. Das wird die schwierigste Aufgabe seiner Amtszeit.“

Stefan Osterhaus (Neue Zürcher Zeitung) fragt despektierlich: „Ist die Mannschaft eine Ansammlung von Mechanikern, die immer dann an ihre Grenzen stößt, sobald der Gegner etwas tut, was nicht im Dossier von Joachim Löw enthalten ist?“

Auf unsicheren Boden gebaut

Christof Kneer (SZ) notiert rügend ins Klassenheft, dass Löw nicht alle Hausaufgaben gemacht habe: „Immerhin kam Christoph Metzelder nach zwei Standardsituationen halbwegs aussichtsreich zum Abschluss. Dennoch ist längst nicht mehr zu übersehen, dass im Handwerkskasten dieser Elf ein paar banale Werkzeuge fehlen: der scharfgeschliffene Seitenfreistoß, der kunstvolle Eckball oder die überraschende Freistoßvariante. Nichts davon hat die Elf aus dem Häßler-Littbarski-und-Brehme-Land im Repertoire, und das Spiel gegen Kroatien hat alle jene Kritiker bestätigt, die das bei allen unbestreitbaren Verdiensten des Trainerstabs inzwischen fast für unterlassene Hilfeleistung halten – zumal die DFB-Elf über kopfballstarke Spieler wie Ballack, Gomez, Klose, Mertesacker und Metzelder verfügt. Mit Klinsmann hat Löw den deutschen Fußball vom Kopf auf die Füße gestellt, das ist ebenso lobenswert wie wahr, und er hat dieser Elf erst mal so viel Grundsätzliches über Fußball beibringen müssen, dass für Standards am Ende oft kein Platz mehr geblieben ist. Immer war im Training anderes wichtiger, aber manchmal hat man auch den Eindruck gewinnen können, dass die Standardsituation für Löws Akademikerstab auch etwas streng riecht – geht es nach Siegenthaler und Co., dann soll die Mannschaft am liebsten nur gewaltlose Tore herauskombinieren, während die Standards eher als Tore des kleinen Mannes gelten. Nun aber, da die Spiele und die Gegner größer werden, könnten die Deutschen auch kleine Tore ziemlich gut gebrauchen.“

Selldorf rät Löw zudem, seine Abwehrformationen zu überdenken, inklusive Torwart: „Ein Torwartwechsel, sogar über diese nach den historischen Erfahrungen beispiellose Variante ließe sich diskutieren. Lehmann hatte das 0:1 nicht verhindern können, und vor dem 0:2 hätten auch viele andere Torhüter arge Probleme gehabt gegen den umherirrenden Schuss von Rakitic. Das Problem ist, dass Lehmann Angst und Schrecken verbreitet – allerdings bei den Mitspielern. Dabei geht es aber nicht um vorüberziehende Momente, sondern um 90 Minuten Gegenwart. Jens Lehmann strahlt einfach nicht die Sicherheit und die Zuverlässigkeit aus, die diese fragile Deckung benötigt. Doch einen Wechsel will Löw nicht wagen, vielleicht scheut er auch den Wirbel, den er damit verursachen würde. Er setzt auf Lehmanns Rang und Erfahrung und dessen einstudierte Rolle im Abwehrverbund. Wie Lehmann war auch Metzelder nicht der Schuldige der Niederlage, aber wie Lehmann war er ein Grund für den ständigen kritischen Zustand der Defensive. Einmal gelang ihm ein aufsehenerregendes Tackling gegen den schnellen Olic, da war etwas zu erkennen von seiner Pünktlichkeit in heiklen Momenten und seiner Präzision, aber vorausgegangen war ein verlorenes Laufduell. Auf Metzelder das Abwehrkonzept zu gründen heißt, unverändert auf unsicherem Boden zu bauen. Ihm fehlen Tempo, Antritt und die physische Durchsetzungskraft gegen Gegner, die sich so leidenschaftlich engagieren wie die Kroaten. In dieser schwierigen Lage glückt auch das bewährte, bei der WM 2006 sogar fast perfekte Zusammenspiel mit Per Mertesacker nicht.“

Persönliches Desaster?

Auch mit dem rotgesperrten Ersatzspieler Bastian Schweinsteiger befasst sich Horeni: „Im Moment der größten Unsicherheit ist Schweinsteiger der große Verlierer in der Mannschaft. Der Platzverweis von Klagenfurt symbolisiert den Tiefpunkt einer Karriere – vom Pop-Prinzen des Sommermärchens zum Sünder ohne Rückhalt. Diese Europameisterschaft könnte für Schweinsteiger in einem persönlichen Desaster enden. Er ist nahe dran. Seit Wochen spricht er nicht mehr in der Öffentlichkeit, hat sich zurückgezogen. Eine Rückkehr in dieses Turnier? Vielleicht mit einem entscheidenden Tor? Das wäre die perfekte Heldengeschichte eines Comeback-Stars. Aber dafür müsste die deutsche Elf erst einmal die Österreich-Hürde überwinden.“

Andreas Lesch (Berliner Zeitung) ergänzt: „Selten ist ein Nationalspieler in der jüngeren Vergangenheit von seinen Kollegen und von der Teamleitung so scharf kritisiert worden wie Schweinsteiger nach seinem Platzverweis.“

Meister der Leidenschaft

Michael Ashelm (FAZ) weist uns und (vor allem) den deutschen Bundestrainer auf die Lebendigkeit Slaven Bilic’ hin: „Er ist ein Meister der Inszenierung – und ein Meister des Taktierens. Mit dem cleveren 2:1-Sieg haben sich die Kroaten nicht nur bis zum Beweis des Gegenteils in den erlauchten Kreis der Titelkandidaten gespielt, sondern gleichzeitig vorgeführt, welche Bedeutung Leidenschaft noch haben kann im modernen, vom Erfüllungsgedanken geprägten Fußball. Bilic – ein Fußballverführer, ein Typ für die großen Momente. (…) Bei den großen Siegern des Abends sorgte das 2:1 nicht nur für Freude über eine schöne sportliche Erfahrung. Wenn Kroatien Fußball spielt, dann zählt auch der Patriotismus – ähnlich dem deutschen Fußballgefühl bei der WM vor zwei Jahren im eigenen Lande unter Klinsmann. Bilic hat die alten Leidenschaften Fußball-Kroatiens geweckt. Auf seine unnachahmliche Art lebt er seinen Spielern dies vor. Während Löw eine defensive Körpersprache zeigte, war Bilic kaum zu halten auf der Bank.“

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