indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Das Jahrhundertspiel der Rasselbande

Tobias Reitz | Montag, 28. Juni 2010 15 Kommentare

Nach dem glanzvollen Achtelfinalerfolg gegen England wird die deutsche Elf mit Lob überschüttet; die junge Truppe habe ein Spiel für die Geschichtsbücher abgeliefert, jubelt die Presse

„Sorry, England“, titelt die SZ. „Es ist ein Spiel mit Geschichte geworden, nicht nur für die Geschichte. Und diese Geschichte wird man sich in Deutschland so und in England anders erzählen, es wird ein ewiges ‚was wäre wenn’ bleiben, für alle Zeiten.“ Dennoch kommentiert Ludger Schulze: „In gewisser Weise war die Vorführung der schlappen Steifböcke von der Insel der Anti-Klassiker schlechthin, das Spiel setzte gleich zwei Legenden ein Ende.“ Legende  eins: Nach dem 5:1-Sieg in München 2001 „glaubten die Engländer ernsthaft, man könne besseren Fußball spielen als zwischen Flensburg und Berchtesgaden.“ Legende zwei: Wembley – diese himmelschreiende Ungerechtigkeit: „Damit ist nun Schluss, den Engländern ist diesmal Ähnliches in verschärfter Form widerfahren.“ Der große Unterschied zwischen 1966 und 2010: „Wembley 1966 – das war die Geburtsstunde eines Mythos. 2010 – das war einfach eine peinliche, für die Deutschen aber möglicherweise spielentscheidende Fehlentscheidung“, schreibt die SZ an anderer Stelle.

Diese Rasselbande hat sich beliebt gemacht

Zum Wesen eines Fußballklassikers gehöre es, dass man auch Jahre, ach was: Jahrzehnte nach dem Spiel von ihm spricht. Michael Rosentritt (Tagesspiegel) ist sich sicher: „Das Achtelfinale der Weltmeisterschaft 2010 zwischen Deutschland und England bringt alles mit, um als Fußballklassiker in die Geschichte einzugehen.“

Ein „Jahrhundertspiel“ hat Jan Christian Müller (FR) gesehen. Die deutsche Mannschaft habe sich einen großen Kredit erspielt: „Egal, was nun noch kommt in Südafrika, ob der Sieg gegen Argentinien gelingt oder nicht: Diese noch unverbrauchte Rasselbande, die in ihrer Ausstrahlung so wenig machomäßig rüberkommt wie eine Turnriege auf Sommerfreizeit, hat sich überaus beliebt gemacht. Außer in England.“

Zeit für tiefgründige Fragen

Dort nimmt sich selbst die englische Boulevardpresse mit Anfeindungen gegen Jorge Larrionda zurück, den Schiedsrichter aus Uruguay, der das klare Tor von Frank Lampard nicht sehen wollte. Stattdessen steht das eigene Team in der Kritik: „Heute Morgen muss die Nation keine abgekauten Fingernägel verarzten“, kommentiert der Guardian. „Anders als in den Jahren 1990 1996 und 2006, als England jeweils im Elfmeterschießen aus dem Turnier ausschied, fragen wir uns, wie diese plutokratischen Playboys für Englands schlimmste Niederlage sorgen konnten. (…) Das nicht gegebene Tor mag Futter für Verschwörungstheorien und ein weiteres Argument für die Einführung des Videobeweises sein, doch die schmerzhafte Wahrheit ist: Jedes Team muss Fehlentscheidungen verkraften. Die 4:1-Niederlage gegen Deutschland folgte auf eine schwache Gruppenphase. Es ist Zeit, tiefgründigere Fragen zu stellen.“

„Wie Müller, Khedira, aber auch die erfahrenen Schweinsteiger und Klose die ‚Three Lions’ in dieser aus deutscher Sicht hochklassigen Partie durcheinanderschüttelten, war mehr als erstaunlich“, gibt sich Roland Zorn (FAZ) entzückt. Den Vorteil der Engländer, bei einem solchen „Endspiel“ knapp im Vorteil zu liegen, konnte er nicht erkennen: „Tatsächlich legte die Elf von Bundestrainer Löw ihre erste große internationale Reifeprüfung ab – und bestand sie summa cum laude.“

Die Mischung stimmt

„Thomas Müller ist der coolste von allen.“ Steffen Dobbert (Zeit Online) hat im deutschen Doppeltorschützen die „Blaupause für die gesamte Auswahlmannschaft des Jahres 2010“ ausgemacht: Äußerst talentiert, erfreulich unbekümmert und überraschend jung lauteten die prägenden Eigenschaften des Teams. „Eine Mannschaft ist dann intakt, wenn die Mischung stimmt: zwischen laut und leise, zwischen frech und seriös und zwischen alt und jung. Das Interessante am Nationalteam ist, dass die wichtigsten Spieler – Philipp Lahm (26), Bastian Schweinsteiger (25), Mesut Özil (21) – zwar Erfahrung haben, aber die wertvollsten Jahre ihrer Karriere noch vor sich haben.“

José Sámano (El País) sieht in dem nicht gegebenen Tor von Frank Lampard eine späte ausgleichende Gerechtigkeit für Wembley 66: „Fußball ist eine Metapher für das Leben. Falls diesbezüglich noch Zweifel bestanden, räumte Deutschland diese endgültig aus, das nach 44 Jahren Rache nahm. Den Deutschen fehlte es nie an Hartnäckigkeit. Der Fußball gab ihnen zurück, was er ihnen an jenem 30. Juni 1966 wegnahm. Es war ein Wink des Schicksals, eine kinoreife Revanche, wie in einem dieser Filme mit Happy End. Poetische Gerechtigkeit, werden die Deutschen sagen, ausgleichende Ungerechtigkeit, mögen jetzt die Engländer meinen, nach vier Dekaden, in denen sie sich ihres einzigen Titels rühmten. Eine falsche Krone, erlangt durch ein Tor von Hurst, das nur ein sowjetischer Linienrichter sah.“ Doch Sámano lobt auch die Leistung der deutschen Mannschaft: „Die Vielfalt hat Deutschland beflügelt, das sich nicht mehr nur über einen bulligen Mittelstürmer und einige andere Spieler mit kantiger Statur definiert. Es ist keine gekünstelte Mannschaft. An der Spitze steht Özil, ein gewissermaßen ausdrucksloser Türke, hager, aber mit seidenen Schuhen, Weitwinkelobjektiv und der Präzision eines Chirurgen. Gegen die Engländer war er nicht der Beste, aber er symbolisiert das neue deutsche Auftreten.“

Lesen Sie dazu auch Oliver Fritschs Live-Blog zum Spiel sowie seine Einzelkritk der deutschen Spieler auf Zeit Online.

Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Schwöbel.

freistoss des tages

Kommentare

15 Kommentare zu “Das Jahrhundertspiel der Rasselbande”

  1. Heinz Gründel lebt
    Montag, 28. Juni 2010 um 12:34

    Interessant: Selbst die englischen Boulevardblätter geben – schreiben Sie – dem verweigerten Tor zum 2:2 nicht mehr Gewicht, als ihm in einer ansonsten klaren Niederlage zusteht. Und als Gegenstück haben wir hier einen Kommentar aus der SZ, angeblich eines der feinsinningsten deutschen Blätter, der sich vor Chauvinismus und Schadenfreude biegt: „schlappe Steifböcke von der Insel“. „glaubten die Engländer ernsthaft, sie könnten besser Fußball spielen als zwischen Berchtesgarden und Flensburg“. Merke: es gibt nicht nur gute Verlierer, sondern auch schlechte Gewinner.

  2. Peter
    Montag, 28. Juni 2010 um 13:39

    So, jetzt erstmal für Klosipolsijogi-Kritiker:

    ihr habt ja sowas von abgeloooooooooooooooooooost!

    Ihr seid so LAUSIG!

    MUahahahahahah!

    Ist das geil!

    Poldi: geil!
    Klose: geil!
    Löw: Geil!

    die ersten beiden, weil sie die wichtigen Buden schießen und der dritte, der Jogi, weil er die richtigen Entscheidungen trifft und die Mannschaft richtig gut zusammengestellt hat!

    Egal, wie weit es jetzt noch geht: Alle Kritiker haben sich fett widerlegt gesehen.

    Ich muss mich aber auch entschuldigen:
    Ich habe Arne Friedrich für einen soliden Außenverteidiger gehalten, weil ich mich weigere die Hertha anzusehen!

    Aber er ist ein richtig guter Innenverteidiger! Klasse!

    So, und jetzt dürft ihr mal Kotau machen.

    Unfreiwillige Selbstparodisten, ihr!

    Und weil es so schön ist:

    POLDI
    KLOSI
    JOGI

    SCHLAND!

  3. Manfred
    Montag, 28. Juni 2010 um 14:24

    Glöcklich und erleichtert, hmh, Peter?
    Alsdann:
    Löw bleibt ein miserabler Game-Coach.
    Podolski hat im 4. Spiel seine erste nicht durchweg schlechte Leistung geboten.
    Klose ist immer noch ein Schatten seiner selbst.
    Schattiger waren nur noch die hundsmiserablen Engländer, die es schafften, satte 54 Sekunden von 90+ Minuten gut zu sein.
    Wie gegen Australien: ist der Gegner schlecht, ist es keine große Kunst, gut rüberzukommen.
    Die Lobeshymnen sind etwa so daneben und absurd wie Beitrag 2 hier.

  4. erbgor
    Montag, 28. Juni 2010 um 14:43

    @Manfred – Klose ein Schatten seiner selbst?! Das ist ja unfassbar. Selbst wer nicht in der Lage ist, sein sehr gutes Spiel ohne Ball zu erkennen, kommt doch an den nackten Fakten nicht vorbei – ein Klassetor, ein genialer Pass auf Müller, der dann die Vorlage zum 2:0 gab. Schonmal überlegt woran es entscheidend gelegen haben könnte dass die drei Spieler hinter dem Stürmer viel mehr Platz hatten als gegen Ghana?

    Aua!

    Die Analyse von Zonal Marking ist wie meist sehr empfehlenswert:
    http://www.zonalmarking.net/2010/06/27/germany-4-1-england-tactics/

  5. Manfred
    Montag, 28. Juni 2010 um 15:34

    Das lag am riesigen Loch in Englands Mittelfeld mit nur einem defensiven Mann.

  6. Peter
    Montag, 28. Juni 2010 um 16:08

    Lieber Manfred,
    ich nehme ihre Aussagen ernst:

    1.)Nur ein def. Mittelfeldspieler?

    Dann hat das Jogi Löw toll gesehen und offensichtlich genau die richtigen Spieler mit genau den richtigen Stärken spielen lassen, damit die Mannschaft England so weghauen konnte.

    Was für ein Taktikfuchs, der Jogi,nich???

    2.) Klose nur ein Schatten seiner selbst?
    Hat Klose die Lichtgestalt des deutsches Fussballs gegeben?

    Sie Meckerfritze haben doch Klose totgeschrieben, oder? Na dann wundern sie sich, wenn er als Schattenwesen dasselbe Unwesen treibt wie als Lebendiger

    Muahahha…

    gibss zu man, du hasss einfach kaine Ahnung und kain Peil!!!!

    *trööööööööööööööööööööt*

  7. Heinz Gründel lebt
    Montag, 28. Juni 2010 um 16:19

    Diese Webseite hob sich wohltuend von anderen durch die Qualität der User-Kommentare ab.
    Dann kam Manfred …

  8. Carl
    Montag, 28. Juni 2010 um 16:49

    und peter…

  9. Peter
    Montag, 28. Juni 2010 um 17:01

    Seine dumme Sturheit ärgert mich nur dermassen, dass ich nur so reagieren kann.
    Erst sagt er, die können alle gar nix, und wenn sie was können, dann nur weil die anderen nix können. Aber dann können sie trotzdem was?

    Ja, was denn jetzt?

  10. Manfred
    Montag, 28. Juni 2010 um 17:23

    Ja, Herr Gründel. Vielleicht auch mal begründeln? Danke.
    Peter, Schatzi, paß mal auf:
    Gamecoach heißt: er coacht während des Spiels Mist, zB mit den Ein- und Auswechslungen, zudem gibt es keinen Plan B, wenn es mal nicht so läuft, das, so finde ich, hat man in den Spielen gegen Serbien und Ghana teils deutlich gesehen. Cacao etwa war ein Totalausfall in der Rolle, die er da gegen Ghana geben sollte, aber es passierte – nix.
    Und was Klose angeht: der war mal besser. Viel besser. Oder ist das gerade der Zenit? Eben.
    Und außer Milner war da nur noch Barry als defensiver Mittelfeldspieler und der mag ja vieles sein, aber sicher nicht ein gelernter defensiver Mittelfeldspieler. Also war da genau einer. Bitte, da nich für.
    Ansonsten möchte ich doch sehr darum bitten, hier nicht zu persönlich zu werden, sonst gibt’s verbal zurück auf die Glocke.

  11. Moritz
    Montag, 28. Juni 2010 um 17:55

    Naja, man weiß halt noch nicht so wirklich, was Sache ist.

    Gegen Australien haben sie begeistert, es funktionierte einfach so ziemlich alles, der Gegner war aber auch keine Messlatte, über die Leistungsfähigkeit der Abwehr konnte man nichts erfahren.

    Gegen Serbien kam dann allerdings das Kontrastprogramm. Weder über Klose, noch über Poldi oder Löw (oder über sonst einen Beteiligten)lässt sich bei dem Spiel etwas wesentlich netteres sagen, als das sie sich bemüht hätten.

    Das Ghana-Spiel war in Ordnung, den Rausch des Australien-Spiels konnte es bis auf den wunderbaren Özil-Moment nicht erzeugen, die Abwehr hatte wiederum keinen guten Tag.

    Das England-Spiel hat begeistert. England hat aber nur in einer äußerst kurzen Phase gezeigt, zu was es eigentlich in der Lage sein kann, und das hätte beinahe das 2:2 bedeutet. Die deutsche Abwehr war nicht sattelfest. Podolski hat die Chance, die er zwingend nutzen musste, gut genutzt, Klose hat sogar völlig überzeugt. Man muss Löws Nominierungsverhalten vor der WM nicht verstehen, er hat die angeblich entscheidenden Kriterien ja auch gerne mal gewechselt. Im Moment kann er sich aber wieder auf den Standpunkt stellen, alles richtig gemacht zu haben.

    Aber erst Samstag kommt der Prüfstein. Ein Spiel gegen eine starke Mannschaft mit bisher starkem Tunierverlauf. Wenn die deutsche Mannschaft eine Führung gegen einen Ansturm dieser Truppe – dem ersten Gegner mit ansprechender, funktionierender Offensivabteilung – verteidigen kann, dann stünde ihre Größe m.E. völlig außer Frage.

    Bis hierhin lautet aber mein Fazit: Sekt oder Selters. Das ist schwer unterhaltsam – gerade als Werder-Fan weiß ich das zu würdigen – allerdings gewinnt man am Ende so selten mehr als Sympathie.

    Ich freue mich auf Samstag!

  12. Peter
    Montag, 28. Juni 2010 um 18:15

    Aber nen besseren als Klose hat die NM nicht.
    Da kannste auf dem Rumhacken wie du willst. Denn was ein Cacau in der Position bringt haben wir gesehen. Nüscht. Gomez ist irgendwie neben sich.

    Gespannt wäre ich höchstens noch auf Kießling. Aber der Bundestrainer wird schon wissen, was er tut.

    Und das mit dem einen def. MF-Spieler habe ich gar nicht in Zweifel gezogen.

    Und von meinen Glocken bitte die Finger lassen!

  13. Goalie
    Dienstag, 29. Juni 2010 um 09:10

    Thema Klose. Er hat nicht nur ein Tor geschossen, Mueller vor dem 2:0 freigespielt, sondern meiner Erinnerung nach auch den langen Ball auf Oezil vor dem 4:1 gespielt.

    Nicht in Form? Schlechtes Spiel?

  14. Sebastian
    Dienstag, 29. Juni 2010 um 14:21

    Klose hat großartig gespielt. Wahnsinns Spiel ohne Ball, immer wieder Räume frei gerissen, taktisch sehr clever. Und auch mit Ball diesmal alles richtig gemacht. Der Pass mit dem Außenrist auf Müller war Weltklasse, sein Durchsetzungsvermögen beim Tor sowieso. Das hätte ich ihm nach so einer Saison niemals zugetraut! Löw ist mit seiner Nominierung ins Risiko gegangen und belohnt worden. Das ist gut so für uns alle. Habe wegen Sammstag wenig Bedenken. Das einzig miese Spiel dieser Mannschaft war gegen Ghana (Serbien war hingegen gut, außer das Ergebnis!) und das war nur so, weil ein drohendes Ausscheiden in der Vorrunde selbst für diese junge Mannschaft eine absolute Blamage gewesen wäre. Das kann jetzt nicht mehr passieren. Dementsprechend werden sie kombinieren. Jippie! Freu mich auch drauf, wird ein Kracher.

  15. Manfred
    Freitag, 2. Juli 2010 um 09:56

    Der wahre Klose hätte noch zwei Buden mehr gemacht. Okay, mindestens eine. Der hätte den Ball über den Keeper gechippt und nicht flach geschossen (30. Minute).
    Zu Podolski: Fremdkörper. Das Problem meiner Argumentation sehe ich aber durchaus: er macht seine Buden.

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